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Foto: Wulf Rohwedder

Rede von Olaf Scholz, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, auf der nr-Jahreskonferenz am 8. Juli 2016

Sehr geehrter Herr Dündar,
Herr Präsident,
sehr geehrter Herr Marmor,
sehr geehrte Frau Stein,
sehr geehrte Damen und Herren,

schön, dass Sie sich auch in diesem Jahr wieder hier in Hamburg treffen. Die Jahreskonferenz des Netzwerks ist ja mittlerweile zu einer guten Tradition geworden, die hervorragend hierher passt. Schließlich hat Journalismus in der Medienstadt Hamburg nicht nur eine große Tradition, sondern auch eine spannende Gegenwart und eine viel versprechende Zukunft.

Ich bin gebeten worden, an dieser Stelle einmal in etwas grundsätzlicher Form meine Sicht auf „die“ Medien darzulegen.

Nach dem Willen des Netzwerks Recherche soll ich Ihnen dabei auch kritisch den Spiegel vorzuhalten. Da es sich üblicherweise andersherum verhält, ist das für einen Politiker eigentlich eine ganz schöne Abwechslung.

Nur: Wer mich kennt, der weiß, dass ich bei Schuldzuweisungen eher zurückhaltend bin. Es gehört jedenfalls nicht zu meinem beruflichen Selbstverständnis, Journalisten zu sagen, was sie alles falsch machen. Damit sind manche meiner Kolleginnen und Kollegen schnell zur Hand – und machen es sich meines Erachtens damit oftmals etwas zu leicht.

Denn die Aufgabe, tagtäglich durch Recherche und Berichterstattung gesellschaftliche Öffentlichkeit herzustellen, ist ebenso schwierig wie die Formulierung gesellschaftlich verbindlicher Regeln. Beide – Journalismus und Politik – sind unerlässlich, wenn es in einer modernen Gesellschaft darum geht, Zusammenhang und Zusammenhalt zu gewährleisten. Gerade weil beide aber so bedeutsam sind, müssen Sie sich auch der kritischen Auseinandersetzung und Bewertung stellen, um noch besser werden zu können.

Üblicherweise ist Kritik schließlich das einzig probate Mittel der Qualitätssicherung. Politik und Medien sind da keine Ausnahme.

Und ich unterstelle, dass die meiste Kritik an journalistischen Leistungen in unserer Gesellschaft eigentlich eine wohlwollende ist, die dafür sorgen will, dass künftig noch gründlicher recherchiert oder sorgfältiger geschrieben wird:

Die Klagen über den Negativismus etwa, über ein gewisses Herdenverhalten oder über den manchmal etwas vorschnellen Hang zur Skandalisierung zum Beispiel eint meistens die Sorge, dass journalistische Produkte nicht mehr die Relevanz zugesprochen bekommen, die Ihnen zustünde. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass uns das nicht passiert.

Aber so wohlmeinend ist es leider nicht immer: Neben dieser konstruktiven Kritik erleben wir in wachsendem Maße eine pauschal vereinfachende und denunzierende Kritik an „den“ Medien, die nicht mehr mit vernünftigen Argumenten vorgetragen wird und die sich aus Unverständnis, Ängsten, Verachtung und sogar Hass speist.

 

Meine Damen und Herren,

über beide Formen der Medienkritik ist bereits viel geschrieben und diskutiert worden, zuletzt etwa von Uwe Krüger in seinem Buch „Mainstream“. Und auch zu Pegida und den „Lügenpresse“-Schreihälsen ist reichlich Ursachenforschung betrieben worden.

Wenn also hinreichend viele Diagnosen gestellt wurden, warum wird dann nicht endlich mit der Therapie begonnen?

Doch das ist wahrlich nicht trivial: Im Zuge der digitalen Transformation wandeln sich in den Redaktionen die Arbeitsabläufe und Produktionsbedingungen – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Diese Veränderungen haben zum Ziel, mediale Geschäftsmodelle so zu verändern, dass die Refinanzierung von Journalismus auch künftig noch möglich ist. Das klingt so technisch, ist aber die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass wir auch in Zukunft die Leistungen eines unabhängigen Journalismus in unserer Demokratie voraussetzen können.

