Laudatio zur Verleihung der Verschlossenen Auster 2011
Austerpreisträger: die vier deutschen Kernkraftwerksbetreiber RWE, EnBW, Vattenfall und EON
Laudator: Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und Leiter der Redaktion Innenpolitik.
Hamburg, 2. Juli 2011
„Ich scheiß Dich so was von zu mit meinem Geld. Du hast keine Chance.“
Was die vier Atomenergiekonzerne mit dem Klebstoffdirektor Heinrich Haffenloher zu tun haben und warum man auch mit sehr viel Geld gegen Sisyphos nichts ausrichten kann.
Es gilt das gesprochene Wort
„Und ich sah den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock einen ungeheueren, befördern wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block auf einen Berg. Doch wenn er ihn über die Kappe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: von neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinab. Er aber stieß ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann er Schweiß ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus“.
So steht es in der Odyssee, so beschreibt es Homer in der Unterweltszene. Auf der Einladung und dem Tagungsprogramm von „Netzwerk Recherche“ sehen wir die Szene anders. Da sehen wir nicht einen Felsblock, sondern ein gewaltig großes Gehirn, das auf einen Berg gezogen wird. Das Bild ist voller Rätsel. Wem gehört das Gehirn? Der Atomindustrie? Der Bundesregierung? Den Menschen, die daran ziehen und drücken und herumtatschen? Und warum ziehen sie das Gehirn auf den Berg? Wartet dort hirnlos derjenige, dem es gehört? Was wird er tun, wenn er sein Gehirn wieder hat? Und was machen dann, noch vollbrachter Tat, die Menschen, die es ihm herbeigeschleppt haben? Werden sie womöglich mit Posten in der Entourage des Gehirnbesitzers belohnt? Dafür gibt es Beispiele: Joschka Fischer ist heute Berater beim Energiekonzern RWE und Rezzo Schlauch ist Berater beim Energiekonzern EnBW. Oder ziehen sie dann das nächste Gehirn auf den Berg, weil es ja noch viele andere Hirnlose gibt? Fragen über Fragen. Wir stehen hier, bei der Verleihung der verschlossenen Auster, vor einer paradoxalen Form der Mythenrezeption.
In seinem Tagungsmotto zitiert das „Netzwerk Recherche“ Albert Camus’ Deutung von Sisyphos als einem glücklichem Menschen. „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen“, schreibt Camus. Der Philosoph hat uns empfohlen, wir sollten uns Sisyphos daher nicht als resignierten oder als verzweifelten, sondern als glücklichen Menschen vorstellen – glücklich, weil er der Wiederkehr des immer Gleichen einen Sinn gibt, weil er durch seine ewige Steinewälzerei revoltiert. Sisyphos müsste ja eigentlich gar nicht ewig wälzen, er könnte ja einfach damit aufhören, die Strafe der Götter auf sich zu nehmen, er könnte sich hinsetzen, ausruhen, davonlaufen. Die Götter hatten das wohl so erwartet, aber er macht das nicht. Er ist stärker als die Last, und er ist stärker als die, die sie ihm verordnet haben. Auf jedem Rückweg, auf jedem Weg zurück ins Tal, ist er seinem Schicksal überlegen: „Er ist stärker als der Fels.“ Er zieht seine Kraft aus der Verachtung des Schicksals. Die ewige Wälzerei ist seine Form der Empörung gegen die Götter. Albert Camus hat den Mythenkern also semantisch berichtigt, er hat der Sinnlosigkeit Sinn gegeben. Der glückliche Sysiphos – das ist eine gute Vorstellung: für Bürgerinitiativen ebenso wie für Journalisten.
