Panel „Im Reich des Todes” – Die Recherchen des Leuchtturm-Preisträgers 2013 mit Michael Obert und Moderatorin Katharina Finke (Foto: Sebastian Stahlke)

Michael Obert hat mit Folterern in Ägypten und Terroristen von Boko Haram in Nigeria gesprochen. Seine Reportagen sind preisgekrönt, vor kurzem feierte er sein Regiedebüt. Ein Porträt über einen Mann, der schon komplett in einer anderen Welt eingetaucht war und erst spät seine wahre Profession gefunden hat.

Es ist ein Schlag ins Gesicht gewesen und ein harter Bruch. So beschreibt Michael Obert das Aufwachen eines Morgens in Paris im Jahr 1993.

Er hatte das, wovon viele Betriebswirte träumen: einen gutbezahlten Job, Dienstwohnung und Dienstwagen – das Leben eines erfolgreichen Managers. Doch dann kam die traumatische Erfahrung, in der Michael Obert realisierte, dass er ein interessenloser Mensch war, der mehr in seinen Beruf rein gerutscht war, als ihn zu wählen. Statt wieder jeden Tag ins Büro zu fahren, buchte er sich ein Flugticket nach Südamerika. Zwei Jahre lang tourte er durch den Kontinent und erkannte dort, was er wirklich wollte: Geschichten erzählen.

Obert kehrte zurück mit Notizblöcken voller Erlebnisse, Erzählungen und Anekdoten. Diese Zeit nennt der 48-jährige gebürtige Breisgauer seine Neugeburt: „Ich wusste genau, dass eine Reise zu Ende ist und eine neue beginnt.“

Heute ist Obert international bekannt für seine Texte. Er schreibt unter anderem für das Magazin der Süddeutschen Zeitung, die Zeit und das Zeit Magazin. Für „Im Reich des Todes“ erhielt er 2013 den Leuchtturm-Preis für außergewöhnliche publizistische Leistungen. In der Reportage erzählen er und der Fotograf Moises Saman die Geschichte von Folter-Camps auf der Sinai-Halbinsel, in denen Flüchtlinge gequält werden, um von den Familien Lösegeld zu erpressen. Obert geht dorthin, wo viele andere sich nicht hin trauen.

Neben den Reportagen hat er bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht. Das Bekannteste ist „Regenzauber“, in dem er von seiner siebenmonatige Reise von der Quelle bis zur Mündung des Niger in Westafrika schreibt. Auch als Regisseur ist er tätig. Sein Debüt „Song From the Forest“ erzählt die Geschichte des U.S.-Amerikaners Louis Sarno, der im Radio ein Gesangsstück von Pygmäen hörte und daraufhin in den Kongo zog. Seit 25 Jahren lebt Sarno nun dort bei Pygmäen. Obert begleitete ihn und dessen Sohn auf einer Reise nach New York. Bei dem International Documentary Film Festival in Amsterdam gewann er dafür den Preis in der Hauptkategorie „Best Feature-Length Documentary“.

Die Geschichten von Obert spielen sich in seinem Bauch ab, nicht im Kopf – und sie müssen ihn berühren. „Es kann passieren, dass ich von etwas höre und es erst mal nur abspeichere. Der entscheidende Schalter wird manchmal erst Monate oder Jahre später umgelegt“, sagt Obert. „Dann überlege ich mir: was will ich wissen und fange an zu suchen, ob es zu diesem Thema schon etwas gibt und telefoniere mit meinen Kontakten.“

In den 20 Jahren, die er in seinem zweiten Leben nun schon als Journalist arbeitet, hat er sich ein breites Recherchenetzwerk aufgebaut. Bei seinen zentralen Berichterstattungsgebieten Afrika, dem Nahen und Mittlerer Osten, sind mehrere Reisen im Vorfeld schlichtweg nicht umsetzbar. Obert legt viel Wert auf eine fundierte Vorarbeit. Genau wissen, was erzählt werden soll. Genau wissen, was eine Geschichte aus der Ferne mit dem Leben der Menschen hier zu tun hat. Genau wissen, wer einem hilft, um dorthin zu gelangen. Eine Reportage könne nur so gut werden, wie ihre Recherche, sagt er.

Wie weit er bei seinen durchaus gefährlichen Erkundungen gehen wird, weiß er im Vorfeld nie – aber er hat ein Gespür dafür entwickelt. „Das sind Erfahrungswerte, die ich bei all meinen Reisen gesammelt habe. Das hat nichts mit Journalismus zu tun, sondern ist einfach ein gutes, zuverlässiges und selbstbewusstes Gefühl für die eigenen Grenzen“, sagt Obert. In Afrika, wo er sich zu Hause fühlt, würde er fast alles machen. Im Nahen und mittleren Osten nicht.

Bei den Reportagen „Im Reich des Todes“ und  zu der afrikanischen Terror-Organisation Boko Haram stieß er an seine Grenzen. „Das war mein Limit, meine persönliche Grenze. Davon kann ich höchstens drei, vier pro Jahr machen. Man muss ja psychisch auch gesund bleiben und ich will nicht abstumpfen“, sagt der Journalist. „Diese Geschichten haben mich vor, während und auch noch lange nach der Arbeit beschäftigt.“

Nachdem Obert im Sinai mit Opfern und Tätern sprach, wurde er selbst hineingesogen. Die Folterpraktiken der auf der Halbinsel ansässigen Beduinen basieren darauf, Angehörige von Geiseln anzurufen, während diese gefoltert werden. Anschließend werden hohe Geldbeiträge eingefordert. Auch Obert bekam solch einen Anruf, aber die Leitung wurde getrennt – Obert konnte nichts tun.

„Aber diese Reportage hat eine Bombe platzen lassen, so etwas hilft auch Hilfsorganisationen“, sagt er. „Im Gegensatz zum bekannten Grundsatz finde ich, dass es auch für Journalisten sehr wohl Situationen gibt, in denen man sich mit einer Sache gemein machen muss. Ich bin immer erst Mensch, dann Journalist.“ Obert will Geschichten erzählen, die verändern, die Emotionen und ein Gefühl für Gerechtigkeit wecken – ohne zu instrumentalisieren.

Wenn er den Glauben an die Kraft seiner Texte verlieren würde, sagt Obert, müsse er aufhören. Im Journalismus vermisst er gegenwärtig eine positive Grundhaltung. Obert hat kaum Berufskollegen in seinem Freundeskreis und ist „schockiert“, wenn er auf Journalisten-Treffen die „finstere Stimmung“ (Obert) erlebt. Besonders für den Nachwuchs entwickle sich dadurch eine schlechte Dynamik. „Bei diesen Treffen wird Frustration injiziert.“ Auch deswegen will er Berufswerte wie Energie, Motivation und vor allem Neugier in seiner Tätigkeit als Dozent weitergeben. „In erster Linie“, sagt Michael Obert. „Bin ich immer noch ein Reisender, fasziniert von Geschichten.“