Mich macht allerdings nach wie vor stutzig, dass die intensive Beschäftigung mit neuen technischen Optionen und gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen keine gleichermaßen intensive Debatte über die Mechanismen journalistischer Darstellung nach sich zieht.

Warum ändert die jahrelange Kritik und Selbstkritik nichts an der Art und Weise, wie Journalisten mitunter Themen auswählen, zuspitzen und personalisieren?

Auf den Jahreskonferenzen hier in Lokstedt erlebt man dieses produktive Hinterfragen des eigenen Tuns zwar sehr intensiv. Aber das Netzwerk Recherche ist da derzeit leider allzu oft immer noch eine verdienstvolle Ausnahme, deren Maßstäbe sich nicht überall einfach unterstellen lassen.

 

Meine Damen und Herren,

es geht nicht darum, sich von Hasskommentaren, Schmähbriefen und Anfeindungen auf offener Straße einschüchtern zu lassen. Sondern darum, die eigene Leistung gegen derartige Übergriff selbstbewusst zu verteidigen.

Ich glaube im Übrigen, dass es hier nicht um einen Verfall kommunikativer Sitten geht, sondern um eine Infragestellung der vorherrschenden politischen Kultur, die eben nicht nur die Medien trifft, sondern alle öffentlichen Institutionen gleichermaßen.

Hochwertige journalistische Arbeit leistet hier aber einen entscheidenden Beitrag zu einer demokratischen Öffentlichkeit, in der sich Entscheidungsträger verantworten müssen und in der ein sachlicher Wettstreit um das beste Argument stattfindet.

Ich beobachte mit einiger Sorge, wie in einer ganzen Reihe von Ländern diese demokratische Öffentlichkeit erodiert und dass es uns gemeinsam nicht immer überzeugend gelingt, dem etwas entgegenzusetzen.

Zumindest in der westlichen Welt war es lange eine Selbstverständlichkeit, dass gewählte Politiker einen Ausgleich zwischen widerstreitenden Positionen in gesellschaftlichen Fragen suchen. Und Journalisten hatten ebenso selbstverständlich die Rolle inne, öffentliche Gespräche zwischen den Kontrahenten zu ermöglichen. Was so banal klingt, gilt nicht mehr einfach so.

Deshalb haben wir gemeinsam eine Menge an Arbeit vor uns:

Dazu gehört eine ehrliche und ernstgemeinte Sensibilität für berechtigte und konstruktive Kritik. Natürlich können Ratschläge manches Mal auch einfach nur Schläge sein. Oft aber lohnt es sich auch, sich mit Ihnen auseinanderzusetzen und das eigene Tun zu verbessern. Auch Journalismus braucht den reflektierenden Spiegel, um sich selbst besser erkennen zu können.

Leider hat die journalistische Gesellschaftsbeobachtung allzu oft einen blinden Fleck, wenn es um die eigenen Leistungen geht. Es wäre gut, wenn sich das änderte: Wir brauchen guten Journalismus dringender denn je, und besser wird Journalismus nur, wenn er sich reflektiert und daraus lernt.

Zu den vor uns liegenden Aufgaben gehört außerdem, dass Politik und Medien dem Angriff auf unsere politische Kultur gemeinsam begegnen müssen. Journalisten sollen natürlich weiterhin das Handeln von Politikern kritisch begleiten, in mancherlei Hinsicht vielleicht sogar noch kritischer als bislang. Aber schon in der erfolgreichen gemeinsamen Bewältigung dieses kritischen Wechselspiels, in dem Sie die wichtige Rolle der sogenannten vierten Gewalt ausfüllen, tragen wir gemeinsam auch eine Verantwortung für das demokratische Gemeinwesen.

