Clicki-​Bunti und Data Porn

ver­öf­fent­licht von Gast­bei­trag | 24. Oktober 2015 | Lese­zeit ca. 8 Min.

Wie viel Visua­li­sie­rung braucht der Daten­jour­na­lismus?

Alles so schön bunt hier! Aber wie schön darf und sollte Datenjournalismus sein? Datenvisualisierung von Lauren Manning/flickr

Alles so schön bunt hier! Aber wie schön darf und sollte Daten­jour­na­lismus sein? Daten­vi­sua­li­sie­rung von Lauren Man­ning/flickr

Von Anne Kliem

Das Arti­kel­bild haben Sie ver­mut­lich schon ange­schaut, aber schaffen Sie es auch bis zum Ende dieses Bei­trags? Der durch­schnitt­liche Online-​Leser ver­bringt 15 Sekunden auf einer Seite. Diese Zeit geht meist für Über­schriften und Bilder drauf. Auch im Daten­jour­na­lismus werden die meisten Geschichten mit­hilfe von Visua­li­sie­rungen erzählt. Ganz zum Unmut man­cher Hard­liner.

Wie schön muss Daten­jour­na­lismus sein? Welche Funk­tionen hat die Daten­vi­sua­li­sie­rung und wie viel davon braucht und ver­trägt der Daten­jour­na­lismus? Das dis­ku­tieren Till Nagel, Visua­li­sie­rungs-​Wis­sen­schaftler und Desi­gner an der FH Potsdam, und Sascha Venohr, Leiter Daten­jour­na­lismus bei Zeit Online.

Daten­jour­na­lismus braucht keine Visua­li­sie­rung, keine Ästhetik. Das ist zumin­dest die Ansicht man­cher Hard­liner – funk­tio­niert Daten­jour­na­lismus ganz ohne „Kos­metik“ für die Daten?

Venohr: Jour­na­lismus ist Geschich­ten­er­zählen. Geschichten werden nur wahr­ge­nommen, wenn sie span­nend sind, wenn sie unter­halten. Das gilt für jede Geschichte, egal ob es ein Text oder eine Visua­li­sie­rung ist. Bei einem Text kann ich mich nicht auf die span­nenden Fakten ver­lassen und den Stil ver­nach­läs­sigen. Über­tragen auf eine daten­jour­na­lis­tisch erzählte Geschichte heißt das: Ästhetik darf nicht ver­nach­läs­sigt werden, sie muss die Infor­ma­ti­ons­ver­mitt­lung unter­stützen, darf aber eben nicht zum Selbst­zweck werden.

Wo liegt bei Visua­li­sie­rungen denn die kri­ti­sche Grenze zum Selbst­zweck?

Venohr: Das Gegen­teil zu sinn­vollen Visua­li­sie­rungen sind „Clicki-​Bunti“, „Eye-​Candy“, „Data Porn“ – und da ist eben Design zum Selbst­zweck erhoben: die Visua­li­sie­rung der Daten gibt keinen neuen Zugang zu einer Geschichte. Sie hätte viel­leicht besser in einer Text­form erzählt werden können, weil die Grafik von der Haupt­aus­sage ablenkt. Da wird die Grenze über­schritten.

Nagel: Oft­mals wird die Visua­li­sie­rung zum bloßen Hübsch-​Machen ver­nied­licht. Anspre­chendes Design soll für Auf­merk­sam­keit sorgen. Dabei steckt viel mehr hinter der Ästhetik: Viele Aspekte der Ästhetik sind fun­da­mental, um Inhalte zu ver­mit­teln. Die rich­tige Form, die rich­tige Abbil­dung zu finden, etwas Inno­va­tives zu machen ist wichtig. Und wenn das in eine neue, ästhe­ti­sche Form mündet, kann eben diese Attrak­ti­vität einen Leser erst auf­merksam machen. Auf­merksam machen für die Geschichte, die Aus­sagen, die dahinter stehen. Das ist ein wich­tiges Ziel.

Diese Visua­li­sie­rungen sind attraktiv, erha­schen auch in Kon­kur­renz zu vielen anderen, nicht zwangs­weise jour­na­lis­ti­schen Pro­dukten, Auf­merk­sam­keit – erleben wir des­halb einen daten­jour­na­lis­ti­schen Boom?

Venohr: Die Außen­wahr­neh­mung ist viel­leicht etwas ver­zerrt. Als Teil des Medi­en­ge­sche­hens muss ich sagen: Von Boom kann nicht die Rede sein. Ich habe den Ein­druck, dass relativ wenig pas­siert.

Nagel: Aber Daten­vi­sua­li­sie­rungen all­ge­mein errei­chen momentan einen Mas­sen­markt. Das liegt auch an Daten­jour­na­lismus-​Pro­jekten, die eine immense Sicht­bar­keit errei­chen. Aber eben auch daran, dass wir in einer Zeit ange­kommen sind, in der es diese wahn­sin­nigen Daten­mengen gibt. Nicht nur Big Data, son­dern auch Per­sonal Data und Quan­ti­fied-​Self. Wir haben jetzt sämt­liche Daten, mit denen es zumin­dest theo­re­tisch mög­lich ist, jeg­liche Aus­sagen zu quan­ti­fi­zieren und zu unter­mauern.

