Autor: Nils Hanson
Recherchen müssen wasserdicht sein – und dafür brauchen Journalist:innen mehr als nur korrekte Fakten. Investigative Geschichten erfordern eine nahezu akribische Herangehensweise. In diesem Artikel gibt die Redaktion von Uppdrag Granskning (Mission Investigate), einem investigativen TV-Format des öffentlich-rechtlichen schwedischen Senders SVT, Tipps und erklärt ihre Arbeitsweisen. Mission Investigate hat zahlreiche international preisgekrönte Reportagen ausgestrahlt, u.a. zu organisierter Kriminalität, der katholischen Kirche und den Vereinten Nationen.
Illustration: Marcelle Louw für GIJNDie drei Checkpoints
Warum Checkpoints? Auf den ersten Blick mag das unnötig bürokratisch erscheinen, aber die Arbeit nicht zu formalisieren und strukturieren, birgt das Risiko, dass notwendige Arbeitsschritte schlicht nicht erledigt werden. Wenn man bedenkt, was bei Investigativ-Recherchen oft auf dem Spiel steht, ist der Mehraufwand gerechtfertigt. Der zusätzliche Zeitaufwand – ein paar Meetings, die selten länger als eine Stunde dauern und eine Fact-Checking-Session, die bis zu einem Tag dauern kann – sollte weder Redaktionen noch Investigativ-Reporter:innen oder Freiberufler:innen abschrecken. Die Belohnung ist schließlich Seelenfrieden, sobald die Veröffentlichung näher rückt.
Checkpoint Nr. 1: Das Auftakttreffen
Nach der Vorrecherche sind erst mal die Kolleg:innen an der Reihe, der Story auf den Zahn zu fühlen: Ist die zentrale Hypothese – was muss warum genauer untersucht werden – stichhaltig? Was spricht gegen die Hypothese? Was spricht dafür? Darum dreht sich alles beim Auftakttreffen, an dessen Ende entschieden wird, ob sich das Projekt lohnt oder nicht.
Da Journalist:innen durchaus dazu neigen, problematische Aspekte zu vernachlässigen, ist ein:e Gegenspieler:in mit gegenteiligen Ansichten gefragt: der Advocatus Diaboli bzw. Anwalt des Teufels. Diese Rolle übernimmt am besten jemand, die oder der bereit ist, die Kolleg:innen herauszufordern. Dafür ist eine akribische Vorbereitung unerlässlich, denn der Advocatus Diaboli wird bis zum Schluss ein entscheidender Teil der Qualitätskontrolle sein.
Diese Methode des (über-)kritischen Hinterfragens kann durchaus zu Spannungen im Team führen. Deswegen sollten sich alle Beteiligten stets vergegenwärtigen, dass auch der Advocatus Diaboli nur im Sinne einer möglichst wasserdichten Story handelt.
Die Rechenschaftspflicht ist ein ebenso wesentlicher Punkt auf der Checkliste des ersten Treffens. Legt fest, wann und wie die Person(en), um die es bei der Recherche geht, kontaktiert werden. Wir machen das so früh wie möglich. Zum einen, um sicherzustellen, dass wir eine richtige Story haben, zum anderen gebietet es die Fairness. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, etwa in repressiven Ländern, wo man mit der Kontaktaufnahme mitunter bis kurz vor der Veröffentlichung warten muss.
Checkpoint Nr. 2: Das Halbzeittreffen
Nachdem der erste Entwurf der Geschichte steht, geht es bei diesem Treffen darum, Qualitätsfragen zu diskutieren. Noch ist nämlich ausreichend Zeit für grundlegende Änderungen.
Diese Aspekte sind nun besonders wichtig:
- Schlussfolgerungen: Konnte die Hypothese bewiesen oder muss sie verändert werden? Lassen sich die Rechercheergebnisse in Frage stellen oder gar widerlegen? Können alle anderen Erklärungsansätze ausgeschlossen werden?
- Rechenschaftspflicht: Sind wir so fair wie möglich? Gibt es mildernde Umstände für bestimmte Dinge?
- Das große Ganze: Fehlen konkrete Aspekte oder wirkt etwas fehl am Platz? Stellen wir die Dinge zu schwarz-weiß und nicht nuanciert genug dar?
Man kann über wahre Fakten berichten, ohne dabei die (ganze) Wahrheit zu erzählen. Leider neigen Journalist:innen häufig zum sogenannten Confirmation Bias: Sie bevorzugen Informationen, die ihre Thesen stützen – und vernachlässigen widersprüchliche Fakten. Das kann dazu führen, dass relevante kritische Fakten fehlen und die Recherche in eine falsche Richtung führt.
Nur wer die Geschichte recherchiert und schreibt, hat vollen Einblick, welche Fakten letztlich veröffentlicht werden. Die folgenden Fragen – und die ehrlichen Antworten darauf – solltest du dir bei jeder Recherche stellen:
- Würden andere Fakten das Gesamtbild der Recherche verändern?
- Wäre die Öffentlichkeit enttäuscht, wenn sie wüsste, welche Aspekte wir auslassen?
- Können wir die Auswahl rechtfertigen, ohne dabei an Glaubwürdigkeit einzubüßen?