Wer Verantwortung für eine Sache trägt, besitzt üblicherweise auch die Möglichkeit, etwas verändern zu können. Ich empfinde es manchmal als einen etwas sonderbaren Widerspruch, dass unverändert von der Macht der Medien die Rede ist, dass sich aber gerade Vertreterinnen und Vertreter eben dieser Medien bisweilen als Opfer herrschender Umstände sehen. Sie haben erstaunlich selten das Gefühl, etwas bewegen zu können. Schlimmstenfalls werden aus ihnen in der Folge Zyniker, die der politischen Kultur eher schaden als nutzen. Auch bei Politikerinnen und Politikern lässt sich dieses Phänomen beobachten.

Die Vorstellungen von der Macht der Medien sind sicherlich häufig übertrieben. In ganz ähnlicher Weise sind übrigens manche Erwartungen in die Problemlösungsfähigkeit des politischen Betriebs überzogen. Leider auch, weil manche Politiker gern Chancen zu schnellen Veränderungen suggerieren, die faktisch in einem demokratischen System nicht gegeben sind.

Trotzdem haben wir, die Politiker, und Sie, die Journalisten, natürlich einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklungen in unserem Land. Und so müssen wir uns immer wieder selbst fragen, ob wir der mit diesen Einflussmöglichkeiten verbundenen Verantwortung auch gerecht werden.

Medien und Politik haben Macht, wenn sie überzeugen. Letzten Endes leben wir von dem, was Jürgen Habermas den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ nennt. Er ist die Hauptquelle unserer Macht und die Grundlage aller weiteren Gestaltungsmöglichkeiten. In der Politik kommt die Legitimation durch Wahlen und Volksabstimmungen hinzu. Aber bei gelingender Kommunikation fängt alles an und kann auch alles beendet sein.

Wenn die Bürgerinnen und Bürger meine Argumente nicht mehr hören wollen, dann wählen sie nicht mehr. Und wer Ihre journalistischen Texte oder Filme nicht mehr als wichtig, nachvollziehbar oder nützlich erachtet, sucht sich Alternativen, die vielleicht nicht mehr aus einer Redaktion stammen.

Bezogen auf die nötige Verantwortung für das demokratische Gemeinwesen kann das einen ziemlichen Spagat bedeuten: Was tun, wenn man sachlich von einer politischen Position überzeugt ist, aber weiß, dass große Teile der Bevölkerung oder der medialen Konkurrenz diese Position ablehnen?

Hier ist Überzeugung gefragt. Sie ist unerlässlich, weil nur sie dazu führt, dass sich auch langfristiges Vertrauen aufbauen kann. Das erreiche ich nicht durch möglichst große und opportunistische Flexibilität meiner Standpunkte.

Ich weiß sehr gut, dass man eine Haltung leicht einfordern kann, es aber mitunter verdammt schwer ist, sie auch durchzuhalten.

Mediale Verantwortung für die Gesellschaft bedeutet für mich demnach dreierlei.

Erstens müssen Medien gesellschaftliche Diskurse zwischen allen demokratischen Stimmen ermöglichen. Der Vorwurf der „Meinungsdiktatur“ ist absurd und oft ideologisch motiviert. Gleichwohl decken die veröffentlichten Meinungen nicht immer die Vielfalt an Positionen ab, die in den demokratisch gesinnten Teilen der Gesellschaft bestehen. Das gilt insbesondere bei Themen, die das Selbstverständnis und die Werte unserer Gesellschaft betreffen.

In der Folge ziehen sich manche Bürger in virtuelle Teilöffentlichkeiten zurück, in denen sie sich in ihren Auffassungen gegenseitig spiegeln und mitunter radikalisieren. Hinzukommt, dass Medien wesentlichen Einfluss darauf haben, wie sich Politiker äußern. Wenn jede pointierte Äußerung skandalisiert oder zum innerparteilichen Streit aufgebauscht wird, dann reden Politiker öffentlich eben noch häufiger phrasenhaft, langweilig und harmlos. Das, was sie dann sagen, hat mit der Lebenswirklichkeit vieler Bürgerinnen und Bürger dann nicht mehr viel zu tun.

