Crowd-Recherchen: Vier herausragende Community-basierte Investigativprojekte
von Sarah Ulrich • 17. Oktober 2023
Originaltext auf Englisch
Häufig sehen Journalist*innen Communities vor allem als Publikum ihrer Arbeit. Dabei kann die Beziehung zwischen Journalist*innen und Communities so viel mehr sein, als diese top-down Betrachtung zulässt: Lokale Communities können dabei helfen, wirkungsvolle Recherchen voranzutreiben, Hinweise und Ressourcen zur Verfügung stellen – und sie bilden in einigen Fällen sogar die finanzielle Basis für Watchdog-Medien. Bürger*innen sind so nicht nur wertvolle Ressourcen, sondern auch treibende kollaborative Kraft hinter Recherchen. Einige der besten Investigativprojekte würden ohne Unterstützung der lokalen Communities gar nicht erst existieren.
Auf der 13. Global Investigative Journalism Conference (#GIJC23) wurden vier herausragende Beispiele vorgestellt, wie Journalismus von Communities profitieren kann. Das Panel “Crowd-Driven Journalism: Using Communities to Investigate” wurde von Rozina Breen, Gescäftsführerin und Chefredakteurin von The Bureau of Investigative Journalism (TBIJ) moderiert.
“Wenn wir strategische Allianzen bilden, können wir Kräfte und Können bündeln, um so nicht nur mehr Wirkung zu erzielen, sondern auch unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen”, erklärte Marcela Turati, die Mitgründerin von Quinto Elemento Lab, einer unabhängigen, gemeinnützigen Redaktion, die Investigativjournalismus in Mexiko unterstützt. Priyanka Raval, eine Journalistin aus der britischen Investigativredaktion The Bristol Cable machte sogar die Community für den Erfolg ihres Projekts verantwortlich und sagte, sie sei “die treibende Kraft hinter der Redaktion” gewesen, als die lokale Medienszene in der Krise steckte. Aidila Razak, Redakteurin bei Malaysiakini fügte hinzu, dass Communities nicht nur Quellen sein können, sondern auch eine wichtige demokratische Institution wenn es um Korruptionsbekämpfung oder den Schutz demokratischer Rechte geht. Dabei sei der erste Schritt, auf die Menschen zuzugehen, sagte Julia Hildebrand von Correctiv, die das CrowdNewsroom-Projekt ins Leben gerufen haben. “Es reicht nicht aus, mit Leuten zu reden und nach Feedback zu fragen”, sagte sie. “Es geht vielmehr darum, die Struktur gemeinsam aufzubauen.”
Um die Auswirkungen und Möglichkeiten von Community-basiertem Journalismus besser zu verstehen, geben wir euch hier einen Einblick in vier innovative Projekte, die von den Panelists vorgestellt wurden.
Quinto Elemento Lab, Mexiko
Quinto Elemento Lab wurde 2017 mit dem Ziel ins Leben gerufen, nicht nur Investigativjournalismus generell zu fördern, sondern auch Bürger*innen zu empowern, Verantwortungsübernahme zu stärken und dabei eine transparentere Gesellschaft aufzubauen. Seitdem hat es preisgekrönte Recherchen zu Menschenrechten, Bandenkriminalität oder Korruption veröffentlicht.
Das kleine Team hat einen besonderen Ansatz zu crowd-basiertem Journalismus: Sie bilden Teams aus eigenen Reporter*innen gemeinsam mit lokalen Reporter*innen aus der Gegend, in der sie recherchieren wollen. So können sie nicht nur redaktionell Unterstützung leisten, sondern auch Ressourcen mit Reporter*innen teilen, die nicht die gleichen Zugänge zu Strukturen oder Fördergelder haben. Marcela Turuti nennt diese Teams “strategische Allianzen, um Kräfte und Können zu bündeln und so nicht nur mehr Wirkung zu erzielen, sondern auch unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen.”
Auf der Konferenz stellte sie auch ein Beispiel ihrer Arbeit vor: Das Podcast-Projekt “Periodismo de lo posible” (Journalismus des Möglichen), eine 12-teilige historische Serie über Widerstand gegen Umweltausbeutung in Mexiko, die von Journalist*innen aus den betroffenen Communities selbst recherchiert und erstellt wurde. Das Projekt wurde mit der Unterstützung von Quinto-Elemento-Reporter*innen umgesetzt und in einer Versammlung der lokalen Community präsentiert. Dort konnten die Mitglieder der Community selbst abstimmen, welche Inhalte am Ende publiziert wurden und welche nicht. “Auf diese Weise konnte die Recherche an die Community zurückgegeben werden, aus der sie kommt”, erklärte Turari. Ein besonderer Aspekt ihrer Arbeit: Alle Teams streben nach Gleichstellung und haben mindestens eine Frau dabei – ein klares Zeichen, um dem machísmo der mexikanischen Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, so Turuti.
Malaysiakini, Malaysia
Malaysiakini hat sich in den vergangen Jahren zum einflussreichsten community-basierten Journalismusprojekt in Malaysia entwickelt. Lange Zeit war das Medium, das 1999 gegründet wurde, das einzige in Malaysia, das ein Mitgliedschafts-Modell hatte.