Mit Ihren Visua­li­sie­rungen errei­chen Sie in der Regel sehr viele Clicks. Ver­spüren Sie Druck aus der Chef­re­dak­tion, daten­jour­na­lis­ti­sche Pro­jekte immer auch als Visua­li­sie­rung umzu­setzen?

Venohr: Reich­weite ist wichtig, Druck ver­spüre ich den­noch nicht. Die Lei­tung bei Zeit Online sieht nicht die ein­zelnen Pro­jekte, son­dern was das Gesamt­paket in die Marke als Inno­va­ti­ons­me­dium ein­zahlt. Und da hat die Chef­re­dak­tion zurecht die Erwar­tungs­hal­tung an uns, dass wir inno­vativ, sind, das wir kreativ sind – und das funk­tio­niert in unserem Fall über am besten über ent­spre­chend neu gedachte, adäquate Daten­vi­sua­li­sie­rungen.

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Wann sind Visua­li­sie­rungen neu gedacht? Wann sind sie gut?

Nagel: Das ist die Mutter aller Fragen. Eine gute Daten­vi­sua­li­sie­rungen ist eine, die effektiv das ver­mit­telt, was man aus den Daten raus­holen wollte. Des­halb vari­iert die Defi­ni­tion von „gut“ von Pro­jekt zu Pro­jekt.

Venohr: Effektiv ist die Daten­vi­sua­li­sie­rung, in der sich der Mensch in der Geschichte wie­der­findet. Zum Bei­spiel inter­aktiv über einen kon­kreten regio­nalen Bezug. Wenn eine per­sön­liche Ver­bin­dung zur Geschichte ent­steht. Durch dieses posi­tive Erlebnis ver­spürt der Leser einen Vor­wärts­drang, dies weiter mit­zu­teilen. Dann kann eine Story viral werden.

Nagel: Bei uns in Aus­stel­lungen kann es auch als Spaß emp­funden werden, wenn eine kom­plexe Dar­stel­lung durch­drungen wird – das ist ein Erfolgs­er­lebnis. Dann ist eine Visua­li­sie­rung gut, wenn Sie den Weg zu diesem Erfolgs­er­lebnis unter­stützt. Das ist im Daten­jour­na­lismus so aber nicht mög­lich, oder?

Venohr: In unserem Medium ist die Auf­merk­sam­keits­spanne sehr gering. Es muss des­halb leicht zugäng­lich und zu ver­stehen sein. Der „Küchen­zuruf“ muss auch allein­stehen von der Visua­li­sie­rung getragen werden. Und nicht etwa nur in Kom­bi­na­tion mit der Über­schrift oder dem Text.

Noch einmal zum Punkt Auf­merk­sam­keit: Wie viele Leser bleiben an der Visua­li­sie­rung hängen und nehmen den Rest der Geschichte gar nicht wahr?

Venohr: Das ist der Grund­schmerz des Online-​Jour­na­listen. Wir müssen hin­nehmen, dass sehr Wenige das Ende der Geschichte errei­chen. Aber: Gute Daten­vi­sua­li­sie­rungen erzielen wesent­lich bes­sere Werte als klas­si­sche Text­stücke. Eine Visua­li­sie­rung, die rein­zieht, hält auch drin und moti­viert, bis zum Ende zu kon­su­mieren. Und in diesem Punkt muss ich denen wider­spre­chen, die behaupten, dass Daten­jour­na­lismus voll­ständig ohne die visu­elle Kom­po­nente aus­kommen kann.

Nagel: Das heißt nicht, dass Online weniger Text gelesen wird. Es kann sein, dass die glei­chen Leute im Print auch aus­ge­stiegen wären.

In Gesprä­chen haben einige Daten­jour­na­listen geäu­ßert, dass sie einen inhalt­li­chen Qua­li­täts­ver­lust zu Gunsten der „hüb­schen“ Auf­ma­chung beob­achten. Nehmen Sie das auch wahr?

Venohr: Solange es Jour­na­lismus gibt, gibt es gute Geschichten und schlechte Geschichten – ich würde das nicht zu einem Pro­blem her­auf­be­schwören. Wir bei Zeit Online haben das Glück, dass wir auf dem weißen Papier anfangen und uns eine Visua­li­sie­rung kom­plett aus­denken können, wir müssen uns nicht von der Stange bedienen. Dieses Glück hat nicht jede Redak­tion, des­halb sind manche Tools nicht immer punkt­genau für die Inhalte. Das heißt aber auch nicht, dass das schlech­tere Geschichten sind, die die Kol­legen schreiben. Wir befinden uns noch auf einem Expe­ri­men­tier­feld, auf dem viele Regeln noch nicht geschrieben sind.

