Interview: Marthe Rubio

Der Politikjournalist Edwy Plenel ist ehemaliger Chefredakteur von Le Monde und Mitbegründer und Präsident der unabhängigen Investigativzeitung Mediapart. Die Onlinezeitung hat sich innerhalb weniger Jahre zu einer zentralen Säule der französischen Medienlandschaft entwickelt – genau wie Plenel selbst, dem über eine Million Menschen auf Twitter folgt. Bei der 12. globalen Konferenz für investigativen Journalismus (#GIJC21) trat er als Speaker auf und sprach nach der Konferenz mit Marthe Rubio (GIJN Frankreich) über Tipps für investigative Journalist:innen. Das Transkript wurde aus dem Französischen übersetzt und redigiert.

Edwy Plenel. Foto: Parti Socialiste // CC BY-NC-ND 2.0 Lizenz

1. Den Wert von Informationen verteidigen

Als wir Mediapart 2008 gegründet haben, hat niemand geglaubt, dass man Informationen im Internet kostenpflichtig anbieten könnte. Alle haben gedacht, digitale Informationen müssten kostenlos sein. Dadurch dass Medienhäuser das akzeptiert haben, haben sie gleichzeitig akzeptiert, dass der eigentliche Wert von Informationen zerstört wurde, zugunsten von Unterhaltung, die sich in Meinungen, konfrontativem Blabla, Polemiken, Talkshows und Stimmungsmache ausdrückt.

Wir glauben, dass Informationen Arbeit erfordern, und diese Arbeit hat einen Wert. Wir stehen dafür, dass unsere Informationen nützlich, glaubhaft, neu und unveröffentlicht sind. Wir sind überzeugt: Wenn unsere Leser:innen diesen Informationen und ihrer Unabhängigkeit vertrauen, können sie uns durch ein Abonnement unterstützen. Für mich geht es im Journalismus von öffentlichem Interesse, dem Public Interest Journalism, darum, Vertrauen aufzubauen und den Wert von Information zu verteidigen.

Informationen haben einen Wert und der muss durch ein Abonnement oder Spenden erhalten werden. Ich halte das für ein Modell, das auch in anderen Teilen der Welt anwendbar ist. In Afrika gibt es heute beispielsweise die Möglichkeit, Zahlungen direkt über die Handyrechnung laufen zu lassen. Ebenso kann ich mir Solidaritätsabonnements vorstellen. Viele kleine, lokale Radiosender in Regionalsprachen nutzen solche Modelle.

Wir dürfen nicht aufgeben. Als wir vor über zehn Jahren in Frankreich gestartet sind, hat niemand daran geglaubt, dass unser kostenpflichtiges Konzept funktionieren würde. Alle haben gesagt: „Plenel spinnt, das klappt nie, Informationen sind im Internet kostenlos.“ Heute sind wir ein voll rentables Unternehmen mit einer höheren Rentabilität als andere französische Medien – und das ohne Werbung und ohne Subventionen. Wir leben ausschließlich von der Unterstützung unserer Abonnent:innen. Diesen Weg gilt es zu gehen – angepasst an lokale Gegebenheiten.

2. Eine starke, horizontale Beziehung zu Leser:innen aufbauen

Unser Logo ist von einer Gravur aus dem 19. Jahrhundert inspiriert, die einen Zeitungsverkäufer zeigt, der laut rufend durch die Straßen läuft, damit Leute seine Zeitung kaufen. Wir als Onlinemedium wollten mit diesem Logo zeigen, dass es darum geht, diese Tradition zu verteidigen. Und zwar mit allen Waffen, die die sozialen Netzwerke und die horizontalen Verbreitungswege der digitalen Welt bieten. Wir müssen nach Abonnent:innen und Unterstützer:innen suchen, indem wir die Nachrichten „hinausschreien“ und eine partizipative Beziehung zur Öffentlichkeit aufbauen. Die digitale Revolution bedeutet, dass wir nicht mehr über dieser Leserschaft stehen und sie nicht mehr von oben herab betrachten. Wir stehen in einer deutlich weniger vertikalen Verbindung zueinander – und die Leser:innen können uns infrage stellen.

