Jk-11 - PREVIEW

nr-Jahreskonferenz 2011

Referenten
Stefan Bröckling
Mod.: Christine Throl
Programm
Tag Freitag - 2011-07-01
Raum K7
Beginn 16:15
Dauer 01:00
Info
ID 29
Track Lessons: Rechercheberufe
Sprache der Veranstaltung deutsch
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Rechercheberufe VI

Der Tierschutz-Ermittler

Fragen an Stefan Bröckling

Wie recherchiert man die Fälle/Wer sind die Informanten?

  • Die meisten gemeldeten Fälle werden sicher durch Nachbarn an uns heran getragen. Oft wohnen sie seit Jahren neben einer Tierhaltung und haben schon den einen oder anderen Streit mit dem Tierhalter ausgetragen. Wichtig ist dabei, dass man zwischen tatsächlichem Missstand und einer reinen Nachbarschaftsstreitigkeit unterscheidet. Das hat in der Vergangenheit aber immer sehr gut funktioniert. Es kommt auch vor, dass die Informanten aus dem Kreise der Familie des "Täters" kommen. Ansonsten sind es häufig Personen, die berufsbedingt in einer Tierhaltung zu tun hatten (Elektriker, Maurer, LKW-Fahrer...) und beunruhigende Beobachtungen gemacht haben. Auch ehemalige Mitarbeiter von Unternehmen wenden sich an uns. Eher die Ausnahme war der "Wiesenhof-Skandal". Der Auslöser der Recherche waren die Hinweise des Ehepaars, dass die Farm zu diesem Zeitpunkt noch bewirtschaftete. Da sie als Neu- und Quereinsteiger von den Bedingungen, unter denen sie die Tiere halten mussten, schockiert waren, meldeten sie sich nach einer ARD-Reportage bei PETA. Sie wurden von uns mit versteckten Kameras ausgestattet. Außerdem ermöglichten sie uns die Installation diverser festinstallierter Kameras. Gerade nach TV-Ausstrahlungen steigt die Anzahl der Hinweise immens. Dafür haben wir extra die Seite http://www.peta.de/whistleblower eingerichtet. Die meisten Hinweise bekommen wir daher per Mail. Die Post und das Telefon werden aber auch genutzt.

 
Wir reagieren auch auf aktuelle Anlässe. Ein Beispiel dafür ist die Berufung der Bundestags-Hinterbänklerin Astrid Grotelüschen zur niedersächsischen Landwirtschaftsministerin. Aufgrund ihres beruflichen wie auch familiären Hintergrundes hat sich der Blick hinter die Kulissen des Unternehmens ihres Mannes geradezu angeboten. Aktuelle Anlässe können aber auch neu veröffentlichte Studien oder z. B. ein "Tag der Milch", "Tag der Wurst", Weihnachten (Weihnachtsbraten), Ostern (Herkunft der Eier) o. ä. sein.

  • Recherchen aufgrund der "zwingenden Notwendigkeit": Manche Gegebenheiten erfordern geradezu eine Recherche, auch ohne aktuellen Anlass oder einen Hinweis von Dritten. So waren seit Jahren bekannte Defizite in der Zoohandels-Branche im Jahr 2007 allein deshalb Ziel einer umfangreichen Recherche, weil kaum aktuelles Videomaterial verfügbar war und sich nur wenige der bekannten Tierschutzorganisationen bis dato ausgiebig mit der Thematik befasst hatten.

