Der Daten-Akrobat
Von Jana Burczyk
24. März 2015, 11:30: Ein vollbesetztes Flugzeug soll über Südfrankreich abgestürzt sein. Das Schicksal der 148 Passagiere und der Crew ist unbekannt, vermutlich waren viele Deutsche an Bord – so weit die Meldungen der Nachrichtenagenturen. Jetzt müssen Sascha Venohr und sein Datenjournalismus-Team bei Zeit Online schnell sein: Welche Daten gibt es zum Flugverlauf der Maschine? Was sagen meteorologische Daten über das Wetter vor Ort? Kann ein Unwetter der Grund für den Absturz gewesen sein? Für Venohr gehört es zum Alltag, dass solche unerwarteten Ereignisse die Arbeit an großen Projekten unterbrechen. Er muss daher stets einen Balanceakt zwischen aufwendigen Datengeschichten einerseits und aktueller Berichterstattung andererseits meistern.
Um schnell reagieren zu können, muss Venohr wissen, welche Quellen rasch verlässliche Daten liefern. Im Fall eines Flugzeugsabsturzes ist die Webseite Flightradar24.com eine erste Anlaufstelle für ihn. Sie zeigt die Routen von Zivilflugzeugen. “Jenseits von irgendwelchen Nachrichtentickern können wir da sehen, ob eine Linie wirklich in den Alpen endet”, sagt Venohr. Auch, ob sich die Maschine in einem Sinkflug befunden hat, geht aus den Daten hervor. “Wir wollen zunächst die grundlegenden Fakten rund um das Unglück sicherstellen.”
Keine Zeit für aufwendige Visualisierungen
Wenn bis zur geplanten Veröffentlichung nur Minuten oder Stunden bleiben, lässt sich keine aufwendige Datenvisualisierung programmieren. Doch es gibt viele Tools, die selbst Journalisten ohne Programmierkenntnisse in so einem Fall helfen. „Für Karten nutzen wir auch Mapbox, Diagramme lassen sich mit Infogr.am gut darstellen“, sagt Venohr. Highcharts und Highmaps seien weitere Werkzeuge, mit denen sich Karten und Diagramme schnell und einfach erstellen ließen. Gerade wenn es schnell gehen muss, gleicht seine Arbeit dem Balanceakt auf einem Drahtseil: in der einen Hand den Druck der Aktualität, in der anderen den Anspruch, nur Fundiertes zu berichten und Informationen anschaulich darzustellen.
Venohr ist selbst weder Programmierer, noch durchlief er eine klassische Journalistenausbildung. Stattdessen versuchte er lange einen Spagat: Neben seinem Jura-Studium schrieb er nebenbei für verschiedene Zeitungen, um sein Studium zu finanzieren – bis er eines Tages lieber Zeit in der Redaktion als im Hörsaal verbrachte.
„Später, als Online-Redakteur beim Hessischen Rundfunk, habe ich zunehmend Projekte übernommen, bei denen ich Vermittler zwischen Redaktion und Technik war – unter anderem beim Aufbau der Webseite.“ Bei Zeit Online führte sein Interesse an Technik und am Programmieren zu ersten datenjournalistischen Stücken. Inzwischen leitet Venohr als Head of Data Journalism ein Team, das bekannt für aufwendige Recherchen und Visualisierungen ist, etwa zum maroden Zustand von Eisenbahnbrücken, zu den Anschlägen auf Flüchtlingsheime in Deutschland oder zur regionalen Verteilung der Ärzte in Deutschland.
Je nach Situation Tretboot oder Rennwagen
“Bei aufwendigeren Projekten können wir viel mehr Zeit und Liebe zum Detail hineinstecken”, sagt Venohr. Hier können er und sein Team sich austoben und Neues ausprobieren. “Man sieht uns dann vor weißen Tafeln stehen und malen”, erzählt er. Ohne hohen künstlerischen Anspruch entstünden so Skizzen, in denen ein Umsetzungsvorschlag Gestalt annimmt. Auch dabei haben Venohr und sein Team die Ressource Zeit stets im Hinterkopf. “Das Malen ist ein Prozess, bei dem sich die Frage stellt, wie umfangreich eine Idee ausgearbeitet werden kann. Nehmen wir die abgespeckte Variante Tretboot, wenn es beispielsweise wichtig ist, Infos schnell zu bringen, oder entscheiden wir uns für die Variante Rennwagen, für die wir uns dann auch Zeit nehmen können?” Nach viel Skizzieren und Diskutieren entwickelte das Team etwa eine Grafik zu Abschiebeflügen, die sich dem Leser nicht als schnödes Balkendiagramm präsentiert, sondern als ein Flugzeug mit Sitzplatzverteilung.
Dass er bei der Arbeit immer wieder zwischen solch aufwendigen Vorhaben und unvorhergesehenen Ereignissen hin- und herpendeln muss, stört Venohr nicht. Es schlafe auch nicht alle Arbeit an großen Projekten zwischendurch gänzlich ein, sondern sie gehe im Hintergrund weiter. “Im Zweifelsfall müssen Prioritäten abgewogen werden und dann wird das Projekt geschoben”, sagt er. Das sei meist auch problemlos möglich, da die eher aufwendigen Projekte in der Regel zeitloser seien als eine Meldung über einen Flugzeugabsturz. Zudem seien manche Datenrecherchen ohnehin mit langen Wartezeiten verbunden, wenn Daten etwa nur über einen Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz zu bekommen sind.
Wenn’s mal länger dauern darf: Daten selbst erheben
Manche Projekte ziehen sich auch allein deshalb in die Länge, da Daten nur in schwer zu verarbeitenden Formaten vorliegen, etwa als PDF-Datei, oder erst mühsam erhoben werden müssen. So führten Venohr und sein Team etliche Einzelfallgespräche mit Staatsanwaltschaften und Polizeidienststellen, um die Aufklärungsrate bei Angriffen auf Flüchtlingsheime zu ermitteln. “Uns war von vornherein klar, dass da ein etwas größerer Rechercheaufwand hinter steht. Wir wollten nicht nur zeigen, wo diese Angriffe stattgefunden haben – das lässt sich relativ schnell machen – sondern haben es uns zum Ziel gemacht, den Ermittlungsstand jedes einzelnen Falles zu überprüfen.”
Datenjournalismus werde zu oft nur an großen Leuchtturmprojekten gemessen, findet Sascha Venohr. Ihm macht beides Spaß, sowohl das schnelle Arbeiten, als auch das lange Tüfteln an größeren Projekten. “Wenn man merkt, dass man im Newsroom wirklich helfen kann, da sind die Kollegen immer sehr dankbar und begeistert wenn man auch kleinere Informationen auf Basis der eigenen Recherchemöglichkeiten beisteuern kann. Und dann fiebert man ja als Journalist bei besonderen Nachrichtenlagen auch mit”, erklärt er lächelnd. Und so balanciert er erfolgreich zwischen blitzschneller Recherche und behäbiger Datensuche, zwischen fertigen Werkzeugen und ausgefeilten Tüfteleien.