Arndt Ginzel erhält den Leuchtturm-Preis 2022

Netzwerk Recherche verleiht den Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen 2022 an Arndt Ginzel. Die Journalist:innenvereinigung würdigt damit seine Berichterstattung aus der Ukraine während des russischen Angriffskrieges.

„Arndt Ginzel ist mit seinen Recherchen wie kaum jemand sonst vor Ort russischen Kriegsverbrechen nachgegangen und hat damit dem deutschen Publikum auf herausragende Weise die Schrecken dieses Krieges Nahe gebracht. Wir freuen uns sehr, ihn mit dem diesjährigen Leuchtturm des Netzwerk Recherche auszuzeichnen“, sagt Daniel Drepper, Vorsitzender von Netzwerk Recherche.

Reporter Arndt Ginzel. Foto: ZDF/Gerald Gerber

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nr19: Der deutsche Journalismus- Seismograf

Ein Rückblick von Jonathan Gruber, freier Journalist

Ein Seismograf, der anzeigt, was deutschsprachige Journalistinnen und Journalisten gerade beschäftigt – so bezeichnete Gastgeber und NDR-Intendant Lutz Marmor die nr-Jahreskonferenz.

2019 schlug dieser Seismograf vor allem bei den Themen Haltung, Relotius und Rezo besonders stark aus. Gleich zur Begrüßung sprach Jan Philipp Reemtsma über den Unterschied zwischen Literatur/Fantasie und Journalismus. Ein Unterschied, der beispielsweise im Fall der Reportagen von Claas Relotius nicht nur undeutlich wurde, sondern schließlich ganz verschwand. Wie können wir also den Versuchungen durch unsere Fantasie widerstehen, Herr Reemtsma? Indem man sich den verschiedenen Ansprüchen bewusstwerde, antwortete dieser. „Die Literatur kann machen was sie will. Die Reportage aber nicht.“ Es hinge alles von den Erwartungen des Publikums an einen Text ab. Von einem journalistischen Text erwarteten Menschen wahrhaftige Informationen. Die gleichen Ansprüche würde aber niemand an einem Roman stellen. Wer diese Erwartungen wie Relotius missbrauche, würde durch soziale Ächtung – falls der Missbrauch publik wird – bestraft.

Dass die Öffentlichkeit vom Vertrauensmissbrauch durch Relotius erfuhr, dafür ist Juan Moreno verantwortlich. Der freie Journalist stolperte über Ungereimtheiten in den Reportagen von Relotius und recherchierte trotz heftigem Gegenwind nach der Wahrheit. Netzwerk Recherche zeichnete ihn dafür mit dem Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen 2019 aus. (Die vollständige Laudatio kann hier nachgelesen werden.)

Vor zwei Jahren gewann eben diesen Preis auch Armin Wolf. Der österreichische Journalist vom ORF ist bekannt für seine Präsenz in der politischen Berichterstattung. Im Gespräch mit Juliane von Schwerin erzählte er von den Herausforderungen eines Interviews mit Politikerinnen und Politikern. Grundsätzlich wisse er, dass diese – so wie alle Menschen, die etwas verkaufen wollten – selektiv mit der Wahrheit umgingen. „Ich möchte aber merken, wenn ich angelogen werde, weil ich nicht will, dass das Publikum angelogen wird.“ Deshalb sei die Vorbereitung auf ein Interview auch so wichtig. „Ich bin so etwas, wie ein öffentlicher Lügendetektor.“

Wolf saß anschließend auch in einem Panel, das über Haltung im Journalismus diskutierte. Im Mittelpunkt stand der Satz: Einen guten Journalisten [und eine gute Journalistin] erkenne man daran, dass er [und sie] sich nicht gemein mache mit einer Sache – auch nicht mit einer guten Sache. Zugeschrieben würde dieser Satz oftmals Hanns Joachim Friedrichs, er käme aber ursprünglich von Charles Wheeler, sagte Wolf. Und erklärte, er hielte Haltung für überschätzt. Es gäbe unterschiedliche Formen von Journalismus. Während ein Kommentar Haltung brauche, käme es beispielsweise in einem Interview auf die Fragen an. Zudem sei das Problem des Journalismus nicht, dass es Haltungen gäbe, sondern dass diese sich zu stark ähnelten. Es würden zu viele Journalistinnen und Journalisten aus demselben Milieu rekrutiert und somit fehle ein breites Meinungsspektrum.