  • Die meisten Informationen erhalten wir heute durch ausgiebige Webrecherchen. Zuerst erfolgt die gängige Suchmaschinen-Recherche. Zur Informationsbeschaffung werden aber auch Webarchive, Firmen-Datenbanken und Luftbildangebote herangezogen. Gerade im Bereich der Massentierhaltungen sind Google Earth, Bing Maps und die Geodaten-Portale der Landesvermessungsämter eine wichtige Hilfe. Google Earth bietet dabei sicher immer die schnellsten Ergebnisse. Dort, wo die Dortmunder Firma "Aero West" fotografiert und diese Daten an Google verkauft hat, ist sowohl die Aktualität als auch die Auflösung vorbildlich. Im für uns wichtigen ländlichen Bereich kann ein Luftfoto bei GE aber auch schon mal 10 Jahre alt und schlecht aufgelöst sein. Oder eine Wolke verdeckt die Sicht auf die darunter liegenden Gebäude. Daher wird auch immer bei Bing Maps geschaut, wo Luftbilder durchaus aus den gleichen Basisdaten wie bei GE stammen können, aber eben auch aus hochaufgelösten Vogelperspektiven, die im Idealfall aus vier Himmelsrichtungen fotografiert wurden. Die aktuellsten Luftbilder erhält man eher bei den Landesvermessungsämtern. Praktisch jedes Vermessungsamt hat heute sein eigenes Online-Geoportal.

 Wie in jedem anderen Bereich ist auch bei uns die Online-Recherche, egal ob mit Suchmaschinen, Luftbild- oder Firmenportalen kein Buch mit sieben Siegeln. Die gewünschten Ergebnisse bekommt man vergleichsweise leicht, wenn man weiß, wonach man sucht. Und wenn man durch entsprechende Kenntnis der Materie in der Lage ist, die Wichtigkeit einer Information dementsprechend zu bewerten.

  • Als z. B. die Ehefrau des Betreibers der zweitgrößten deutschen Putenbrüterei, Astrid Grotelüschen, niedersächsische Landwirtschaftsministerin wurde, begannen wir umgehend damit, uns über die bis dato wenig auffällige Politikerin zu informieren. Nach kurzer Internet-Recherche war schnell klar, dass Grotelüschen offenbar keine eigenen Mastställe betreibt. Da eine Brüterei schon aus hygienischen Gründen ein nach außen abgeschlossenes System ist, kam nur eine Recherche in den Mastbetrieben in Frage, die von Grotelüschens Mann mit Küken beliefert wurden und an deren Erzeugergemeinschaften er finanziell beteiligt war. Die notwendigen Adressen der betreffenden Farmen konnten wir Firmen-Datenbanken entnehmen.

Wie plant man Nachtrecherche-Aktionen? Wie werden Sie durchgeführt?

  • Zu Beginn einer Nachtrecherche verschaffen wir uns erst einmal einen Eindruck der entsprechenden Betriebe. Im Fall Grotelüschen war es so, dass wir die Höfe eines jeden einzelnen Mitglieds der Putenerzeugergemeinschaft Meck-Pomm aufsuchten. Machten Ställe schon von von außen kein gutes Bild, gingen wir davon aus, dass es innen nicht viel besser war. Fehlten z. B. Kadavertonnen, so wussten wir, dass die toten Tiere ggf. in den Vorräumen zwischengelagert werden, was nicht zulässig ist. Bei Freiluftställen, die in der Putenmast üblich sind, kann man schon anhand der nach außen dringenden Tiergeräusche das ungefähre Alter einschätzen. Wie bei allen Masttieren ist auch bei Puten das Mastende für die Bilddokumentation am ergiebigsten. Schilder wie "Betreten des Geländes verboten" oder "Zutritt verboten. Wertvoller Tierbestand" werden oft von Futtermühlen als "Werbegeschenk" an die Farmer vergeben. Wenn diese Schilder das Logo der Futtermühle tragen, kann die Farm bestimmten Firmen zugeordnet werden kann. "Mega" ist beispielsweise die zur PHW-Gruppe (Wiesenhof) gehörende Futtermühle.

  • In ländlichen Gebieten fallen am Feldweg abgestellte Fahrzeuge schnell auf. Da, wo jeder jeden kennt, kann man nicht einfach nachts ein Fahrzeug mit fremden Kennzeichen parken und stundenlang unbeobachtet stehen lassen. Daher werden wir in der Nähe der Farmen abgesetzt und später wieder abgeholt. Das ermöglicht uns auch, im Falle einer Flucht in praktisch jede Himmelsrichtung laufen zu können, wenn es sein muss auch über mehrere Kilometer, da wir ja nicht zu einem in der Nähe der Farm abgeparkten Auto zurück kehren müssen. Über Mobilfunk und GPS-Geräte finden sich Fahrer und Einsatzgruppe problemlos wieder.

