Die Bild-Zeitung ist kein Journalismus

Manche Zeitungen leben von Exklusivberichten, andere von ihrem interessanten Lokalteil, die Bild-Zeitung ernährt sich von Rufmord, Manipulation und Lüge. Gäbe es keine Leser, die auf ihrer täglichen Ration üble Nachrede und Häme, nackte Brüste und Nutten-Inserate bestehen, bräche das Geschäftsmodell des Blattes schlagartig zusammen. Das ist kein polemisches Werturteil über die größte Zeitung der Republik, sondern die umgangssprachliche Übersetzung eines Revisionsurteils des Bundesgerichtshofs (BGH) von 1981, in dem die Richter im Boulevard-Blatt „Fehlentwicklungen eines Journalismus” erkannten, der die Aufgabe der Presse und deren Verantwortung aus dem Auge verloren habe. Die Entscheidung – obwohl über dreißig Jahre alt – ist noch immer aktuell. Es genügt ein Blick in eine beliebige Ausgabe, um sofort zu erkennen, dass alle tatsächlichen oder vermeintlichen Versuche des Springer-Verlags und der Chefredaktion, dem Blatt den Gossengeruch auszutreiben, zum Scheitern verurteilt sind. Denn die Gosse ist – wie es Gerhard Henschel vor ein paar Jahren eindrücklich beschrieb – nicht nur die Geschäftsgrundlage und das Hauptbetätigungsfeld der Bild-Zeitung, sondern ihre Herkunft, von der man sich im besten Falle distanzieren, aber niemals lösen kann. Mit anderen Worten: Die Bild-Zeitung ist kein Journalismus, sondern seine Perversion.

Daran ändert, nur nebenbei bemerkt, auch nichts der Hinweis, die gesamte Branche sei mittlerweile von der Liebe zum Boulevard ergriffen und die Bild-Zeitung in weiten Kreisen der bürgerlichen Welt als Tageszeitung anerkannt wie der Pornofilm als Betthupferl. Was das Letztere betrifft, so besagt das nichts über die gestiegene Qualität der Bild-Zeitung, aber einiges über die herabgesunkene Qualität des deutschen Bürgertums. Und was die Annäherung der gesamten Branche an den Boulevard betrifft: Die Entwicklung etlicher Medien – nicht nur im Fernsehen, zunehmend auch in Zeitungen – lässt sich kaum bestreiten, aber ebensowenig bestreiten lässt sich der Unterschied von Boulevard und Gosse. Auf dem Boulevard flaniert, wer dem Schmutz des Rinnsteins entkommen will.

Es gäbe überzeugende Gründe, die Bedingungen für die Teilnahme am Henri-Nannen-Preis um den Satz zu ergänzen: „Ausgeschlossen von der Teilnahme sind Mitglieder der Redaktion der Bild-Zeitung.” Warum das nicht geschehen ist, kann nur vermutet werden. Denkbar ist die begründete Befürchtung der Preis-Ausrichter, sich mit einer „Lex Bild” eben dem Vorwurf auszusetzen, den sie bei anderer Gelegenheit dem „Drecksblatt” (Leyendecker) machen – unliebsame Personen und Einrichtungen bedenkenlos öffentlich in die Tonne zu treten. Wahrscheinlich aber spielte vor allem die Erwartung eine Rolle, kein Bild-Redakteur würde jemals eine journalistische Arbeit in einer der fünf Kategorien zustande bringen, die einer Jury, der Lichtgestalten und Sprachathleten wie Ulrich Reitz und Helmut Markwort angehören, preiswürdig erscheinen könne. Wäre es so, dann hätte sich die Hybris in diesem Jahr fürchterlich gerächt.

Ob der von der Jury ausgezeichnete Beitrag zweier Bild-Redakteure tatsächlich die „Beste investigative Leistung” des deutschen Journalismus im Jahr 2011 gewesen ist, steht hier nicht zur Debatte. Anders die Frage, ob die Teilnahme am Henri-Nannen-Preis Bild-Redakteuren erlaubt, ihre Auszeichnung aber allein mit der Begründung verweigert werden kann, ihr Beitrag sei in der Bild-Zeitung erschienen. Das ist natürlich Unsinn, vor allem aber handelt es sich offensichtlich um ein Scheinproblem. Würde ein Literaturpreis ohne besondere Teilnahmebeschränkungen zu dem Thema ausgelobt „Innenansichten eines Mörders” und stellte sich später heraus, dass der poetischste, empathischste, kompromissloseste, überzeugend brutalste und deshalb von der Jury mit dem ersten Preis bedachte Beitrag von der Hand eines Mörders im Dunkel einer Zelle geschrieben worden ist, würde das Feuilleton die Authentizität des Textes und den Mut der Jury loben, und niemand – ausgenommen der Bund der Strafvollzugsbediensteten – würde die Preiswürdigkeit des Gerühmten bezweifeln. Warum sollte für Bild-Redakteure anderes gelten? Sie sind zuhause in der Welt der Lüge, des Zwielichts und der Manipulation, hier haben sie sich umgesehen und nach Ansicht der Jury am Beispiel Christian Wulffs Bemerkenswertes herausgefunden und beschrieben. Rühmen wir also die Authentizität des prämierten Beitrags und den Mut der Jury.

Christian Bommarius, Jahrgang 1958, ist Autor der DuMont-Redaktionsgemeinschaft.