Deshalb haben wir Mediapart auf zwei Standbeinen aufgebaut: Wir sind eine kostenpflichtige Zeitung und ein partizipativer Club, der frei zugänglich ist. Unterstützer:innen von Mediapart bieten wir eine Plattform für ihr Engagement, ihre Kämpfe, für Meldungen, zum Diskutieren und um die Zeitung gewissermaßen herauszufordern. Ich finde, dieser originelle Ansatz ist eine Stärke, die uns ermöglicht hat, unsere Leser:innen zu binden.

Für diese Art von Bindung braucht es aber spezifische Jobs. Es reicht nicht, einfach Journalismus zu betreiben, um Leser:innen zu bekommen. Wir brauchen Leute, die die Leser:innen binden, die sie aufspüren, und die, wenn sie kündigen, verstehen, warum. Wir müssen Marketing machen, aber uns vor Augen führen, dass wir keine Krawatten, Kühlschränke oder Schuhe verkaufen. Wir verkaufen ganz besondere Güter, die der Demokratie und der öffentlichen Debatte dienen. Fragile, seltene und notwendige Güter. Und das müssen wir immer wieder erklären, fördern und verteidigen.

Inzwischen beschäftigt unsere Zeitung 120 Vollzeitmitarbeiter:innen, aber nur die Hälfte davon sind Journalist:innen. Die anderen sind Informatiker:innen oder in den Bereichen Kommunikation, Marketing, Verwaltung oder im Leser:innenservice tätig. Aber alle bewegen sich in derselben Kultur einer Industrie des Inhalts: eines Inhalts, der einen beruflichen und demokratischen Wert hat. Es ist eben dieser Inhalt, der ein unabhängiges Unternehmen hervorbringt, das in der Lage ist, Arbeitsplätze zu schaffen und Angriffen standzuhalten.

Grafik: Mediapart // Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International Lizenz

3. Alle Themen im Prisma des öffentlichen Interesses betrachten

Da unser Publikum gewachsen ist, berichten wir nicht mehr ausschließlich über Finanz- und Politikthemen wie zu Anfangszeiten. Wenn wir unsere Themen auswählen, gehen wir ausschließlich nach dem öffentlichen Interesse. Wir berichten zum Beispiel nicht über Sport, aber wir haben für Football Leaks recherchiert und aufgezeigt, wie ein so beliebter Sport wie Fußball durch Geld korrumpiert werden konnte. Wir haben den Anstoß für die französische #MeToo-Bewegung in der Politik und in der Filmbranche gegeben.

Demokratisch zu sein, heißt radikal zu sein, denn es bedeutet, die Wurzel dessen zu packen, was Demokratie ist, und für mich ist das eine Kultur, die in erster Linie auf Gleichberechtigung beruht. Wenn wir die Frage nach Gleichberechtigung ernst nehmen, wirft das die unterschiedlichsten Fragen auf: die Frage nach Ungleichheiten in sozialen Hierarchien, Ungleichheiten aufgrund von Herkunft, Geschlecht, sexueller Identität, Glauben oder Religion. Für mich ist das öffentliche Interesse die einzig gültige Agenda einer Zeitung, die dieser Bezeichnung würdig ist.

4. Frust akzeptieren

Unser Job ist es, Sisyphos und Kassandra gleichzeitig zu sein. Wie können wir die Gesellschaft voranbringen? Nicht, indem wir sagen: Ich habe die Lösung für euch. Denn es liegt an der Gesellschaft, eine Lösung zu finden. Unsere Arbeit besteht darin, die Gesellschaft zum Nachdenken anzuregen. Wie Lehrer:innen, die ihren Schüler:innen eine Hausaufgabe geben. Die Schüler:innen werden sich den Kopf zerbrechen und Fortschritte machen, während sie versuchen, dieses Problem zu lösen. Wir Journalist:innen tun dasselbe: Wir legen das Problem auf den Tisch. In dieser Hinsicht sind wir wie Kassandra. Wir überbringen schlechte Nachrichten. Aber diese schlechten Nachrichten ermöglichen es uns – wenn wir uns ihnen stellen – eine bessere Demokratie zu schaffen.

