Zu schön, um wahr zu sein! Droht das Ende des Erzählens im Journalismus?
Von Nicole Friesenbichler
Bericht von der Tagung: Jetzt mal ehrlich! Was Journalismus aus den Täuschungsfällen lernen muss (29./30.11.2019, Tutzing)
Panel: Zu schön, um wahr zu sein! Droht das Ende des Erzählens im Journalismus?
Was haben Journalismus und Märchen gemeinsam? Bei beiden geht es ums Geschichtenerzählen. Aus diesem Grund eröffnete Anette Dowideit, Chefreporterin des Investigativteams der Welt das Panel zur Frage „Droht das Ende des Erzählens im Journalismus?“ mit der Einstiegsszene von Hänsel und Gretel der Gebrüder Grimm. Während Märchen fiktiv sind, sind journalistische Geschichten der Non-Fiction zuzuordnen. Zumindest galt dieses Prinzip bis zum 19. Dezember 2018, als die Fälscher-Affäre um den Ex-Spiegel-Redakteur Claas Relotius bekannt wurde.
Neue Strukturen beim Spiegel
„Relotius war ein Ausnahmefälscher, der bewusst und mit Vorsatz gefälscht hat“, sagte Susanne Amann, Managing Editor beim Spiegel und machte damit auch gleich zu Beginn klar, welche „Erschütterung“ der Fall in dem Medienhaus ausgelöst hat. Die Konsequenz: Die Struktur der Dokumentationsabteilung, die alle Artikel vor dem Erscheinen noch einmal auf ihre Richtigkeit prüfen soll, wurde inzwischen verändert. Bis der Skandal aufflog gab es für das Gesellschaftsressort, in dem Relotius gearbeitet hat, nur einen Dokumentar, der alle Themen abdeckte. „Das Gesellschaftsressort hat jetzt eine Ansprechpartnerin in der Dokumentation, die die Themen quasi direkt zu den verschiedenen Fachdokumentaren bringt“, erklärte Amann. Darüber hinaus würden die Gesellschaftsredakteure nun von Beginn der Recherche an von Fachdokumentaren betreut. Noch in Arbeit: Ein 75-seitiges Handbuch mit Richtlinien – vom Thema Compliance bis gendergerechte Sprache. Alle Spiegel-Autoren sollen das Buch bekommen. „Wir brauchen keine Leitlinien, um jemanden auf die Finger zu klopfen“, stellte Amann klar. Es gehe eher um eine Art Selbstvergewisserung.
Verdichtung ja, aber die Kernaussage muss stimmen
Ohne Verdichtung kommen Reportagen nicht aus. Das bestätigte Filmemacher Stephan Lamby, der bekannt ist für seine großen politischen Fernsehreportagen, zum Beispiel über Angela Merkel oder zu komplexen Themen wie die Finanzkrise. „Bei Dokumentarfilmen haben wir etwa hundert Stunden Material. Da müssen wir verdichten.“ Die Herausforderung sei es, bei dieser Verdichtung nicht zu manipulieren, sondern die Kernaussage herauszuarbeiten. Konstantin Richter, Romanautor und Journalist in einer Person, plädierte dafür, dass es im Journalismus nicht primär um das Erzählen gehen sollte. Das habe er sich aus seiner Zeit in den USA bewahrt, wo er an der Columbia University Journalismus studierte und anschließend für die Columbia Journalism Review schrieb. „Ich habe da eine Art zu erzählen gelernt, die sehr, sehr eingeschränkt war.“ Viele Dinge, die in deutschen Reportagen gang und gäbe seien, wären im amerikanischen Journalismus ein No-Go. Beispielsweise könne man in einer Reportage nicht schreiben, man hätte sich im Ort umgehört. „Im Amerikanischen muss man ganz klar benennen, mit wem man gesprochen hat.“ Beschreibungen sollten sich zudem auf das Äußere beschränken und die Meinung des Autors dürfe nicht zutage treten. „Der Journalist ist kein Künstler, sondern eine Art Dienstleister“, erläuterte Richter. Erzählmittel wie Personalisierung und Anekdoten würden nur dazu dienen, Informationen zu veranschaulichen.
Transparente Recherchewege
Katrin Langhans, die als eine von zwei Frauen als Redakteurin im Investigativ-Team der Süddeutschen Zeitung arbeitet, betonte auf dem Podium, dass journalistische Erzählungen auf fundierten Recherchen beruhen sollten. „Ich glaube, dass wir zum Teil mehr erklären müssen, wie Recherchen entstanden sind.“ Tools wie Infokästen, die die Recherchewege beschreiben, würden den Leser*innen zeigen, dass sich ein Medium wirklich Mühe gemacht hat. „Ich bin ein großer Fan von Podcasts. Das kann eine super Möglichkeit sein, um den Leser an die Hand zu nehmen und die Recherche nachzuerzählen.“ Vor allem die junge Generation, die nicht unbedingt zu den Print-Stammkunden gehört, könne man darüber erreichen.