Bild-Chefredakteur Julian Reichelt sprach von der Wichtigkeit, durch eine Haltung nicht berechenbar zu werden. Dann bestehe die Gefahr, dass diejenigen, über die man schreibt, einen instrumentalisierten. rbb-Intendantin Patricia Schlesinger fragte: Was will das Publikum? „Die wollen doch, dass wir uns der Wahrheit annähern und nicht im Vorhinein mit unserer eigenen Haltung an ein Thema gehen.“ Jochen Bittner (Die Zeit) argumentierte, es gäbe weder Objektivität noch Neutralität, aber ein Bemühen darum. Er habe eine „Haltung zum Journalismus“. Ganz ähnliches sagte auch Anja Reschke (NDR): „Ich glaube nicht an den neutralen Journalisten, das halte ich für eine Chimäre.“ Jeder Mensch habe eine Haltung. Deshalb könne sie auch nichts mit dem Satz „Sagen, was ist“ anfangen. „Ist“ sei immer eine Frage der Perspektive. (Das Panel
„Sich (nicht) gemein machen“ – Haltung(en) im Journalismus ist als Mitschnitt abrufbar.)

Während in Momenten solcher Diskussionen der nr19-Seismograf wild nach oben ausschlug, zeichnen die Konferenz auch die vielen kleineren Ausschläge zwischen den Höhepunkten aus. Da sind die Begegnungen, Gespräche und der Austausch zwischen, vor und nach den Veranstaltungen. Da sind die Workshops und Panels abseits der großen Bühnen, in denen intensiv über Ideen, Methoden und Darstellungsweisen im Journalismus diskutiert und informiert wird. Da sind die Studierenden, Praktikantinnen und Berufsanfänger in der Schlange zum Buffet, an den Biertischen und im Publikum direkt neben den Chefredakteurinnen großer Medienhäuser und vielen erfahrenen Journalisten. Gerade Letzteres sei eine der Besonderheiten der Konferenz, sagte Marmor in seiner Begrüßung am Samstag: Junge und Alte seien hier verbunden durch einen Grundkonsens für journalistische Freiheit und Recherche.

In einer der kleineren Veranstaltungen erzählten Martin Kaul (taz) und Paul Ronzheimer (Bild) von einer besonderen Art der Berichterstattung: (Spontane) Livestreams per Smartphone aus Krisensituationen. Beispielsweise während der G20-Ausschreitungen in Hamburg (Kaul) oder von einer Gruppe Flüchtlinge auf ihrem Weg durch Europa (Ronzheimer). Dieses Angebot des unmittelbaren Einblickes habe jedoch ihren Preis, sagte Ronzheimer. Man verliere die schützende Hülle der Anonymität und werde dadurch angreifbar.

Ob und wie angreifbar Medienhäuser durch ihre potenzielle Abhängigkeit von Google oder Facebook sind, darüber diskutierten Alexander Fanta (netzpolitik.org) und Stefan Ottlitz (Spiegel-Gruppe). Fanta erklärte, Google und Facebook wollten mit ihren Investitionen in Millionenhöhe eine Verbindung beziehungsweise eine Partnerschaft mit den Medienkonzernen aufbauen. Dazu trügen nicht nur die Fördergelder bei, sondern auch die zahlreichen kostenlosen Angebote, wie Google Docs oder Google Analytics. Es werde ein Ökosystem aufgebaut, das schwierige Fragen bezüglich der Unabhängigkeit von Journalismus aufwerfe. Ottlitz nannte dies die „Soft Power“ der Internet-Giganten und bezeichnete sie als „Frenemies“.

Am Samstag sprachen dann unter anderem die Journalisten Klaus Ott (SZ) und Christian Deker (NDR) über ihre zahlreichen Besuche an verschiedenen Schulen, bei denen sie über die Arbeitsweisen von Journalistinnen und Journalisten informieren. Die Initialzündung dafür kam für Ott mit der Silvesternacht 2015/16 in Köln. Damals hätten selbst Stammleser die SZ-Redaktion gefragt, ob sie tatsächlich wahrheitsgemäß über die Vorgänge berichtet hätten. „Da haben wir uns gesagt: Wir müssen rausgehen und Journalismus erklären.“ Man sähe beim journalistischen Endprodukt eben nicht, welche Arbeit dahinterstecke. Ähnlich argumentierte auch Deker: Aus eigener Erfahrung beruhten Lügenpresse-Vorwürfe oftmals nicht auf Misstrauen, sondern auf Wissenslücken über Journalismus.