Hier ist Kassandra in derselben Position wie Sisyphos, der seinen Felsblock immer wieder den Hügel hinaufrollt, obwohl er ihm immer wieder ins Tal runter rollt. In dieser Hinsicht sind wir oft etwas traurig und enttäuscht. Ich zitiere einen Aktivisten aus Burkina Faso, der der Bewegung „Balai citoyen“ („Bürgerlicher Besen“) angehört, deren Enthüllungen das autoritäre Regime des Präsidenten Blaise Compaoré gestürzt haben. Er hat mal zu mir gesagt: „Ihr Journalist:innen scheucht die Hasen auf, aber einfangen muss sie die Gesellschaft.“

Es freut uns sehr, wenn sich die Gesellschaft an unseren Recherchen bedient, um zu handeln. Doch unser Handeln ist begrenzt: Wir tun, was wir tun müssen, aber wir können nicht bestimmen, ob die Gesellschaft für einen Wandel bereit ist oder nicht. Deshalb müssen wir manchmal eine gewisse Traurigkeit hinnehmen und akzeptieren, dass wir keine Seelsorger:innen sind, sondern Akteur:innen des demokratischen Lebens. Und das demokratische Leben können wir nicht alleine bestimmen.

5. Sich stets selbst hinterfragen und Wissen teilen

Wir leben in einer virulenten und gewaltsamen Zeit, einer Zeit des demokratischen Rückschritts, in der politische und wirtschaftliche Interessen Unabhängigkeit nicht unterstützen. Wie können wir dieser Entwicklung die Stirn bieten? Die Antwort ist: gemeinsam. Vorsicht vor einsamen Held:innen! Journalist:innen sind keine einsamen Held:innen und wenn sie dazu werden, laufen sie Gefahr, Held:innen ihrer eigenen Geschichte zu werden, die Fragen und Antworten selbst zu bestimmen und zu einer Art persönlicher Hybris werden – und sei es für die gute Sache.

Die einzige Garantie des Widerstands ist kollektive Solidarität: die Tatsache, nicht alleine zu sein. Bei Mediapart hat uns das stark gemacht. Bei Schwierigkeiten, Verunglimpfungen und Verleumdungskampagnen handeln wir nicht blind, wir diskutieren, wir reflektieren gemeinsam, wir hinterfragen uns und überlegen, inwiefern wir richtig oder falsch gehandelt haben. Das haben wir bisher immer gemeinsam gemacht. Ich bin überzeugt davon, dass wenn wir diesen riskanten Beruf mit seinen Recherchen und Enthüllungen ausüben, sollte die erste Person, die einem hilft, die Person sein, die gegenliest, was man schreibt, und das sind die Kolleg:innen. Es ist die kollektive Verifizierung, die einen schützt.

Bei Mediapart haben wir redaktionelle Prozesse, was das Gegenlesen durch Kolleg:innen und Personen anbelangt, die die Arbeit auf höherer Ebene freigeben, und wir haben Redakteur:innen, die an der Verständlichkeit und Zugänglichkeit der Texte arbeiten. Seit der Veröffentlichung unserer Rechercheergebnisse, die das französische #MeToo ausgelöst haben, führen wir zweimal jährlich interne Weiterbildungen zu Themen wie Presserecht, sexueller Belästigung oder Gewalt durch. Eine Zeitung muss das sein, was sie behauptet, im Inneren zu sein. Und das bedeutet kontinuierliche Weiterbildung. Einer der schönen Aspekte dieses Jobs ist es, dass wir permanente Autodidakt:innen sind. Im Journalismus muss man immer weiter lernen, man kann nicht irgendwann sagen: „So, jetzt weiß ich alles.“ Wir müssen immer weiter lernen.

Das Gespräch führte die französische GIJN-Redakteurin Marthe Rubio.

Das Interview wurde übersetzt von Tanja Felder. Redaktion: Greta Linde.
Der Text wurde im Original auf Frazösisch bei GIJN unter den GIJN Creative Commons Richtlinien publiziert und auch auf Englisch verfügbar.