Plädoyer für neue Erzählformen
Das journalistische Erzählen sei auch nach dem Fall Relotius nicht vorbei, es müsse sich aber verändern – darüber waren sich alle Diskussionsteilnehmer*innen einig. „Es gibt gewisse Fehlentwicklungen beim Fernsehen“, kritisierte Stephan Lamby. „Der Markt entwickelt sich immer stärker zu einem formatierten Erzählen.“ Er empfinde ein wachsendes Unbehagen, wenn man versuche, „die Realität immer wieder in dieselben Gefäße zu pressen“. Durch neue Player wie Netflix sieht Lamby eine Chance, weil sie „neue Formen des Erzählens ermöglichen, die sich nicht in klassische Formate pressen lassen“. Er hoffe, dass eine bestimmte Art des Erzählens beim Fernsehen ausläuft, wie beispielsweise in Scripted-Reality-Sendungen, in denen Protagonist*innen ihre eigene Geschichte nachspielen sollen. „Es muss nicht immer alles gleich erzählt werden.“ Auch Erfolg oder Misserfolg sollten aus seiner Sicht nicht nur an den Einschaltquoten gemessen werden. Heutzutage gäbe es andere Feedbackkanäle via Twitter und Co.
Mehr Demut und weniger Drehbuch
Dass die Zeit der vereinfachten Schwarzweiß-Erzählung vorbei ist, bestätigte auch Susanne Amann vom Spiegel. Es gebe keine klare Dramaturgie mehr, in der es den einen Helden und den einen Schurken gibt. „Ich glaube, da müssen wir ein bisschen demütiger werden. Unsere Leser*innen sind klug genug, um zu wissen, dass die Welt nicht so einfach ist.“ Der neue Ansatz: „Dass wir uns als Autor*innen zurücknehmen, ein bisschen in den Hintergrund treten und dafür genauer hinhören, was die Leute uns erzählen und was sie wirklich bewegt – ohne Drehbuch im Kopf. So, dass wir relativ ergebnisoffen und neugierig hinausgehen.“ Im digitalen Journalismus sieht Amann die Chance, anders und neu zu erzählen als bisher – vom Video bis zu animierten Grafiken. „Das ist eine große Spielwiese, die wir noch viel zu wenig nutzen.“
Transparente Formen des Erzählens
„Ich glaube, dass Journalisten manchmal mehr in unterschiedlichen Erzählformen und weniger in Schablonen denken müssen“, konstatierte auch Katrin Langhans von der Süddeutschen Zeitung. Bei der „Implant Files“-Recherche beispielsweise, die aufdeckte, dass fehlerhafte Implantate und andere Medizinprodukte für etliche Todesfälle verantwortlich sind, baute die SZ unter anderem Kurzprotokolle ein. Darüber hinaus gab es neben Reportagen und Features auch eine Zusammenstellung häufig gestellter Fragen mit entsprechenden Antworten (FAQ). „Ich glaube, dass wir Protagonist*innen oft zu wenig zu Wort kommen lassen und in Zukunft in kreativeren Formen denken sollten.“ Oral History beispielsweise – eine Methode der Geschichtswissenschaft, Zeitzeug*innen möglichst frei aus ihrem Leben erzählen zu lassen, sodass sie selbst entscheiden können, was sie für wichtig halten – sei ein gutes Beispiel für eine andere Form des Erzählens. Laut Langhans ist es schade, dass die Reportage noch immer als die Königsdisziplin gelte und dass die meisten jungen Journalist*innen am liebsten „Schönschreiber“ werden wollen. „Da haben wir als Branche auch eine gewisse Verantwortung, den Nachwuchs darauf zurückzubesinnen, dass es im Journalismus auch darum geht, Inhalte in einer richtigen, guten Form zu erzählen.“
Von der These, dass Journalismus durch gutes, anschauliches Erzählen mehr Leser*innen gewinnen könne, hält Konstantin Richter wenig. Untersuchungen würden zeigen, dass das eine untergeordnete Rolle spiele. Es gebe Messungen, welche Artikel Leser*innen veranlassen würden, Abos abzuschließen. „Die Ergebnisse sind oft nicht das, was sich die Redaktionen erhoffen oder erwarten.“ Die Reaktionen der Leser mehr zu berücksichtigen sieht Richter als Chance für einen Veränderungsprozess im Journalismus. „Für die Zukunft muss man überlegen, wie sich der Journalismus neu aufstellt, um Leser anzusprechen.“