Nagel: Es gab eine Studie, die das „Visual Embel­lish­ment“, das Aus­schmü­cken von Dar­stel­lungen, unter­sucht hat. Mit dem Ergebnis, dass auch das einen Nutzen haben kann – näm­lich den der Wie­der­erken­nung. Bekanntes Bei­spiel dafür ist „Dia­monds were a girl’s best fri­ends“ (Nigel Holmes in “A Gem That Lost Its Luster,” Time 120, no. 9, 30. August 1982). Das ist fast schon zu ver­spielt. Ich halte solche Dar­stel­lungen all­ge­mein für gefähr­lich. In diesem Fall ist der Wert für die Wie­der­erin­ne­rung an die Infor­ma­tion aber so groß, weil man sich das prä­gnante Bild vor Augen setzen kann. Das extreme Aus­schmü­cken mit „Orna­menten“ kann also auch zum Zweck der Ver­mitt­lung sein.

Viel­dis­ku­tierter Punkt beim nr-​Daten­labor war, inwie­fern hinter einer Dar­stel­lung immer auch eine Hal­tung, eine Posi­tion steckt. Warum ist dann aus­ge­rechnet die Visua­li­sie­rung die Form der Wahl in einem Daten­jour­na­lismus, der für sich in Anspruch nimmt, sehr fak­tisch zu sein?

Venohr: Der Job von Jour­na­listen ist es, Wich­tiges von Unwich­tigem zu trennen, und das pas­siert natür­lich auch bei Visua­li­sie­rungen. Der Daten­jour­na­list sagt: Das ist die Geschichte, das ist die Geschichte nicht. Da wird natür­lich indi­rekt Stel­lung bezogen. Gleich­wohl bildet eine Daten­vi­sua­li­sie­rung ein viel wei­teres Spek­trum, in dem auch Rand­be­reiche abge­bildet werden können. In einem Text muss man viel krasser, viel poin­tierter schreiben.

In geschrie­benen Texten ist der Autor mit seiner Posi­tio­nie­rung offen­sicht­lich. Visua­li­sie­rungen hin­gegen haben auf den ersten Blick einen neu­tralen Anspruch, beziehen aber den­noch indi­rekt Posi­tion – wie reagieren Ihre Rezi­pi­enten darauf?

Venohr: Die Vehe­menz der Kritik auf Visua­li­sie­rungen ist wesent­lich krasser als bei Texten. Sie sagen: Da muss irgend­etwas gefälscht sein. Das ist nicht die Ver­sion, die ich erwartet habe. Der Ver­dacht der Mani­pu­la­tion wird hier eher gehegt.

Nagel: Viel­leicht gerade weil die Visua­li­sie­rungen die höhere Vali­dität zu haben scheinen und weil die Leser die Situa­tion leichter mit ihrer eigenen abglei­chen können. Texte beleuchten meist einen sehr all­ge­meinen oder einen sehr fokus­sierten Kon­text, der bildet das Leben der ein­zelnen Leser meist nicht direkt ab. Bei einer inter­ak­tiven Visua­li­sie­rung kann ich ein­zelne Aspekte oft mit meiner direkten Lebens­rea­lität abglei­chen. Diese Nähe zur Lebens­rea­lität bringt den Nutzer in die Posi­tion, dann umso schärfer kri­ti­sieren zu können.

Wo ist der nächste Bäcker mit eigener Backstube? Das verrät dieses Zeit Online Crowdsourcing-Projekt. Quelle: Zeit Online

Der Abgleich mit der eigenen Lebens­rea­lität: Wo ist der nächste Bäcker mit eigener
Back­stube? Das verrät dieses Zeit Online Crow­d­sour­cing-​Pro­jekt. Quelle: Zeit
Online

Welche Rolle werden Daten­jour­na­lismus und Daten­vi­sua­li­sie­rungen in Zukunft in unserem Alltag spielen?

Nagel: In allen Aspekten des Lebens wird es daten­ge­trie­bener werden. Und damit werden Visua­li­sie­rungen wich­tiger – ein­fach um dieser Masse Herr zu werden, aber auch im Alltag. Oder eben im Jour­na­lismus.

Venohr: Ich würde mich freuen, wenn wir irgend­wann nicht mehr dar­über dis­ku­tieren, dass es Daten­jour­na­lismus gibt, son­dern dass er ein natür­li­cher Bestand­teil von Jour­na­lismus ist. Guter Jour­na­lismus muss in der Lage sein, jede Art von Quellen zu nutzen, er muss aber auch Zugang dazu haben. Und jede Redak­tion, die dieses Know-​How nicht hat, wird in Zukunft einige Geschichten nicht erzählen können. Wenn man auf diesem Markt auf­fallen will, dann muss man auch auf­fallen können – da sind und bleiben Daten­vi­sua­li­sie­rungen vor­erst kaum umgäng­lich.

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