“Niemand sonst konnte so unabhängig wie wir sein”, sagte Aidila Razak. Durch die Finanzierung über Mitgliedschaften hätten sie außerdem eine besondere Verantwortung gegenüber ihrem Publikum.
Das Finanzierungsmodel fördere ein hohes Maß an Interaktion mit der Community, beispielsweise in der Kommentarspalte der Website. Die Reporter*innen lesen diese nicht nur – sondern profitieren sogar davon. Indem sie den Fokus auf Meinungen und Interessen ihrer Leser*innen setzen, kann Malaysiakini tatsächlich darauf reagieren, zu welchen Themen die Community sich Recherchen wünscht. “Ein wichtiges Tool, um diejenigen in Machtpositionen in Verantwortung zu nehmen”, wie Razak erklärte.
Außerdem lieferte sie die wohl beste Metapher dafür, wie wichtig die Community für die Redaktion ist: Während einer Crowdfunding-Kampagne für ein neues Redaktionsgebäude konnten Leser*innen einen Ziegelstein mit ihrem Namen darauf kaufen. Am Ende erreichten sie tatsächlich das Crowdfundingziel und konnten das neue Gebäude bauen – mit einigen Steinen aus der Crowdfunding-Kampagne, die nun einen Teil des Büros bilden.
“Unsere Leser*innen sind der Grund, warum wir existieren. Also können sie uns auch in Verantwortung nehmen.” – Priyanka Raval
The Bristol Cable, Großbritannien
“2014 war die Journalismusbranche in Großbritannien am Boden”, erzählt Priyanka Raval. Also entschieden sie und eine kleine Gruppe Freiwilliger sich dazu, in der westenglischen 700.000-Einwohner*innen-Stadt Bristol ein Gegengewicht zu den lokalen Medien zu schaffen, die vor allem von Konzernen geleitet werden. Sie starteten eine Crowdfunding-Kampagne und schufen eine lokale, investigative, unabhängige Zeitung, die komplett von der Öffentlichkeit finanziert wird.
Dieses Mitgliedschaftsmodell ermöglicht den Reporter*innen, sich auf anhaltende Recherchen zu fokussieren, von denen einige auch schon namhafte Preise erzielen konnten. Ein besonderer Fokus der Redaktion liegt darauf, die Leser*innen in den Redaktionsprozess miteinzubeziehen. So fragten sie beispielsweise kürzlich vor einer politischen Wahl ihre Leser*innen, welche Themen für sie und ihre Community besonders wichtig sind. Aus den Ergebnissen erstellten sie eine Liste und konfrontierten die Kandidat*innen mit genau den Themen, die Bürger*innen von ihnen wissen wollen.
“Das macht einen wirklichen Unterschied”, sagte Raval. So könnten sie sich auf Themen konzentrieren, die der Community wirklich wichtig sind – und Politiker*innen dafür in Verantwortung nehmen. Und als Google Geld für journalistische Projekte auf der ganzen Welt zur Verfügung stellte, fragten sie zuerst ihre Leser*innen, ob sie es annehmen sollen. Die Community sprach sich dagegen aus – also lehnte die Redaktion das Geld ab. “Unsere Leser*innen sind der Grund, warum wir existieren. Also können sie uns auch in Verantwortung nehmen.”
Crowd Newsroom, Schweiz / Deutschland
Der Crowd Newsroom von Correctiv ist ein Paradebeispiel für community-basierten Journalismus. Das gemeinnützige Projekt wurde 2020 gegründet und ermöglicht Bürger*innen mithilfe einer eigens dafür gebauten Software, sich an Recherchen zu beteiligen. Die Plattform selbst nimmt ein Thema in den Fokus – eine Problemstellung, eine öffentliche Debatte oder eine Recherchefrage – und regt dann in der Community an, sich an der Recherche zu beteiligen. Dafür gibt es Fragebögen, durch die Teilnehmende Informationen wie Erfahrungen, Beweise oder Recherchehinweise weitergeben können. Die durch dieses crowdsourcing generierten Daten werden anschließend von professionellen Investigativjournalist*innen aus dem Correctiv-Team geprüft und analysiert.
“Was ich an diesem Ansatz toll finde: Man kann damit neue Möglichkeiten für Journalist*innen schaffen, Bürger*innen zu ermächtigen, eine Stimme im demokratischen Prozess abseits von Wahlen zu finden”, sagte Julia Hildebrand. So seien Bürger*innen nicht nur stumme Zuschauer*innen, sondern werden tatsächlich in die Recherchen zu Missständen miteinbezogen.
Ein wichtiger Aspekt dieses Prozesses sei es, Vertrauen zu schaffen. Insbesondere in Zeiten, in denen das Vertrauen in Medien abnimmt, kann Correctiv die Beziehung zwischen Journalist*innen und Bürger*innen stärken, wenn letztere in den Prozess der Nachrichtengestaltung mit einbezogen werden. Ein preisgekröntes Beispiel: “Wem gehört Hamburg?” Eine Recherche über die mangelnde Transparenz des Hamburger Wohnungsmarkts, die von 1000 Einwohner*innen aus der lokalen Community unterstützt wurde.