Nun also macht das „Netzwerk Recherche“ aus dem Felsbrocken ein Gehirn: nicht ein Felsbrocken wird nach oben gerollt, sondern ein Gehirn nach oben gezogen. Das Netzwerk Recherche praktiziert das, was Camus selber angeregt hat – Mythentransformation: „Die Mythen leben nicht aus sich selbst“, sagt Camus. „Die Mythen warten darauf, dass wir sie verkörpern.“ Wir alle verkörpern Sisyphos. Und wir müssen immer wieder von neuem, so verstehe ich die Absicht von „Netzwerk Recherche“, dafür sorgen, dass das Hirn oben ist und oben bleibt. Die Sisyphosse müssen danach trachten, dass Verstand und Erkenntnis nach oben transportiert werden. Das ist ein immer wieder mühseliger Prozess. Die Verleihung der verschlossenen Auster an die Atomindustrie ist, so verstehe ich das, ein Teil dieses Versuchs.
Diese Preisverleihung geschieht zu einem Zeitpunkt, in dem schon ziemlich viel Erkenntnis oben angelangt ist. Der Atomausstieg der Bundesregierung, dem viele Atomkraftgegner noch nicht recht trauen wollen, ist Ausdruck dieser Erkenntnis. Die Erkenntnis lautet: Die Zeit der Atomenergie ist abgelaufen. Die Atomverstromung hat ihre gesellschaftliche Akzeptanz verloren. Der Tsunami hat die Reste der in der Politik noch vorhandenen Atomgläubigkeit weggespült. Der Staat hat seine Infrastrukturverantwortung erkannt. Was mit dem Stromeinspeisungsgesetz vor über zwanzig Jahren begonnen und mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz fortgesetzt wurde, erlebt nun den finalen Schub. „Wenn ihr das in Deutschland hinkriegt, das wäre das ein Signal für die Welt,” sagte soeben der CDU-Mann Klaus Töpfer auf dem Parteitag der Grünen: Das Land steht vor einer Energiewende.
Nur unsere Preisträger, die Atomenergiekonzerne E.ON, EnBW, RWE und Vattenfall, wehren sich dagegen; sie wehren sich in unterschiedlicher Intensität gegen diese Erkenntnis. Sie wehren sich, weil sie den Strom in ihren riesigen Atomkraftwerken so billig erzeugen können. Sie wehren sich, weil ihnen die Laufzeitverlängerung vom Herbst vergangenen Jahres jeden Tag Millionen-Gewinnen gesichert hatte. Die Atomkonzerne wehren sich, weil sie den Wettbewerb unter sich aufgeteilt, also verhindert und die armen Verwandten, die Stadtwerke, lust- und machtvoll an die Wand gedrückt hatten. Sie wehren sich erbittert, weil sie merken, dass die Zeit der zentralen Energieerzeugung vorbei ist, dass sie sich aber auf die dezentrale Energieerzeugung nicht eingestellt haben. Hinter den Erneuerbaren Energien steht investive Schubkraft, die Schubkraft der bisher Großen Vier nimmt ab. Die Zukunft gehört den Erneuerbaren Energien, aber auf diese Zukunft haben sich RWE und Co viel zu wenig eingestellt – RWE am wenigsten. Weil man sich auf die neue Zeit nicht eingestellt hat, beschwört man die alten.
Höhepunkt der Beschwörung war der so genannte Atomkonsens II, der nukleare Lobbyismusexzess vom Sommer 2010. Damals haben die Atomenergiekonzerne überreizt: sie setzten die Laufzeitverlängerung für ihre Atomkraftwerke in so großer Heimlichkeit und in einer solchen Unverfrorenheit durch, dass man diesem nuklearen Unternehmen, dem Ausstieg aus dem rot-grünen Ausstieg von 2000/2001, die Züge eines Staatsstreichleins attestieren könnte, wenn nicht die Kanzlerin selbst dabei mitgemacht hätte.
In der Nacht vom 5./6. September morgens um 5.23 Uhr wurde dieser Laufzeitverlängerungs-Vertrag unterzeichnet, von dem nicht einmal der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch nur die leiseste Ahnung hatte. Verhandlungspartner der Atomenergiekonzerne war das Bundesfinanzministerium, das von der Sache steuerlich profitieren wollte, unterstützt vom Bundeskanzleramt. Die Regierung Merkel hat sich und das Land im Spätsommer und Frühherbst 2010 noch einmal in das nukleare Gefängnis gesperrt, obwohl dessen Gitter von der rot-grünen Vor-Vorgänger-Regierung schon gesprengt worden waren.