  • Entgegen anders lautender Gerüchte, die hin und wieder leider auch von Medienvertretern ohne weitere Nachfrage veröffentlicht werden, betreten wir tatsächlich nur offen stehende Ställe. Wir brechen nicht ein. Es gibt lediglich eine Form des Einbruchs, auf die wir nicht verzichten können. Und das ist der Einbruch der Dunkelheit. Denn im Dunkeln können wir die Stallanlagen ungesehen betreten. Wir hinterlassen im Idealfall keine Spuren. Nur so ist es möglich, eine Recherche gefahrlos über einen langen Zeitraum durchzuführen. Und bevor es wieder hell wird sind wir bereits verschwunden. Die meisten Menschen sind verwundert, wenn sie erfahren, dass die Farmen nachts unverschlossen sind. Und tatsächlich war es vor 15 Jahren sicher einfacher, offene Ställe auszumachen. Aber auch heute ist ein begehbarer Stall keine Seltenheit.
 Während innerhalb der Ställe gefilmt und fotografiert wird, passen Wachposten draußen auf. Kommuniziert wird mit Funkgeräten oder Handys. Für die bessere Sicht im Dunkeln sorgen neben Nachtsichtgeräten auch passive Nachtgläser, wie sie z. B. bei der Jagd Verwendung finden. So konnten wir bisher immer rechtzeitig flüchten, wenn doch mal jemand zur Farm kam (z. B. ein Futterlieferant).

  • Selbstverständlich gehen wir innerhalb der Ställe vorsichtig vor. Die Tiere wissen, zu welcher Tageszeit normalerweise Menschen im Stall sind. Türen aufreißen und losknipsen geht da gar nicht. Wir betreten die Ställe vorsichtig, machen anfangs möglichst wenig oder gar kein Licht, lassen den Tieren Zeit, sich an uns zu gewöhnen. Erst wenn wir den Eindruck haben, dass sie ruhig bleiben, fangen wir langsam an. Blitz- oder Videolicht stört die Tiere meist wenig, wenn wir sie sanft darauf einstimmen. Beim Fotografieren gehen wir selten unter ISO 400, mit dem Videolicht sollte man gerade bei Vögeln keine schnellen Schwenks machen. Wer sich an ein paar logisch nachvollziehbare Regeln hält, versetzt die Tiere auch nicht in unnötigen Stress. Der Erfolg ist, dass die Rinder, Schweine, Hühner oder Puten sogar die Nähe der Kamera suchen, um diese zu inspizieren. Für sie ist es womöglich eine spannende Abwechslung zum trostlosen, reizarmen Alltag in der Massentierhaltung.

Welches Equipment benutzen Sie?

  • Im Fotobereich nutzen wir herkömmliche Spiegelreflexkameras, wobei ich persönlich ganz gerne auch mal entfesselt blitze, wenn die Zeit es zulässt. Meist reicht ein 18 - 105 mm Objektiv. Der Objektivwechsel inmitten von Futter- und Gefiederstaub ist eigentlich nicht so mein Ding. Daher habe ich manchmal ein Tele an einem zweiten Kameragehäuse. Hin und wieder mache ich auch Langzeitbelichtungen, manchmal auch nur mit Hilfe einer Taschenlampe als Lichtquelle.

  • Im Videobereich habe ich lange mit semiprofessionellen DV-Kameras gearbeitet. Zubehör: ein Sachtler-Stativ, Kopflicht, Funk- und Richtmikro, Windfell. Da es heute aber unerlässlich ist, neben der Videodokumentation auch Beweisaufnahmen, die den Wahrheitsgehalt der Bilddokumente belegen, anzufertigen, greife ich mittlerweile auf Amateurkameras aus dem oberen Preissegment zurück, da nur diese eine Nightshot-Funktion (Infrarotmodus) mit sich bringen. Im Profi- und Semiprofi-Bereich sind solche Geräte nicht verfügbar.