Auch diese beiden Aspekte sollten immer geprüft werden:
- Quellen: Sind sie vertrauenswürdig? Stelle ich ihnen die relevanten kritischen Fragen? Habe ich die nötige Hintergrundprüfung durchgeführt?
- Expert:innen: Sind sie repräsentativ? Habe ich sichergestellt, dass diese Person vertrauenswürdig ist und auch aktuell noch in ihrem Fachgebiet arbeitet?
Checkpoint Nr. 3: Der Faktencheck
Bevor wir die Fakten Zeile für Zeile überprüfen, brauchen wir eine Antwort auf die erwartbaren Vorwürfe der Person, um die es in der Recherche geht. Diese Person weiß nämlich in der Regel mehr über ihr Fehlverhalten als alle anderen (einschließlich der Journalist:innen).
Selbst wenn du die Hauptperson der Geschichte in ein schlechtes Licht rückst, haben du und der Gegenstand der Untersuchung mindestens eine Sache gemeinsam: Die Fakten müssen stimmen, wenn sie veröffentlicht werden sollen. Selbst wenn die betroffene Person ein Interview ablehnt, sollte sie die Gelegenheit bekommen, zu der Recherche Stellung zu beziehen.
Zugegeben: Es erfordert viel Offenheit, die untersuchte Person detailliert über die Vorwürfe zu informieren. In einigen Fällen kann es jedoch sogar notwendig sein, ihnen vorab den Wortlaut der Story zu zeigen. Dabei solltest du jedoch niemals Informationen preisgeben, die Rückschlüsse auf Quellen zulassen.
Neben der Überprüfung der Fakten durch die „wahren Expert:innen“ (die Person(en), um die es geht) gibt es noch weitere Vorteile: Du bekommst Zeit und Gelegenheit, bestimmte Zusammenhänge zu prüfen und im Optimalfall neue Informationen zu erhalten, um mögliche Lücken in der Berichterstattung zu schließen. Außerdem ist eine (erste) Stellungnahme vor der Veröffentlichung besser als danach.
Selbstverständlich gibt es Fälle, in denen diese transparente Methode nicht funktioniert, etwa wenn bei Recherchen zu gewalttätigen Gruppierungen oder autoritären Regimen. Diese Szenarien erfordern einen anderen Ansatz, wie im GIJN-Artikel Tips for the No Surprises Letter (auf Englisch) beschrieben. Der Umgang mit potenziell gefährlichen Personen mindert jedoch nicht die Notwendigkeit, sorgfältig und fair zu arbeiten – ganz im Gegenteil.
Foto: @wocintechchat // Unsplash LicenceNun aber zum zeilenweisen Faktencheck
Das Prinzip ist simpel. Jede überprüfbare Information in deiner Geschichte sollte mit einer Quelle belegt werden können. Deswegen sollte das mit genügend Vorlaufzeit vor der Veröffentlichung erfolgen, sodass dem Advocatus Diaboli hier eine besonders zentrale Rolle zukommt.
Um diesen Prozess so effektiv und zielführend wie möglich zu gestalten, sollten die Fact-Checker:innen Zugang zu den Recherchedokumente haben. Um den Überblick zu behalten, eignen sich zum Beispiel Fußnoten mit Links am Ende jedes Abschnitts oder jeder Manuskriptseite.
Der Faktencheck erfordert volle Aufmerksamkeit. Es kann schwierig sein, einen ganzen Tag lang den Überblick zu behalten. Daher beginnt ihr am besten mit den zentralen und besonders heiklen Fragen. Es gibt in jeder Geschichte etwas, was in Frage gestellt werden kann. Konzentriere dich zuerst auf das Wesentliche, bevor du dich noch in Details verliert.
Vergiss nicht, zu überprüfen, ob alle Schlussfolgerungen im Text nachvollziehbar begründet sind. Wo können sie geschärft, wo sollten sie möglicherweise abgeschwächt werden?
Wenn es sich um eine besonders komplexe Geschichte handelt, sollte den Kolleg:innen vorab das Recherchematerial bereitgestellt werden. Manchmal ist das leichter gesagt als getan. Beispielsweise, wenn Fakten auf komplexen Datensätzen oder Zahlen aus Finanzberichten beruhen. In solchen Fällen kann es erforderlich sein, das zeilenweise Fact-Checking mit eine:r Expert:in vorab durchzuführen. Manchmal lassen sich Expert:innen auch Pro-Bono, also zum Wohle der Öffentlichkeit, zum Faktencheck oder Überarbeitung der Methodik gewinnen.
Weitere wichtige Fragen sind:
- Ist die Story fair und geht sie auf Gegenargumente ein?
- Gibt es auf alle zu erwartenden Vorwürfe eine Antwort? Hier kann es helfen, alle Interview-Transkripte noch einmal ganz genau anzuschauen.
- Sind alle negativen Details zur zentralen Person der Recherche wirklich notwendig? Gibt es eventuell mildernde Umstände für bestimmte Aspekte?