Dieser große Sieg der Atomindustrie aber war ein Pyrrhus-Sieg. Der Laufzeitverlängerungs-Handstreich wurde ür RWE und Co das, was für die CSU in Bayern die Zweidrittelmehrheit der Mandate bei der Landtagswahl von 2003 war: der Anfang der Krise. Diese Krise galoppiert bei den Atomenergiekonzernen freilich viel, viel schneller als bei der CSU. Die immerhin hat kapiert, dass man sich, allen früheren Redereien und Wahlkämpfen zum Trotz, von der Atomenergie verabschieden muß, wenn man Zukunft gewinnen will.
Horrende Gewinne verleiten, in der Politik wie in der Wirtschaft, zur Bequemlichkeit und zu Trägheit, gepaart mit Überheblichkeit und Hoffart. Der Staat hat fünfzig Jahre lang die Bad Bank für die Energiekonzerne gespielt: Er nahm ihnen die Aufgabe der Entsorgung des Atommülls ab, gewährte ihnen Steuervorteile und begrenzte die Haftung der Konzerne für nukleare Unfälle auf Summen, die in Anbetracht der Gefahren lächerlich waren. Das heißt: Die Konzerne strichen die Gewinne ein, der Staat übernahm die Risiken. Das hatte seinen Grund: Der Einstieg in die Atomverstromung Ende der fünfziger Jahres der vergangenen Jahrhunderts war ja ursprünglich nicht der Wunsch der Energiekonzerne gewesen, die sich damals mit Kohle gut eingerichtet hatten. Der Staat wollte damals das Atom aus politischen Gründen, und er vergoldete es den Energiekonzernen mit allen erdenklichen Wohltaten. So begannen die goldenen Zeiten der Stromkonzerne. Aus diesem Paradies wollten und wollen sie sich nicht mehr vertreiben lassen. Aber: Der Staat hat einst das nuklear-monetäre Paradies geöffnet, er kann es auch wieder schließen. Angesichts von Fukushima wurde der Kanzlerin klar, auf welch ungeheuere Risiken sich der Staat und ihre Regierung nicht zuletzt mit der Laufzeitverlängerung eingelassen hatten.
Es ist verständlich, wenn die großen vier Energiekonzerne heute der Regierung ihre Wankelmütigkeit vorwerfen. Aber: mit solchen Vorwürfen kann man keinen Konzern in die Zukunft steuern. Auf der RWE-Hauptversammlung am 20. April haben die Vertreter großer Kapitalsammelstellen und Pensionsfonds darauf aufmerksam gemacht, dass RWE auf Dauer nur dann wirtschaftlich dann erfolgreich sein könne, wenn das Unternehmen als Teil der Gesellschaft akzeptiert werde: Die RWE-Eigentümer, so hieß es da, „sollten nicht nur die Kosten bedenken, die der Zick-Zack-Atomkurs der Bundesregierung erzeugt. Sie müssen auch die Schäden berücksichtigen, die entstehen, wenn sich RWE ins gesellschaftliche Abseits stellt.“
Nun wird dieser Negativ-Preis nicht verliehen dafür, dass sich jemand ins gesellschaftliche Abseits stellt. Er wird auch nicht verliehen dafür, dass eine Politiker oder ein Konzern seine Zukunft verspielt. Er wird nicht verliehen dafür, dass jemand wider jede Vernunft an einer gefährlichen Technik festhält. Mit der „verschlossenen Auster“ wird man auch nicht deswegen ausgezeichnet, weil der Preisträger eine andere Meinung vertritt als der Preisgeber.