  • Die Sony XR520 ist klein, lichtstark und macht ein stimmiges, rauscharmes Bild. Ich kann während der Aufnahme zwischen normalem und Infrarotlicht wechseln, und so sowohl innen wie außen filmen. Wir halten auch GPS-Geräte und aktuelle Zeitungen vor das Objektiv, um Ort und Zeit der Aufnahmen belegen zu können. Während des Aufenthaltes im Stall läuft die Kamera durch. Die Record-Taste wird nicht benutzt, damit anschließend eine einzige, recht lange Videosequenz vorhanden ist, die im Falle einer juristischen Auseinandersetzung als Beweismittel dient. Im Schnitt ist das eher von Nachteil, da ein Großteil des Materials nur durch das Durchlaufen der Kamera, und nicht durch bewusstes Filmen entsteht. Daher experimentieren wir derzeit auch mit Minikameras, die am Körper getragen werden und Aufnahmezeiten von mehreren Stunden ermöglichen. Von Nachtteil ist bei der XR520 das teilweise sehr unübersichtliche Menü, die geringe Anzahl der Tasten, das fummelige Fokusrad und die fehlende manuelle Tonaussteuerung. Sobald die Canon XA10 lieferbar ist, werden die Sony-Geräte ausgetauscht. Die neue Canon-Kamera soll noch lichtstärker sein, verfügt über mehr manuelle Einstellmöglichkeiten sowie die für Interviews wichtige manuelle Tonaussteuerung und erstmals auch über einen Infrarotmodus. Neben dem oben bereits erwähnten Zubehör gehören auch verschiedene Infrarot-Scheinwerfer und -Laser zum Videoequipment.

  • Im Bereich der versteckten Dokumentation verfügen wir über Kameras in Handys, Kugelschreibern, Uhren, Brillen, Knöpfen, Schrauben, etc... Diese können ggf. auch mit Langzeitrekordern verbunden werden, die netzgebunden über Wochen, und netzunabhängig zumindest über mehrere Tage laufen.

 Auch verschiedene Messgeräte kommen zum Einsatz. Ein NH3-Messgerät ermöglicht Ammoniakmessungen innerhalb der Ställe. Die zulässigen 20 ppm werden nicht selten überschritten. Ein H2S-Messgerät dient eher dem eigenen Schutz vor gefährlichem Schwefelwasserstoff, z.B. in Schweinemastbetrieben. Defekte oder schlecht gewartete Technik kann innerhalb der Ställe enormen Lärm verursachen (z. B. eine Futterschnecke). Diesen messen wir dann mit einem Schallpegelmessgerät.

Wie vermarkten sie die Bilder? Wie stellen sie Öffentlichkeit her?

  • Die Öffentlichkeit stellen wir ziemlich unspektakulär über Pressemitteilungen her. Durch die nicht unerhebliche Anzahl an veröffentlichten Tierschutz-Skandalen hat man bei den Medien für unsere Inhalte meist ein offenes Ohr. Ich denke, dass wir auch deshalb recht glaubwürdig sind, weil wir nichts anderes zeigen als das, was der Bürger ohnehin mit Massentierhaltungen verbindet. Wenn auch nicht in dieser Menge und in der nicht seltenen Brutalität. Erscheinen uns bestimmte Recherchen besonders wichtig, veröffentlichen wir diese in Form einer Pressekonferenz. Wie z. B. im Fall "Grotelüschen" oder beim Wiesenhof-Skandal.

