Wenn Algorithmen Themen finden

Die Social-Media-Community zwitschert auf Twitter und der Algorithmus generiert daraus die wichtigen Nachrichten. Ein Zukunftsmodell für den Journalismus? Bild: Coolen Simon/opensource.com/Flickr

Bestimmt bald nur noch das Gezwitscher der Social-Media-Community die journalistische Themenwahl? Bild: Colleen Simon/opensource.com/Flickr

Von Marie-Louise Timcke

Zwischen dpa, Reuters und der Associated Press haben sich längst soziale Netzwerke als beliebte Nachrichtenquellen für Journalisten eingeschlichen. Ob es um die Schwangerschaft eines Hollywood-Sternchens oder die aktuelle Situation in einem Kriegsgebiet geht: Kaum ein Nachrichtenmedium kann so schnell reagieren wie die Social-Network-Community. Neben Bildern, Videos und Texten liefert sie ein Stimmungsbild in Echtzeit und ermöglicht Journalisten, Kontakt mit Augenzeugen aufzunehmen. Algorithmen helfen den Medienmachern, aus der Flut an Informationen in den sozialen Netzwerken die vermeintlich wichtigsten Neuigkeiten zu Tage zu fördern. Doch ist das die richtige Antwort auf neue Leserbedürfnisse und Datenströme oder der erste Schritt zu einem Algorithmen- und Trend-getriebenen Journalismus, der selbst keine wichtigen Themen mehr setzt?

Insbesondere Twitter ist für viele Journalisten zum Newsstream Nummer Eins geworden, denn wer spannende Tweets am schnellsten entdeckt, hat einen Recherchevorsprung gegenüber der Konkurrenz. Für Marco Maas, Datenjournalist und Mitbegründer der Agentur OpenDataCity ist Twitter inzwischen die Haupt-Informationsquelle: „Ich würde sagen, dass an sich alle Themen, an denen ich in den vergangenen Jahren gearbeitet habe, auf diesem Weg zu uns gespült wurden.“ Um am Nachrichten-Puls aktuell und vielfältig informiert zu bleiben, hält er Twitter derzeit für den allerbesten Kanal. „Dort würde ich möglichst themenbezogen den twitternden Kollegen, Firmen und NGOs folgen und davon ausgehen, dass einen die relevanten Nachrichten bei zwei- bis dreimal täglichem Check auch erreichen.“

Social Media effizienter nutzen dank Software

Genau dieser von Maas vorgeschlagene Ansatz steckt hinter einer App, welche die Nutzung von Social-Media-Daten für Journalisten noch effizienter gestalten soll. Neil Thurman ist Professor für Kommunikationswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er beschäftigt sich insbesondere mit Computerjournalismus, also damit, wie Computer bei der Recherche und Verbreitung von Informationen eingesetzt werden können. Gemeinsam mit anderen Universitäten und Firmen hat er eine Anwendung namens SocialSensor entwickelt.

Die Software SocialSensor beobachtet auf Twitter die Posts besonders glaubwürdiger Akteure. Bild: Screenshot socialsensor.eu

Die Software SocialSensor beobachtet in sozialen Netzwerken die Posts besonders glaubwürdiger Akteure. Bild: Screenshot socialsensor.eu

„Die Software hinter dem SocialSensor ist darauf ausgelegt, aktuelle und zuverlässige Trends in den sozialen Netzwerken zu finden und sie dem Nutzer in einer übersichtlichen Form zu präsentieren“, sagt Thurman. Damit sind allerdings nicht die Trends gemeint, die Twitter selbst als eine Rangliste der meist genutzten Hashtags, also beliebter Schlagworte, anzeigt. Die App greift nicht auf den gesamten Datenstrom von Twitter zurück, sondern lediglich auf eine Datenbank von einigen tausend Nutzern. Sie beobachtet und sortiert deren Tweets zu Themenblöcken, wertet Häufigkeit und Frequenz dieser Posts aus und analysiert, wie andere User durch Likes und Retweets auf sie reagieren.

Aktien-Kursliste der top Trend-Themen

Auf der Startseite des SocialSensors bekommt der Nutzer dann die top Trend-Themen, -Personen und -Organisationen angezeigt oder kann selbst nach bestimmten Schlagworten suchen. Grüne nach oben und rote nach unten gerichtete Pfeile neben den Themenbezeichnungen zeigen wie auf einer Aktien-Kursliste die aktuelle Entwicklung an. Pfeil nach oben: Die Aufmerksamkeit für das Thema steigt. Pfeil nach unten: Das Interesse auf Twitter nimmt ab.