Die verschlossene Auster ist ein Kommunikationspreis – er wird Kommunikationsverhinderern und Kommunikationsblockierern verliehen. Er wurde bisher verliehen für schlechte Kommunikation, für die Missachtung der Pressefreiheit, für die Verhöhnung des Informationsanspruchs der Öffentlichkeit – an Wladimir Putin, an das Internationale Olympische Komitee, an den Bundesverband deutscher Banken; im vergangenen Jahr an die Katholische Kirche, weil sie so getan hatte, als seien die Missbrauchsskandale ein Tort, der ihr von einer übelmeinenden Journaille angetan wurde. Der Preis wurde also bisher immer verliehen für schlechte Kommunikation, er wurde verliehen dafür, dass der Öffentlichkeit nichts oder wenig gesagt wurde. Das kann man von der Atomindustrie wirklich nicht sagen. Die Atomindustrie kommuniziert wie der Teufel.
Die Atomindustrie schreibt mehr Pressemitteilungen als ein Birkenbaum Blätter hat. Ihre Manager und Lobbyisten drängen in jeder Talkshow. Und wenn die Atomindustrie der Meinung ist, dass das nicht reicht, dann veröffentlicht sie ganzseitige Anzeigen mit potenten Unterschriften, in denen sie die Kanzlerin zum Diktat bittet und der Politik erklärt, was sie zu tun hat. Man kann sich über den Stil wundern, auch über den Inhalt und die politische Präpotenz, die darin zum Ausdruck kommt.
Am 21. August 2010 haben die großen Energiekonzerne ganzseitig in allen deutschen Zeitungen eine Anzeige veröffentlicht, die sich „Energiepolitischer Appell“ nannte; der Appell begann mit einem heuchlerischen Bekenntnis zu den erneuerbaren Energien und endete dann mit dem Passus „Realistisch bleiben: Deutschland braucht weiter Kernenergie“. Diese Anzeige mit vielen Unterschriften war die publizistische Fanfare zur Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke, die dann etliche Wochen später kam. Deutschland braucht weiter Kernenergie: Das war eine Botschaft, gegen die man schon damals mit viel Recht viel haben konnte. Aber sie ist allein ist noch kein Grund dafür, die Verschlossene Auster zu verleihen. Wollte das „Netzwerk Recherche“ falsche und mißliebige Meinungen mit einem Preis anprangern – es könnte jeden Tag einen Preis verleihen und ich würde keine Laudatio halten.
Die Atomindustrie kommuniziert das Falsche, aber sie kommuniziert, ich habe es schon gesagt, wie der Teufel. Sie grillt sogar Würstchen und schenkt Champagner aus, auf dass die Journalisten und die Beamten und die Politiker kommen und zu ihr aufs Dach steigen: EnBW zum Beispiel hat erst kürzlich zum Sommergrillen aufs Dach ihrer Repräsentanz in Berlin geladen zu vertraulichen Gesprächen in weißen Couchecken. RWE hat zum Sommerfest ins „Haus der Kulturen der Welt“ gebeten, und Vattenfall hat auf Schloß Cecilienhof ein festliches Abendessen gegeben. Mahlzeit, Prost und Guten Appetit. Man lässt sich die Information also durchaus etwas kosten und serviert sie angenehm und mit Beilagen. Das wäre die „verschlossene Auster“ nicht wert.
Wofür werden die Atomkonzerne also ausgezeichnet? Sie werden ausgezeichnet für gefährlich einseitige, marktmächtige Information, sie werden ausgezeichnet für die Verharmlosung von Gefahren, für exzessiven Lobbyismus. Eine nicht gewichtige Rolle dabei spielt das Deutsche Atomforum, das 1959 gegründet wurde. Zum 50-jährigen Jubiläum des Atomforums hat der damalige Bundesumweltminister Sigmar Gabriel als Propagandazentrale de Atomkonzerne“ bezeichnet; sie stehe „wie kaum eine andere Institution für das bewusste Verschweigen, Verdrängen und Verharmlosen der Gefahren, die mit der kommerziellen Nutzung der Atomenergie verbunden sind“. Manchmal hat Gabriel recht. Seit Fukushima freilich agiert das Atomforum in einem völlig veränderten Politikumfeld. Auf dem Forum sind die Energiewirtschaftler mit sich alleine.