Der Fall Wiesenhof

  • Wiesenhof gibt es seit den 50er Jahren. Damals steckte das Unternehmen noch in den Kinderschuhen. Heute ist es die Geflügelmarke Nr. 1 in Deutschland. Wenn ich bedenke, wie fahrlässig man dort nicht nur mit den Tieren, sondern auch mit den eigenen Mitarbeitern umgeht, wundert es mich, dass erst im Jahr 2009 zwei Farmer den Entschluss gefasst hatten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Unzufriedene Ehemalige gibt es sicher bedeutend mehr. Aber in dieser Branche wird einfach nicht viel geredet. Und jeder weiß, wie einflussreich die Drahtzieher sind. Denen spuckt man nicht in die Suppe. Man geht, wenn man gehen muss. Aber man schweigt.

  • Kerstin Wessels und Steffen Pohl waren da anders. Sie waren neu in der Branche. Und - wie viele andere auch - Quereinsteiger. Er war Schlosser und LKW-Fahrer, sie Friseurin. Gelernte Tierwirte - bei Wiesenhof kein Kriterium für eine langfristige Beschäftigung. Er war auf der Suche nach einem Job in der Nähe seiner Frau, weil sie längere Zeit krank war. Das Stellenangebot von Wiesenhof, als Betreiber einer Elterntierfarm, schien ideal. Fortan konnten sie jeden Tag direkt vor der Haustür arbeiten. In Eigenregie. Als Selbständige. Na ja, ganz so selbständig war das dann doch nicht. Denn das Arbeitsmaterial wurde von Wiesenhof gestellt. Die Farm, die Futtermittel, die Tiere, das Wohnhaus. Alles gehörte der Firma. Freie Entscheidungen durften sie auch nicht treffen. Ein Tierarztwechsel, weil man dem Vetragsveterinär vielleicht doch nicht so ganz traute? Undenkbar. Andere Futtermittel? Vertraglich ausgeschlossen. Zwar erlaubte dieser Vertrag die Zusammenarbeit mit weiteren Abnehmern. Im Berufsalltag war das aber gar nicht möglich. Die beiden hatten Arbeit genug, ihr Pensum gegenüber Wiesenhof zu erfüllen. Wie hätten sie eine zusätzliche Firma beliefern sollen? Zumal die Tiere - und somit die Eier - nicht ihr Eigentum waren. Platz für eigene Hühner gab es nicht. Und es wäre auch nicht erwünscht gewesen, soviel war sicher. Auf dem Papier war WIMEX der Abnehmer der Bruteier. Doch geliefert wurden die Eier ausschließlich an die Brüterei Weser-Ems. Jeden Tag. Ohne Ausnahme. Wessels und Pohl waren scheinselbständig. Das zumindest erklärte ihnen ein Bankberater und verweigerte einen Kredit für ein neues gebrauchtes Auto.

  • Anfangs, in der Einarbeitungsphase auf anderen Farmbetrieben, da dachten sie noch, dass im eigenen Stall alles besser wird. Dass dort keine Tiere in die Transportkisten geschmettert werden. Dass sie es sind, die die Regeln aufstellen. Dass keine gesunden Vögel getötet werden. Dass es den Hühnern - trotz Massentierhaltung - gut gehen kann, wenn das Farmmanagement stimmt. Aber es kam anders. Gleich am ersten Tag im eigenen Farmbetrieb, kurz nach Anlieferung der neuen Herde, begann schon das Gemetzel. Weit mehr Tiere, als in die Ställe passten, wurden geliefert. Überzählige wurden aussortiert und vom Wiesenhof-Impftrupp ohne Narkose durch Genickbruch getötet. Die Kadavertonne konnte gar nicht alle Hühnerleichen fassen. Die toten Tiere stapelten sich in den Vorräumen. Wessels konnte es nicht fassen. Da wurden junge, gesunde Tiere einfach so getötet. Dass das nicht legal war, wusste sie sofort. Daher unterschrieb sie auch nicht den Wochenbericht, der 581 ohne Fremdeinwirkung verstorbene Hühner für die ersten sieben Tage belegen sollte. Laut diesem Bericht starben an einem Mittwoch 65 Hähne und 15 Hennen. In den nächsten fünf Tagen, von Donnerstag bis Montag, jeweils 68 Hähne und 15 Hennen und am Dienstag 70 Hähne und 16 Hennen.

