Jk-11 - PREVIEW

nr-Jahreskonferenz 2011

Referenten
Ashwin Raman
Golineh Atai
Michael Lüders
Stefan Buchen
Ulrich Kienzle
Mod.: Andreas Cichowicz
Programm
Tag Samstag - 2011-07-02
Raum K3
Beginn 10:15
Dauer 01:00
Info
ID 75
Track Debatte
Sprache der Veranstaltung deutsch
Feedback

Dramatische Ereignisse, überraschte Reporter

Die arabische Revolution in den deutschen Medien

Erst die Anfänge der Revolution in Tunesien verpasst, dann einen Umsturz in Ägypten für unmöglich gehalten. Nun überschattet der Krieg in Libyen die Entwicklungen aus der ganzen Region. Warum zeigen sich deutsche Medien bei ihrer Berichterstattung aus arabischen Staaten so anhaltend überrascht?

--- THEMEN FÜR DIE DISKUSSION ---

PROBLEME DER AUSLANDSBERICHTERSTATTUNG

  • Konzentration von Korrespondenten in Kairo
  • Abbau von Korrespondentenstellen
  • Interesse von Auslandsredaktionen, Sendeplätze vor/nach Dezember 2010
  • Haben Journalisten Kontakte auch in kleinere Städte, ländliche Regionen?
  • ausreichende Länderkompetenz?
  • Interesse für sozial-politische Themen (Arbeit, Bildung, Gesundheit...) aus Ländern des Südens? Reportage vs. Analyse?
  • Arbeitsbedingungen: Echtzeit-Berichterstattung aus dem Büro vs. Zeit für Recherchen in der Region

JOURNALISMUS IN AUTORITÄREN REGIMEN

  • Arbeitsbedingungen, Bewegungsfreiheit
  • Umgang mit Information von staatlichen Behörden/Militär
  • Kontakte zu Opposition
  • Sonderrolle von arabischem Privat-TV (Al Jazeera, Al Arabiya)
  • Warum gab es wenig kritische Berichterstattung über die Unterstützung dieser Regime durch europäische Regierungen?

REVOLUTION DER REDAKTION?

  • Arbeitsbedingungen verbessert? nachhaltige Strukturen für Berichterstattung? neue Plätze für Auslandsthemen?
  • anhaltende Aufmerksamkeit für Transformationsprozesse in Tunesien, Ägypten oder "Wanderzirkus"?
  • Geraten die Entwicklungen in Jemen, Bahrain, Syrien in den Windschatten der Kriegsberichterstattung aus Libyen?
  • Neue anhaltende Kontakte/Quellen erschlossen vs. YouTube-Berichterstattung?
  • verknüpfte, einordnende Berichterstattung über Prozesse: z.B. EU-Mittelmeerpolitik; Migration?

--

ANTWORTEN GOLINEH ATAI

Reporter/-innen können mit Satellitentechnik aus jeder Region der 
Welt berichten, aber in einer ländlichen Region Tunesiens beginnt 
unbemerkt eine Revolution. Welche Konsequenzen müssen 
Auslandsjournalist/-innen daraus für ihre eigene Arbeit ziehen?

  • Jeder kulturell versierte Auslandskorrespondent erkennt lange vor dem "Ausbruch des Vulkans", lange vor demokratischen Umwälzungen und Aufständen, "Risse im Gesellschaftssystem" bzw. Anzeichen für Unruhen. Er/Sie muss solche Anzeichen mit den Heimat-Redaktionen besprechen und Gelegenheit zur Hintergrundberichterstattung bekommen. Auslandskorrespondenten, die in einem Land leben aber zahlreiche andere Länder abdecken (in meinem Fall waren das 13 Länder), müssen über Producer und Internet ständig den Kontakt in andere Länder halten, vor allem die Heimat-Redaktionen sind gefragt: Sie müssen Raum für Hintergrundberichterstattung bieten - und zwar VOR dem "Vulkanausbruch"



Welche generellen Defizite der deutschen Auslandsberichterstattung 
sind in den letzten Monaten deutlich geworden? Welche Probleme betreffen 
speziell die arabischen Staaten?

  • Fehlende kontinuierliche Hintergrundberichterstattung, besonders zu Themen der Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Themen, die Klischees und Stereotypen festigen werden bevorzugt behandelt; Themen, die Stereotypen aufbrechen werden von der Heimat-Redaktion zu zögerlich aufgegriffen. Ich wünsche mir eine engere Anbindung der "Old School Media" an die "New Media"

.

Welche fachlichen Zugänge braucht es, um die arabischen Revolutionen 
zu verstehen? Welche journalistischen Darstellungsformen kommen zu kurz?

  • Sprache, Kultur, Religion, Geschichte, strategisch-wirtschaftliche Bedeutung der Region, Kenntnisse der Zivilgesellschaften und ihrer Instrumente (im aktuellen Fernsehen gilt jedoch eher: "Jeder ist austauschbar!") 
- (FS: ) mehr Reportagen (tolle Bilder, schräge Stories) und zu wenige gut gemachte dokumentarische Analysen (werden den Spartenkanälen und den Filmemachern überlassen)


Warum gab es bis 2011 wenige Analysen über die Unterstützung der 
arabischen Regime durch europäische Regierungen?