Wofür werden die vier Atomkonzerne werden ausgezeichnet? Sie werden ausgezeichnet dafür, dass sie an den politischen Schaltstellen ihre Leute postiert haben – Leute wie den CDU-Bundestagsabgeordneten Joachim Pfeiffer. Als Pfeiffer 2002 erstmals in den Bundestag einzog, wurde er gleich Koordinator für Energiefragen und stellvertretender wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Früher hatte er bei der Energie-Versorgung Schwaben AG unter anderem im Bereich Controlling gearbeitet. Seit 2009 ist er wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und einer der wichtigsten und verlässlichsten Verbündeten der Energiekonzerne im Parlament. Er war es, der bei der Bundestagsdebatte am 24. März 2011 erklärte: „Wir sind gut beraten, darauf zu achten, Herr Trittin, dass der Kernschmelze, die in Japan droht, nicht die Hirnschmelze in Deutschland folgt.“
Die Atomkonzerne werden mit der „verschlossenen Auster“ ausgezeichnet für das Verschweigen und Herunterspielen von Unfällen, die sie „Störfälle“ nennen, welche sie oft erst auf Druck offenbaren und dann kleinreden und kleinschreiben. Sie werden ausgezeichnet für Ihren schleichend-beschönigende Beeinflussung der politischen Sprache. Sie werden ausgezeichnet für das verbraucherfeindliche Raffinement, mit dem sie die Strompreise auf hohem Niveau halten, für die Art und Weise, mit der sie an der Strombörse EEX ihre Machinationen trieben und mit der sie die Regulierung für diesen Handelsplatz hintertrieben haben. Sie werden ausgezeichnet dafür, dass sie den Verbraucher die Zeche haben bezahlen lassen: „Oligopole wie die großen vier Kernkraftwerksbetreiber können die Preise bestimmen und durchsetzen. Die Milliarden-Gewinne der Konzerne kommen aus dem Portmonee der Bürgerinnen und Bürger.“ So steht es in der Antwort von 42 Stadtwerken und vier Landesministers auf den energiepolitischen Appell der vierzig Manager, der zur Lauftzeitverlängerung der Kernkraftwerke führte.
Die vier Kernkraftwerksbetreiber werden auch ausgezeichnet für die Chuzpe, mit der sie in Anzeigen und kostenlosen Büchlein der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen versuchten, Anzeigen und Büchlein, in denen die AKW’s als Idylle mit Schafen, Schrebergärten und Rübenbauern abgebildet wurden und in denen die „Kernkraft als Klimaschutz“ propagiert wurde. Tatsache ist, dass länger laufende Kernkraftwerke weitere Investionen in moderne Energieerzeugungsanlagen verhindern. Wenn der Einsatz und die Entwicklung moderner Effizienz-Technologien wie der Kraft-Wärme-Kopplung zum Erliegen kommen, schadet das dem Klimaschutz.
Beim Nachdenken über die Informationspolitik und das Kommunikationsverhalten der Atomkonzerne ist mir, weiß Gott warum, auf einmal eine berühmte Szene aus dem Film „Kir Royal“ eingefallen, in der Mario Adorf den Klebstoffgeneraldirektor Heinrich Haffenloher und Franz-Xaver Kroetz den Reporter Baby Schimmerlos spielen. Als der Reporter nicht nach der Melodie tanzen will, die der Unternehmer pfeift, beginnt der ihm auf eine ganz eigene Weise zu drohen. Ich hab mir die Szene auf You Tube noch einmal angeschaut: „Ich kauf Dich einfach … Ich schieb es Dir hinten und vorne rein. Ich scheiß dich so was von zu mit meinem Geld, dass Du keine ruhige Minute mehr hast. Und irgendwann kommt dann der Moment, an dem Du so mürbe bist und so fertig … Gegen meine Kohle hast Du keine Chance.“ So war das im Film. Und manchmal ist die Wirklichkeit nicht so weit davon weg.