Mediale Verantwortung für die Gesellschaft bedeutet zweitens, keine Agitation zu betreiben und unerwünschte Personen oder Zustände wegschreiben zu wollen, sondern mit Sachargumenten zu überzeugen und eine mit Tatsachen begründete Haltung einzunehmen und zu verteidigen. Dazu gehört auch, immer wieder den Wert von Kompromissen hervorzuheben und der kampagnenhaften Zuspitzung zu widerstehen.

Und drittens bedeutet diese Verantwortung, sich einzumischen. Journalisten können in diesem Sinne nicht mehr nur Vermittler und Kommentatoren sein. Sie sollten auch in anderen Kontexten als der eigenen Zeitung oder Sendung das Gespräch suchen. Pegida-Demonstrationen sind dafür vielleicht nicht ganz der richtige Ort. Ein hoffnungsvoller stimmendes Beispiel haben aber zuletzt einige Journalisten abgegeben, die die Autoren von Hasskommentaren identifiziert und aufgesucht haben. Konfrontiert mit einem sachlich fragenden und argumentierenden Medienvertreter und ohne grölende Mitstreiter, vollzog sich bei vielen Befragten ein erstaunlicher Wandel: Es wurde differenziert, relativiert – und vor allem: zugehört. Manch einer ließ sich tatsächlich noch mit Argumenten erreichen. Und so auch wieder in das gesellschaftliche Gespräch einbeziehen, das den Kern des Journalismus bildet.

Wir werden nicht mit jedem in diesem Land mit sachlichen Argumenten in einen Austausch kommen. Aber wir sollten versuchen, das vernünftige Gespräch möglichst oft zu führen. Denn genau das macht eine demokratische Debattenkultur aus.

 

Meine Damen und Herren,

zu meinem Rollenbild journalistischen Handelns gehört neben der Herstellung von Öffentlichkeit und Förderung des demokratischen Diskurses auch die Fokussierung auf das Wichtige und Richtige. Ich möchte hier keine erkenntnistheoretischen Überlegungen über die Existenz der Wahrheit und die Chancen ihrer Enthüllung anstellen. Ich möchte an dieser Stelle nur feststellen, dass wachsende Teile Ihres Publikums die Auffassung gewinnen, Journalismus sei heutzutage eigentlich überflüssig.

Dass eben diese äußerst medienkritischen Bürgerinnen und Bürger zugleich fragwürdigsten Internetquellen oder autokratischen Politikern mit grenzenloser Leichtgläubigkeit gegenübertreten, ist ohne Zuhilfenahme psychologischer Basistheorien schwerlich zu erklären. Spätestens die gewaltigen Recherche-Leistungen zu den Panama-Papers sollten eigentlich jedermann den Stellenwert redaktioneller Tätigkeit klar vor Augen führen.

Wachsende Teile der Gesellschaft halten den Verzicht auf sogenannte „Mainstream“-Medien für einen Akt informationeller Souveränität. Zugleich emanzipieren sie sich von einer durch Tatsachen begründeten Weltsicht.

Für eine moderne offene Gesellschaft ist das eine fatale Entwicklung. Zwar steht auch in Zeitungen mitunter viel Unzutreffendes. Trotzdem sind Redaktionen Wahrheitssuchmaschinen, und zwar mit beachtlichen Trefferquoten. Sie bieten damit den sichersten Boden unter den Füßen für jeden, der sich informieren möchte.

Daher appelliere ich an Sie: Lassen Sie nicht nach in Ihren Anstrengungen im Kampf um die Wahrheit. Stellen Sie Ihre Aufklärungsleistungen noch deutlicher heraus. Seien Sie mit uns Politikern hart, aber fair. Gerne auch mit digitaler Unterstützung. Ich fände einen Echtzeit-Faktencheck jedenfalls eine wunderbare Sache.

Er würde Journalismus und Politik auf ihren gemeinsamen Kern zurückführen: „Sagen was ist“ – ein Satz, der gleichermaßen Ferdinand Lassalle und Rudolf Augstein zugeschrieben wird. Nicht die schlechtesten Leitfiguren…

 

Schönen Dank!