  • Heisst "Analyse" gleich "Beiträge, Artikel etc."? S.o. - Berichterstattung über strategische Interessen des Westens, strategisch-wirtschaftliche Verflechtungen und Menschenrechte bzw. "Risse im System" kommen zu kurz. Besonders im FS-Bereich wenig bis keine Fläche für Hintergrundberichterstattung. Sobald es aktuell heiß wird, werden Analysen -mit heißer Nadel scherenschnittartig gestrickt - nachgereicht (z.B. Ägypten: in der ersten Woche der Unruhen kaum Hintergrund zu den Motiven der Demonstranten)



Al Jazeera und Al Arabiya haben mit ihren Berichten über die 
Revolution in Ägypten ein neues Profil erlangt. Was können deutsche 
Redaktionen von der Arbeit dieser Sender lernen? Was nicht?

  • Al Jazeera und Al Arabiya hatten schon vor der Revolution und den Unruhen ein "neues", sprich: anderes Profil im Vergleich zum Staatsfernsehen. Der Westen kannte bzw. kennt gar nicht die Machart, den Fokus und die Programme. Nicht lernen: Rücksicht auf die strategischen Interessen der Financiers der Sender zu nehmen (z.B. Bahrain, Saudi-Arabiens Königshaus etc.), besonders bei Al Jazeera Arabisch gelegentlich zu starker populistischer Fokus. Lernen: sehr viel können wir besonders von Al Jazeera English lernen: 24-Stunden-Nachrichtenfernsehen/extrem wenig Werbung/innovative Formate/eigene Rechercheeinheit (zusammen mit Al Jazeera Arabisch, siehe "Palestine Papers")/keine Berührungsängste vor New Media/viel Fläche für gut gemachte Hintergrund-Dokumentationen/Reportagen die sehr nah an den Protagonisten und der Zivilgesellschaft sind/aufgrund der Ausrichtung auf ein kosmopolitisches Weltpublikum auch viele Berichte zu strategischen Verflechtungen bzw. Interessen des Westens



Wie viel Recherche steckt in den aktuellen Berichten aus autoritären 
Staaten und Kriegsgebieten? Welche Quellen werden vernachlässigt?

  • wenig Recherche, da der Aktualität immer Vorrang gegeben wird. Aktualität verdrängt langfristige Hintergrund-Recherche.
  • es gibt kaum Strukturen und Möglichkeiten für längere und innovative Recherche vor Ort
  • Recherche wird nicht als "wertvoll" eingestuft oder gilt als "zu gefährlich"
  • vernachlässigte Quellen: kein kontinuierlicher Kontakt zur Zivilgesellschaft



Wächst die Aufmerksamkeit von Redaktionen für die gesamte Region oder 
verdrängt die eine Revolution die andere von der Eins?

  • Das Bild, das die Redakteure von der Region haben, hat sich etwas verändert, und noch ist etwas mehr Aufmerksamkeit vorhanden, aber nachhaltige Auslandsberichterstattung ist generell selten

.

Was sind die Voraussetzungen für ein kontinuierliches Begleiten der 
Transformationsprozesse? Sehen Sie diese gegenwärtig verwirklicht?

  • Nein, sehe ich nicht verwirklicht. Wir bräuchten - gerade in Zeiten, wo Zuschauer "medienflexibel" werden und weniger auf feste Tageszeiten festgelegt sind - ein öffentlich-rechtliches, zentrales, gut gemachtes 24-Stunden-Nachrichtenfernsehen. Das könnte Auslandsbeiträge und -formate wie Weltspiegel, Reportagen und Dokumentationen wiederholen und zugleich viel kontinuierlicher als unser Hauptprogramm aus dem Ausland berichten (mehr kleine Hintergrundbeiträge, ein zusätzliches längeres Hintergrund-Format).  Mit Hilfe eines Korrespondentennetzes, das immer noch zu den größten der Welt gehört. 


Werden die Veränderungen in den arabischen Staaten ausreichend in 
Zusammenhängen, auch länderübergreifend dargestellt (Bsp. Migration)?

  • Die zentrale Frage, die bei jedem Auslandsbericht gestellt wird, lautet in vielen Redaktionen: "Was bedeutet das alles eigentlich für uns?" Natürlich haben wir uns im Zusammenhang mit den arabischen Umwälzungen auf die Flüchtlingsfrage fokussiert - diese aber auch ein bisschen zu kleingeistig in den Vordergrund geschoben, anstatt uns zu fragen: Was können wir machen, damit Menschen langfristig in ihrer Heimat eine Chance sehen? Insgesamt wenig bis kaum, z.B. Bahrain-Berichterstattung - die Redaktionen sagen oft, das sei alles zu schwierig für den Zuschauer.



Wie reagieren Journalist/-innen professionell auf Überraschung? 
Werden wir überrascht bleiben?