Aber es hat nicht geklappt, nicht im Film und nicht in der Atompolitik. Das liegt nicht nur daran, dass der Tsunami das Geld weggespült hat. Es hat nicht geklappt, weil es eine kritische Öffentlichkeit gibt, die nach dem Laufzeitverlängerungs-Exzess noch wacher geworden ist, als sie es vorher war.
Vielleicht ist es nach dreißig Jahren einmal Zeit, danke zu sagen: Da haben die Menschen – zum Beispiel im Wendland – genau das getan, was Politiker sonst gern von ihnen fordern. Sie haben sich hineingearbeitet in eine hochkomplizierte Materie, sie haben sich organisiert, sie haben zusammengehalten, ihre Freizeit geopfert; sie haben sich einer wichtigen Sache verschrieben. Kinder sind aufgewachsen mit dem Protest gegen Gorleben, der Widerstand ist gewachsen, er ist zur Volksbewegung geworden, getragen von Hausfrauen, Pfarrern, Lehrern und Bauern. Doch dieses Engagement ist nie gewürdigt worden, im Gegenteil. Die Regierungspolitik hat den bürgerlichen Protest gegen die Kernenergie oft genug in einen Topf mit kriminellen Anschlägen geworfen. Die Proteste gegen den Castor zum Beispiel haben es der Politik und der Energiewirtschaft nicht erlaubt, das ungelöste Problem der Entsorgung des Atommülles zu verdrängen oder vom Tisch zu wischen. Der deutsche Atomausstieg ist der Triumph einer Bürgerbewegung, der in einer Staatsbewegung mündete.
Der Ausstieg aus der Kernenergie kann in Deutschland nur deswegen gelingen, weil ihn zivilcouragierte Bürger dreißig Jahre lang vorbereitet haben. Da darf die Politik auch einmal Danke sagen. Und in meine Laudatio gehört so eine Bemerkung deswegen, weil die vielen Sisyphosse, die das Bewusstsein für die Gefahren der Kernenergie wach gehalten haben, die Gegenmacht waren gegen die Kommunikations- und Geld- und Lobbyistenmacht der Atomenergiekonzerne. Der deutsche Atomausstieg ist „der Triumph einer Bürgerbewegung, der in einer Staats-Bewegung mündete“ (Michael Bauchmüller in der Süddeutschen Zeitung).
Ich komme am Schluss zum Mythos vom Sisyphos zurück. Ich füge dem Bild von „Netzwerk Recherche“, dem Bild also, das den Felsbrocken durch ein Gehirn ersetzt und das ich eingangs zu interpretieren versucht, mein ganz persönliches Lieblingsbild von Sisyphos dazu. Es stammt vom Maler Wolfgang Mattheuer, der neben Werner Tübke und Bernhard Heisig zu den Hauptvertretern der Leipziger Schule gehört. Auf diesem Bild rollt Sisyphos nicht den Stein den Berg hoch, er zieht auch nicht ein Gehirn in die Höhe. Man sieht ihn, wie er mit Hammer und Meißel dem Stein behaut und ihm seine Form aufzwingt.
Das passt wunderbar zu diesem Preis, das passt wunderbar zur aktuellen Politik: Der Stein ist die alte Energiepolitik, sie muss komplett umgeformt werden. Die neue Form des Steins steht für die große Energiewende – für die Umformung der Energieproduktion und damit der Lebensbedingungen. Ich wünsche mir von den bisherigen Atomkonzernen, dass sie an dieser Umformung, dass sie an dieser großen Energiewende kräftig mitwirken, dass sie, zusammen mit den politischen Parteien, zusammen mit der Zivilgesellschaft, zusammen mit den alten und neuen Kernkraftgegnern, zusammen mit den Stadtwerken in ganz Deutschland und zusammen mit den vielen kleineren Energieproduzenten den Stein des Sisyphos behauen und etwas Gutes dabei herauskommt. Dann wären die Sisyphosse wirklich glückliche Menschen.