Starke Ausschläge verzeichnete der nr19-Seismograf auch am Samstagnachmittag. Zunächst in der Diskussion über die „neue Medienmacht“ YouTube. Im Mittelpunkt stand dabei das Video „Die Zerstörung der CDU“ des YouTubers Rezo. Im Gespräch mit Tilo Jung (Jung & Naiv), Stephan Lamby und Hanne Bohmhammel (Deutschland3000) sagte der Autor Stefan Schulz, dass sich Journalistinnen und Journalisten im Internet normalerweise immer zwischen Relevanz und Reichweite entscheiden müssten. Rezo hätte es jedoch mit seinem Video geschafft, beides zu verbinden. Dabei habe er eigentlich keine neuen Informationen ans Tageslicht gebracht. Stattdessen habe er für uns alle öffentlichen Quellen aus den letzten zwei bis drei Jahren durchgelesen und zusammengefügt. Anschließend habe er sich bei der Präsentation einer Sprache bedient, die für viele „klassische“ Journalisten ungewohnt sei.

Ungewohnt bei der Bayerischen Staatsregierung ist die Freigabe von Informationen. Die Koalition aus CSU und Freien Wählern blockiert ein Informationsfreiheitsrecht, wie es in den meisten anderen Bundesländern bereits existiert. Dafür wurde der Regierung vom Netzwerk Recherche der Negativpreis Verschlossene Auster 2019 verliehen (weiterführende Beiträge zur Auster 2019: Begründung nr, Laudatio von Arne Semsrott und Stellungnahme der Bayerischen Staatsregierung). Auf die Kritik folgte das Lob für drei Projekte aus dem Nonprofitjournalismus, die sich auf unterschiedliche Weise für die Freigabe von und den Zugang zu Informationen einsetzen. Die Netzwerk-Recherche-Jury zeichnete das Online-Magazin dis:orient, die geplante Datenbank Follow the Grant und der Podcast Plastiphere wurden jeweils mit einem Grow-Stipendium aus (ausführlicher Bericht über die Grow-Finalisten sowie zu den Gewinnern der Grow-Stipendien).

Bayerische Staatsregierung erhält Verschlossene Auster 2019

Die Verschlossene Auster 2019 geht an die Bayerische Staatsregierung. Mit dem Negativpreis zeichnet die Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche (nr) den Informationsblockierer des Jahres aus. Die Begründung des nr-Vorstands: Die Staatsregierung, getragen von einer Koalition aus CSU und Freien Wählern, blockiert weiterhin die Einführung eines Informationsfreiheitsrechts, wie es in den meisten Bundesländern schon existiert. Außer in Bayern fehlt das Recht zur Einsicht in behördliche Akten nur noch in Sachsen und Niedersachsen – dort ist es aber immerhin in Planung.

„Vor allem die CSU wehrt sich beständig dagegen, die Aktenschränke der Exekutive zu öffnen. Dabei geht es natürlich um Macht“, sagte Arne Semsrott, Projektleiter für FragDenStaat.de bei der Open Knowledge Foundation Deutschland, in seiner Laudatio auf den Preisträger. Vor einem halben Jahr hätte die frisch gewählte bayerische Regierung die Möglichkeit gehabt, ihr Dasein als Transparenzschlusslicht zu beenden, so Semsrott: „Die Koalitionspartner der CSU, die Freien Wähler, hatten in ihrem Wahlprogramm ein Informationsfreiheitsgesetz versprochen. Am Ende der Verhandlungen gab es im Koalitionsvertrag allerdings eine Leerstelle.“

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nr18: Trainingscamp, Diskussionsforum, Eckkneipe

Einen Preis für MeToo-Berichterstattung, einen Preis für einen verschlossenen Bürgermeister und jede Menge Workshops, Debatten und Gespräche – das war die nr18.

Ein Rückblick von Jonathan Gruber

Der verstorbene Mitbegründer des Netzwerks Recherche Thomas Leif sagte einmal, recherchierende Journalistinnen und Journalisten seien keine einsamen Wölfe, sondern zögen ihre Stärke aus der Arbeit im Team. Ende Juni traf sich dieses Team mal wieder zur Netzwerk-Recherche-Jahreskonferenz (nr18) in Hamburg.

In über 100 Veranstaltungen diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter anderem über Frauen im Journalismus, die Zukunft des Lokaljournalismus und die Nähe zur Politik, lernten in Workshops etwas über investigative Recherche und Datenjournalismus und begegneten dabei allerlei bekannten und neuen Gesichtern.