  • Völlig traumatisiert begannen sie ihren Arbeitsalltag. Die Farm war marode, die Technik störanfällig. Immer wieder riss eine Futterkette. Elektrische Leitungen waren teilweise abenteuerlich verlegt. Lüfter fielen aus. Im Sommer stieg die Temperatur im Stall auf über 30 Grad, was den Hühnern schwer zu schaffen machte. Die Rote Vogelmilbe entdeckten sie schon nach wenigen Tagen. Dass die Farm befallen war hatte man ihnen nicht mitgeteilt. Abhilfe schaffte Wiesenhof erst nach Monaten. Nach mehrmaligen Nachfragen. Der Schmutzwasserbehälter in der Größe eines Güllesilos war bis zum Anschlag mit einer stinkenden Brühe gefüllt, die aus Reinigungswasser vom letzten Ausstallungsvorgang und toten Hühnern bestand. Bei jedem stärkeren Regen lief das Becken über. Wiesenhof fand erst nach Monaten einen Bauern, der das Becken abpumpte und die Stinkbrühe auf einem Feld entsorgte. Ob das Zeug umweltverträglich war wussten Wessels und Pohl nicht.

  • Regelmäßig kam ein Laborant vorbei, der den Tieren Blutproben entnahm. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass der Laborant eigentlich Dachdecker war und dass er diesen Job nur auf 400 € Basis verrichtete. Es gab im großen und ganzen sehr viele Quereinsteiger im Unternehmen, die nicht über den regulären beruflichen Background verfügten. Geflügelhaltung bei Wiesenhof scheint eine recht einfache Kiste zu sein.

  • Nach einigen Monaten wurde ein Teil der Hähne ausgetauscht. Der Wiesenhof-Impftrupp kam und begutachtete die männlichen Vögel. Erkannten sie, dass diese ihre "Arbeit" nicht mehr verrichteten, wurden sie in die Transportkisten verladen. Oder gestopft. Oder geworfen. Oder mit aller Kraft hinein geschmettert. Die neuen Hähne waren teilweise nicht an das in der Farm befindliche Fütterungssystem gewöhnt, da die Aufzuchtbetriebe über teils neuere Technik verfügten. Der Produktionsleiter bereitete Wessels und Pohl darauf vor, dass einige Hähne wohl verhungern werden, wenn sie die neue Fütterungsmethode nicht annehmen. Sie verhungerten nicht. Aber nur deshalb, weil Kerstin Wessels diese Tiere von Hand fütterte. Jeden Tag. Bis sie es begriffen hatten. Von anderen Farmen wäre sie dafür belächelt worden.

  • Überhaupt versuchten die beiden, es so gut wie möglich zu machen. Und tatsächlich habe ich niemals eine trockenere, bessere Einstreu als in der Farm in Twistringen gesehen. Na ja, Einstreu ist vielleicht das Wort, dass man bei Wiesenhof benutzt. Tatsächlich ist es Monate alter Hühnerkot. Aber der war eben so trocken wie in kaum einer zweiten Farm, was der Tiergesundheit entgegen kommen sollte. Tat es aber trotzdem nicht, denn die Hühner wurden krank. Sie litten an Ecoli-Bakterien, obwohl sie dagegen geimpft waren. Sie hatten Mykoplasmose, eine Atemwegserkrankung, die der Tierarzt nicht in den Griff bekam. Wessels musste den Hühnern immer wieder ganze Medikamentencocktails verabreichen, teilweise sogar solche, die bei Ecoli und Mykoplasmose ausdrücklich nicht vergeben werden durften. So zumindest stand es auf der Verpackung. Der Produktionsleiter beschwichtigte die beiden Farmer. Der Tierarzt wisse, was er tue.