  • Ich persönlich war im Falle der Unruhen in Arabien und Iran nicht überrascht da ich mich lange genug mit den Menschen dieses Kulturraums beschäftigt habe. Wer kontinuierlich den Weltfinanzmarkt im Auge hat, der wurde auch nicht von der globalen Finanzkrise 2008 überrascht (ich kenne in meinem Haus einige Kollegen, die eine Krise kommen sahen - anders als die Experten). Etwas anderes ist es, wenn übermorgen plötzlich Israel den Libanon angreift - ganz ohne Countdown- dann kann und darf ich als Auslandskorrespondent überrascht sein, weil manches Mal "Geheimoperationen" einer "Bewegung" und geheimdienstliche Informationen und neue politische "Manöver" hinter dem aktuellen Konflikt stehen

--

STEFAN BUCHEN

Reporter/-innen können mit Satellitentechnik aus jeder Region der Welt berichten, aber in einer ländlichen Region Tunesiens beginnt unbemerkt eine Revolution. Welche Konsequenzen müssen Auslandsjournalist/-innen daraus für ihre eigene Arbeit ziehen?

  • Seit zwei Jahrzehnten ist die lebensweltliche Diskrepanz zwischen Zentrum und Peripherie in den Staaten Nordafrikas und des Mittleren Ostens für mich ein brennendes Thema. Landflucht und Migration in die Metropolen sind folgenreiche Entwicklungen in vielen Teilen der Welt, aber gerade auch in dieser Region. Dass die Spannung zwischen Peripherie und Zentrum einer der Auslöser und treibenden Faktoren der gegenwärtigen Umwälzungen ist, überrascht nicht.

Welche generellen Defizite der deutschen Auslandsberichterstattung sind in den letzten Monaten deutlich geworden? Welche Probleme betreffen speziell die arabischen Staaten?

  • Man tut, was man kann. Es ist deutlich geworden, dass die Medien zu lange brav hinter den herrschenden Deutungen der deutschen und europäischen Außenpolitik hergetrabt sind. Demnach ging es im Verhältnis zu den arabischen Staaten um die Eindämmung des islamistischen Extremismus und den Schutz vor Terror, die Eindämmung der Migration und die regionale Stabilität. Über wirtschaftliche Interessen und die Art ihrer Wahrnehmung ist es schön gewesen zu schweigen. Das hat die Medien für die gewaltigen inneren Spannungen in diesen Staaten blind gemacht.

Welche fachlichen Zugänge braucht es, um die arabischen Revolutionen zu verstehen? Welche journalistischen Darstellungsformen kommen zu kurz?

  • Ohne Kenntnis der arabischen Sprache hat man bei der Berichterstattung ein Problem.

Warum gab es bis 2011 wenige Analysen über die Unterstützung der arabischen Regime durch europäische Regierungen?

  • siehe 2)

Al Jazeera und Al Arabiya haben mit ihren Berichten über die Revolution in Ägypten ein neues Profil erlangt. Was können deutsche Redaktionen von der Arbeit dieser Sender lernen? Was nicht?

  • Das ist falsch. Al Jazeera und Al Arabiya sind dem Profil, das sie schon zuvor erlangt haben, auch während der Revolution in Ägypten treu geblieben. Die Version des Arabischen, die beide Sender pflegen und verbreiten, ist nicht zur Nachahmung empfohlen. Djahiz stünden die Haare zu Berge und seine Augen träten noch weiter aus ihren Höhlen hervor.

Wie viel Recherche steckt in den aktuellen Berichten aus autoritären Staaten und Kriegsgebieten? Welche Quellen werden vernachlässigt?

  • Ich kann nur von meiner eigenen Arbeit sprechen. Darin steckt viel Recherche.

Wächst die Aufmerksamkeit von Redaktionen für die gesamte Region oder verdrängt die eine Revolution die andere von der Eins?

  • Die Aufmerksamkeit für die gesamte Region nimmt bereits ab. In der medialen Dramaturgie ist es eigentlich nicht vorgesehen, dass sich so ein arabischer Frühling bis in den Sommer zieht.

Was sind die Voraussetzungen für ein kontinuierliches Begleiten der Transformationsprozesse? Sehen Sie diese gegenwärtig verwirklicht?

  • Ergibt sich aus 7)

Werden die Veränderungen in den arabischen Staaten ausreichend in Zusammenhängen, auch länderübergreifend dargestellt (Bsp. Migration)?

  • Nein. Parallelen, wiederkehrende Muster und Unterschiede werden zu wenig herausgearbeitet. Analyse und strategische Zusammenhänge kommen generell etwas zu kurz. Es wird zu wenig über die Rolle Saudi Arabiens gesprochen.

Wie reagieren Journalist/-innen professionell auf Überraschung? Werden wir überrascht bleiben?

  • Man tut, was man kann. Von mir kann ich sagen: damit, dass es in absehbarer Zeit zu einem „großen Ausbruch“ (enfedjar-e bozorg, Titel einer Kurzgeschichte von Hushang Golshiri) in Ländern wie Ägypten kommen würde, habe ich seit Jahren gerechnet. Wenn es dann tatsächlich passiert, ist man dennoch überrascht.