Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl im Panel „Favelas Online – Digitaler Wandel der Armenviertel“ (v.l.n.r., Foto: Wulf Rohwedder)

Lange waren die brasilianischen Favelas von der Außenwelt abgeschottet. Mit der wachsenden Nutzung von sozialen Medien bekommen nun auch die Bewohner der Armenviertel eine mediale Stimme. Mittendrin: Die beiden deutschen Journalistinnen Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl.

Sie nennen es die „größten Start-Ups von Lateinamerika“ – die Favelas. In den Armensiedlungen hat sich fernab von staatlicher Kontrolle eine eigene Welt entwickelt, die sich täglich neu erfindet – in einem Lebensalltag, der hauptsächlich durch Improvisation bestritten wird. Die Holzhütten wachsen zu Ziegelhäusern, Schicht um Schicht stapeln sich die Stockwerke bis zur Einsturzgefahr, der Strom wird aus den riesigen Kabelknäueln illegal angezapft. Bürgermeister der Favela sind die Drogengangs, die den Einwohnern zwar diktatorisch ihr eigenes Gesetz aufzwingen, aber nicht selten auch eine soziale Agenda verfolgen, zum Beispiel indem sie Medikamente zur Verfügung stellen.

Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl kennen diesen Alltag. Seit 2009 waren sie mehrmals in Rio de Janeiro und berichteten aus den Favelas. Die Drogen, die Kriminalität, die Bandenkriege – das findet tatsächlich statt, aber es ist eben nicht alles. Um den Blick auf die Favelas zu ändern, sind sie nach Rocinha gezogen, das größte Armenviertel der Stadt.

2011 gründeten sie die Multimedia-Plattform buzzingcities.net. Dazu berichten sie auch auf ihrem Blog favelawatchblog.com. Sie beschönigen nicht das Risiko, dem sie an ihrem Wohnort ausgeliefert sind. Aber sie scheinen die Spielregeln gut zu kennen: Menschenleere Straßen meiden, wenn es still wird, aufmerksam werden und Polizeieinsätze in Favelas umgehen. Auch dazu dient ihr Blog: Auf solche Ereignisse aufmerksam machen, damit die Bewohner der Favelas sich sicherer durch ihre Straßen navigieren können. Doch leben können die beiden von ihren Webseiten nicht; Jaroschewski und Peteranderl verkaufen auch regelmäßig Texte an deutsche Medien wie „Welt“ und „Spiegel Online“.

„Das alles sind keine Randgeschichten“, meint Jaroschewski, immerhin wohnt ein Viertel der Bevölkerung Rios in den Favelas. Über 1000 Siedlungen gibt es hier mittlerweile. Manche bestehen nur aus wenigen Häusern und gleichem eher einem Dorf am Hügel, andere haben sich zu komplexen „Stadt-in-der-Stadt“-Gebilden entwickelt, genau wie Rocinha. Trotz der oft mangelhaften Infrastruktur besitzen mittlerweile 50 Prozent der Favela-Bewohner einen Zugang zum Internet. PCs oder Laptops sind eher selten, die meisten loggen sich über ihr Smartphone in die sozialen Netzwerke wie Facebook, Twitter und Instagram ein. Die Verträge sind befristet, so kann man für umgerechnet knapp 50 Cent einen Online-Tag kaufen. Mit dem Einzug des Internet in die Siedlungen haben die Bewohner nun zum ersten Mal die Gelegenheit, sich untereinander auszutauschen. Dabei geraten sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten in den Fokus: Wo hat die neue Bar eröffnet? Was hat den Kabelbrand ausgelöst? Rückt die Polizei gerade wieder ins Viertel vor? Wird geschossen?

Aber nicht nur untereinander, auch über die Grenzen der Favela hinweg ist es erstmals möglich geworden, eine mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Der Favelareporter Michel Silva zum Beispiel läuft morgens mit seinem Smartphone aus dem Haus und versucht jede Veränderung in seinem Viertel fotografisch festzuhalten. In vielen Fällen haben brasilianische Massenmedien wie das „Globo“-Netzwerk seine Bilder bereits übernommen und einem großen Publikum zugänglich gemacht. Auch die im vergangenen Jahr aufkeimenden Proteste wurden durch deren Organisation und Resonanz im Social-Web befeuert – die Demonstranten verabredeten sich zu Kundegebungen, verbreiteten so ihre Forderungen oder dokumentierten polizeiliche Übergriffe.

Dennoch bleiben die Probleme in den Favelas groß. Ob die WM und Olympia 2016 dazu beitragen, dass sich daran langfristig etwas ändert? Darüber können Jaroschewski und Peteranderl nur mutmaßen. Die Frage sei, ob der Staat auch bereit sei, danach strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, wie die Wasser- und die Stromversorgung aufzubauen. Die Integration einer ganzen Stadt und ihrer Bewohnern könne nicht nur über das Militär und die Polizei erfolgen. Die Journalisten, die nur wegen der WM gekommen sind und meinen, an einem einzigen Tag die Favelas und ihr Eigenleben ergründen zu können, stören Jaroschewski und Peteranderl. Sie wollen gerade nach der WM berichten – wenn die meisten deutschen Reporter Rio schon längst wieder den Rücken gekehrt haben.