Rote und grüne Pfeile zeigen im SocialSensor an, ob ein Thema an Aufmerksamkeit verliert oder gewinnt. Quelle: Screenshot SocialSensor

Rote und grüne Pfeile zeigen im SocialSensor an, ob ein Thema an Aufmerksamkeit verliert oder gewinnt. Quelle: Screenshot SocialSensor

Mit einem Klick wird der zeitliche Verlauf bestimmter Trends grafisch dargestellt. Durch die Verknüpfung von Posts und Geodaten können die einzelnen Tweets zusätzlich auf einer Landkarte angezeigt werden. „Zum einen hat man hier die Möglichkeit, seinen eigenen Standort zu betrachten und zu sehen, was in der unmittelbaren Umgebung passiert. Zum anderen ist diese Funktion sehr nützlich, um die Aussagekraft eines einzelnen Tweets zu bewerten“, erklärt Thurman. Behandelt eine Handvoll Tweets beispielsweise einen Vorfall in London, so sind die in unmittelbarer Nähe zum Ort des Geschehens geposteten Informationen glaubhafter als andere.

Ein Scoring-System für mehr Glaubwürdigkeit

Der Guardian konnte mit einer Netzwerkanalyse zeigen, wie schnell sich Fehlinformationen auf Twitter viral verbreiten und wie lange es dauern kann, bis sich die Wahrheit durchsetzt. Dieses Problem will der SocialSensor umgehen, indem der Algorithmus auf eine Datenbank von ausgewählten Autoren begrenzt wird. „Wir haben mit einem Scoring-System besonders glaubwürdige Akteure nach verschiedenen Kriterien bewertet. Darunter fallen beispielsweise renommierte Journalisten, Politiker oder Hackergruppierungen wie Anonymous“, erklärt Thurman. Der Algorithmus bewertet sowohl den Beruf, die Followeranzahl und die Tweetfrequenz des Autors als auch seinen Verbreitungs- und Einflussraum. Weil die von den Entwicklern erstellte Datenbank nur britische und US-amerikanische Akteure enthält, ist die Standortfunktion für Deutschland allerdings bislang unbrauchbar. Eine Erweiterung der Datenbank sei derzeit nicht geplant, sagt Thurman, „so was wäre für die Zukunft aber durchaus denkbar.“

Auch wenn die App besonders zuverlässige Informationen liefern soll: Blind vertrauen sollte der Nutzer den Einschätzungen der Software nicht, sagt Thurman. „Obwohl unser System schon sehr gut funktioniert, darf man nicht vergessen, dass hier ein Computer die Entscheidungen fällt“, merkt er an, „der Algorithmus ist nicht perfekt, er liegt nicht immer richtig. Es ist immer noch notwendig, dass der Mensch, der den Algorithmus für sich nutzt, dabei mitdenkt. Am Ende sollte der Mensch das letzte Wort haben.“

Es gelten die normalen Recherchepflichten

Genau hier sieht auch Marco Maas die Grenzen der Twitterrecherche. „Es gelten natürlich die normalen Recherchepflichten, wenn es um Überprüfung et cetera geht.“ Auch müsse klar sein, dass man sich in Netzwerken immer in einer gewissen Filterblase aufhält. Dazu sollte man wissen, wie Twitter selbst mit Hilfe von Algorithmen den Newsfeed füllt und welche soziodemografischen Gruppen sich in welchen Netzwerken aufhalten. „Bei der Recherche mit Twitter und Co gilt daher wie auch überall: Gesunden Menschenverstand einsetzen“, sagt Maas.

Der Datenjournalist ist überzeugt, dass Algorithmen die Verbreitung von Medieninhalten in Zukunft noch viel stärker beeinflussen werden. In seinem Vortrag „The News will find you – the question is how“ prophezeit Maas eine Art Tinder-App für Nachrichten, bei der Nutzer durch die Analyse ihres Klickverhaltens nur die Informationen erhalten, die sie auch wirklich interessieren – ähnlich wie es schon heute im Newsfeed von Facebook geschieht.

Für Maas zählt nicht die Frage, ob sich Journalisten irgendwann den Interessen der Nutzer anpassen sollten, sondern wann sie es müssen. „Wenn ich das Verhalten meiner Zielgruppe ignoriere, kann ich sie nicht mehr erreichen. Monetär glaube ich, dass wir über diesen Weg Journalismus tatsächlich wieder bezahlbar bekommen werden.“ Themen würden sich so automatisch ihre Zielgruppen erschließen und könnten zu auch zielgerichtet mit Werbung versehen werden.

Eine Medienwelt, in der Klicks, Likes und Shares entscheiden, was relevant ist?

Doch wenn sich Redaktionen in Zukunft stärker an sozialen Netzwerken orientieren, laufen sie auch Gefahr, vollkommen in das abzudriften, was im Englischen als Customer-Comfort-Journalism bezeichnet wird – also ausschließlich über Themen zu schreiben, von denen ohnehin gerade jeder spricht. Wie sähe eine Medienwelt aus, in der Klicks, Likes und Shares darüber entscheiden, was relevant ist und in der nur diejenigen Artikel den Nutzer erreichen, die ihn laut seinem Klickverhalten auch interessieren? „Tatsächlich könnten hier möglicherweise unpopuläre und wichtige Themen leiden“, sagt Maas. Gleichzeitig könnten Algorithmen aber auch dafür sorgen, dass Artikel an Reichweite gewinnen, die sonst an mangelnder Bekanntheit von Verlag oder Autor gescheitert wären. Denn auch vermeintlich unpopuläre Themen haben ihre Zielgruppe; und der Algorithmus weiß genau, welche das ist.