  • Wusste er aber nicht. Das große Sterben setzte ein. Irgendwann stand der Wiesenhof-Cheftierarzt auf der Matte, wollte untersuchen, was den Hühnern so zu schaffen machte. An dem Tag hatten Wessels und Pohl mehr als zehn frisch verstorbene Hühner eingesammelt. Der Tierarzt hingegen betrat den Stall, zog sechs lebende Hühner aus der Masse, brach ihnen das Genick, schnitt sie auf und kam zu der Erkenntnis, dass diese sechs Tiere nicht erkrankt waren. Dann zog er ab. Das Sterben ging weiter.

  • Die kranke Herde produzierte zum Ende der eigentlich zehnmonatigen Legephase zu wenige Bruteier. Die Tiere waren nicht mehr rentabel. Der Ausstallungstermin wurde einige Wochen vorverlegt. Wessels und Pohl hatten bereits im April oder Mai erklärt, dass sie ihren Vertrag nicht verlängern möchten. Es war einfach nicht ihre Welt. Nicht ihr Verständnis vom Umgang mit Tieren. Wiesenhof war nicht das Unternehmen, für dass es sich in der Öffentlichkeit ausgab. An dem Nachmittag, an dem sie ihre Sachen packten, waren die LKW schon unterwegs zu ihrer Farm, um die Hennen in die Niederlande und die Hähne nach Frankreich zu transportieren. Gerade für das Fleisch "alter" männlicher Elterntiere gibt es in Deutschland keinen Markt. Und der nur wenige Kilometer entfernte Wiesenhof-Schlachthof in Lohne, einer der modernsten seiner Art, war angeblich nicht in der Lage, Elterntiere zu töten, weil diese zu groß und zu schwer waren. Ein kurzer Transportweg kam daher nicht in Frage.

  • Das Drama wiederholte sich. Die Geflügelgreifer, diesmal von einer externen Firma, die sehr viel mit Wiesenhof zusammen arbeitete, warfen, stopften und schmetterten die Hühner in die Transportkisten. Sie wurden von der einen Stallseite auf die andere hinüber geworfen. Über die in der Mitte angebrachten Kotgruben und die Legenester. Einfach so, weil man zu faul war, für wenige verbliebene Tiere noch eine Transportkiste zu organisieren. Am LKW standen zwei Arbeiter, die die Kisten aus Kopfhöhe auf den Boden des Transporters warfen. Knochenbrüche waren vorprogrammiert. Etliche Kisten fielen einfach vom Fließband auf den Hängerboden, wenn die Männer gerade nicht aufpassten oder auch mal gar nicht da waren.

  • Und dann war es vorbei.

  • Ich persönlich traf mich im Mai 2009 erstmals mit Wessels und Pohl. Redete mit ihnen, erörterte, warum sie sich auflehnen wollten. Sprach mit ihnen über die Risiken, aber auch über den Nutzen für die Sache der Tiere. Sie wägten nicht ab. Sie waren fest entschlossen. Selten war ich von Informanten so beeindruckt. Die Kameras, die ich vor dem ersten Hahnentausch einbaute, mussten danach sofort wieder verschwinden. Zu groß war die Gefahr, dass ein Elektriker sie zufällig entdeckte. Auch mit mobilen Geräten wurden wichtige Ereignisse dokumentiert. So z. B. das Töten eines Hahns durch Halten des Kopfes und Drehen des Körpers. Vom milchgesichtigen Lehrling der zu Wiesenhof gehörenden Brüterei. Natürlich ohne Narkose. Die Aufnahmen in der Farm entstanden teilweise mit hoch lichtstarken S/W-Kameras, die in der Stalltechnik verbaut waren. Denn das Ausstallen der gesamten Farm fand bei fast völliger Dunkelheit statt. Es war ein Mix aus mobilen und fest installierten Geräten unterschiedlicher Bauart.

  • Die Aufnahmen der versteckten Kameras, die Fotos und Videos, die ich immer wieder in aller Ruhe im Stall anfertigen konnte, die Farmunterlagen, die Schilderungen von Wessels und Pohl... alles das führte zum ersten wirklichen Tierschutz-Skandal, mit dem sich das Unternehmen bisher auseinandersetzen musste. Dem Wiesenhof-Skandal.