Bei dem zeilenweisen Faktencheck muss wirklich alles geprüft werden, ganz egal, wie offensichtlich ein Fakt auch erscheinen mag. Schon der kleinste Fehler kann von der Gegenseite ausgenutzt werden. Die Aussage „Ich weiß, dass das so ist“ gilt nicht.
Abschließend sollten noch einmal Namen, Titel, Daten, Zahlen und alles andere, was überprüft werden kann, wirklich gecheckt werden. Das gilt auch für Zitate. Wenn ein:e Interviewpartner:in sich irrt, solltest du das wissen.
10 Tipps zum Faktencheck
- Originaldokumente verwenden: Wenn die Möglichkeit besteht, Dokumente aus erster Hand zu erhalten, sollte nichts anderes akzeptiert werden.
- Vor dem Zitieren prüfen: Verlass dich nicht auf Fakten, die von anderen Medien veröffentlicht wurden, ganz egal, wie glaubwürdig diese erscheinen.
- Präzise mit Zahlen umgehen: Vermeide jegliche Übertreibung und gib Zahlen so präzise wie möglich wieder. Wenn von einem Ereignis beispielsweise zwölf Personen betroffen sind, nenne diese Zahl (einen Fakt) statt von „vielen Opfern“ (einer vagen Schätzung) zu schreiben.
- Abstand zu den Opfern: Es spielt keine Rolle, wie sehr du den Geschädigten glaubst. Übernimm nicht, was sie sagen, es sei denn, du kannst es überprüfen. Achte auf Formulierungen: „Er erinnert sich an nichts“ ist schwer zu überprüfen – „Er sagt, er erinnert sich an nichts“ ist hingegen eine Tatsache.
- Schwer beweisbare, wertende Urteile vermeiden: Unvorsichtige Formulierungen bei Schlussfolgerung können zu weit zu gehen und so zu unnötigen Problemen führen. Wenn du beispielsweise zu dem Schluss kommst, dass der Arbeitgeber „die Sicherheitsvorschriften ignoriert hat“, musst du ihm diesen Vorsatz nachweisen. Dass der Arbeitgeber „die Sicherheitsregeln nicht befolgt hat“, ist wiederum eine Tatsache.
- Transparenz: Geh offen mit den Dingen um, die du nicht weißt. Deute nichts an, was du nicht beweisen kannst. Transparenz stärkt deine Glaubwürdigkeit, nicht zuletzt, wenn du Unzulänglichkeiten offen kommunizierst.
- Identifizierende Details weglassen: Grafiken, Fotos und Videomaterial sollten keine unnötigen privaten Informationen enthalten – beispielsweise Namen und andere Details auf Dokumenten, Nummernschildern, Hausnummern oder Briefkästen.
- Einzelbildanalysen: Ist das Bild echt oder gefälscht? Fotos werden beim Faktencheck häufig übersehen, wenn sie nicht im finalen Text oder geschnittenen Material vorkommen. Auf Google Bilder, Facebook und anderen Plattformen finden sich jedoch fast immer Fotos. Überprüfe die Herkunft der Bilder zum Beispiel mithilfe der Bildrückwärtssuche. Weitere Informationen dazu findest du im GIJN Guide Four Quick Ways to Verify Images (auf Englisch).
- Selbstbeobachtung: Bereitet dir noch etwas Bauchschmerzen? Zweifelst du an bestimmten Fakten oder Schlussfolgerungen? Falls ja, sprich unbedingt mit deinen Kolleg:innen, denn das ist die letzte Gelegenheit.
- Änderungen wirklich umsetzen: Alle Änderungen im Skript, beispielsweise eine korrigierte Schreibweise von Namen, muss auch auf andere Teile des Beitrags (Grafiken, Bildunterschriften etc.) übertragen werden. Deswegen ist ein letzter Check nach dem vermeintlich letzten Check immer ratsam.
Wer seine Story so akribisch prüft, wird unweigerlich Fehler aufdecken. Fehler, die (wenn sie übersehen werden) die Glaubwürdigkeit der Geschichte schmälern, deinen Ruf als Journalist:in schädigen oder – und das ist noch viel wichtiger – der Person, um die es im Beitrag geht, zu Unrecht schaden.
Investigativ-Beiträge Zeile für Zeile zu redigieren, ist mühsam, aber es lohnt sich. Denn du wirst vermutlich nicht mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachen, weil du fürchtest, falsch berichtet zu haben. Stattdessen kannst du ruhig schlafen in dem Wissen, alles getan zu haben, um das Risiko eines Fehlers zu minimieren.
Der Autor
Nils Hanson ist preisgekrönter, freier Investigativ-Journalist. Bis 2018 war er 14 Jahre lang Executive Producer bei Mission Investigate. Er hat über 30 Jahre Berufserfahrung und über rund 500 Ermittlungen berichtet. In den letzten zwei Jahren seiner Leitung, gewann Mission Investigate zehn internationale Preise. Sein Handbuch zu Investigativjournalismus gilt in Schweden als Pflichtlektüre.
Dieser Guide wurde übersetzt von Florian Sturm. Redaktion: Greta Linde.
Der Text wurde im Original auf Englisch bei GIJN unter den GIJN Creative Commons Richtlinien publiziert.