Vor allem neue weibliche Gesichter. Netzwerk-Recherche-Vorstandsmitglied Kuno Haberbusch erzählte, dass bei der ersten Konferenz vor 18 Jahren alle Referenten männlich gewesen seien. In diesem Jahr lag der Frauenanteil auf den Podien immerhin bei 42 Prozent. Es war eines der großen Themen der nr18: die Rolle der Frau im Journalismus. Laut Angabe der Initiative Pro Quote war noch vor sechs Jahren bei der Süddeutschen Zeitung nur knapp jede 25. Führungsperson eine Frau, mittlerweile sei es jede Fünfte. In der ARTE-Programmkonferenz sind die acht stimmberechtigten Mitglieder dagegen immer noch allesamt männlich. Pro Quote drängt auf ein 50:50-Verhältnis in den Führungspositionen. Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer sagte, sein Magazin habe genau solchen Druck von außen gebraucht, um sich zu verändern und mehr Frauen Verantwortung zu übertragen (mehr zum Thema im Beitrag von Isolde Fugunt).  Weiterlesen

Verschlossene Auster 2018 für den Bürgermeister von Burladingen

Der Negativpreis “Verschlossene Auster” von Netzwerk Recherche für den Informationsblockierer des Jahres geht in diesem Jahr an den Bürgermeister von Burladingen in Baden-Württemberg. Der AfD-Politiker Harry Ebert erhält die Auszeichnung für seinen selbstherrlichen und respektlosen Umgang mit der örtlichen Presse.

Weil Harry Ebert die Berichterstattung der Lokaljournalisten nicht gefiel, überzog er sie mit einem regelrechten Strafkatalog: Er verweigerte sich Interviews, ließ Anfragen unbeantwortet und wies städtische Mitarbeiter an, nicht mit der Presse zu sprechen. Er ließ im Amtsblatt der Stadt gegen die örtlichen Journalisten wettern und drohte mit dem Entzug von Abonnements, falls eine unliebsame Reporterin nicht abgezogen werde. Weiterlesen

Lieber Deniz

Gemeinsame Eröffnungsrede zur nr-Jahreskonferenz 2017

Doris Akrap, taz
Lieber Deniz,
seit Februar sitzt Du in einem türkischen Gefängnis. Im Vertrauen auf ein rechtsstaatliches Verfahren hast Du Dich freiwillig den türkischen Behörden gestellt. Seitdem hoffst Du, aber auch wir, auf einen fairen Prozess. Bislang vergebens.

Markus Grill, Correctiv
Die konkreten Vorwürfe gegen Dich wurden bis heute nicht veröffentlicht, geschweige denn belegt. Stattdessen behaupten der türkische Präsident Erdogan und die ihm nahestehenden Medien, Du seist kein Journalist, sondern ein “Terrorhelfer” und “Spion”.

Hajo Seppelt, Sportjournalist
Deine Texte, Interviews und Reportagen haben der türkischen Regierung nicht gefallen. Doch die Pressefreiheit ist keine Geschmacksfrage. Sie ist ein in der UN-Charta von 1948 verbrieftes Menschenrecht. Es ist Dein Recht. Es ist unser Recht.

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Ehren-Leuchtturm für Hans Leyendecker

Unser Ehren-Leuchtturmpreisträger Hans Leyendecker. Gezeichnet von Dieter Hanitzsch

Unser Ehren-Leuchtturmpreisträger Hans Leyendecker. Gezeichnet von Dieter Hanitzsch

Der Journalist Hans Leyendecker wird mit einem Ehrenpreis für seine Verdienste um die Recherche und den Qualitätsjournalismus geehrt. Die Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche zeichnet ihn im Rahmen ihrer am Freitag beginnenden Jahrestagung auf dem NDR-Gelände in Hamburg aus, zu der mehr als 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erwartet werden. Die Laudatio für den glühenden BVB-Fan Leyendecker wird der Geschäftsführer des Vereins, Hans-Joachim Watzke, halten.

Hans Leyendecker hat in seiner 50-jährigen Journalistenkarriere durch intensive Recherchen viele Skandale enthüllt, die die deutsche Republik nachhaltig beschäftigten. Dazu zählen u.a. die Flick-Affäre, die CDU-Spendenaffäre, der Korruptionsskandal bei Siemens und die von Helmut Kohl angelegten „Schwarzen Kassen“.

Wichtiger noch als seine Enthüllungen sind aber nach Ansicht von Netzwerk Recherche die Impulse für das professionelle Selbstverständnis der Journalisten und für die Organisation der Redaktionen, die Leyendecker gegeben hat. Er engagiert sich seit Jahrzehnten mit Vorträgen und Seminaren in der Journalistenausbildung und ist Mitbegründer von Netzwerk Recherche. Er ist mit seinem Beharren auf sauberem Handwerk und seiner selbstkritischen Haltung auch zum eigenen Tun zu einem Vorbild und einem Mentor für eine ganze Journalistengeneration geworden.

Bei der Süddeutschen Zeitung hat Hans Leyendecker nicht nur das renommierteste Rechercheressort im deutschen Journalismus aufgebaut, sondern es vor allem verstanden, jungen Journalisten dort eine Chance zu geben. Sie konnten unter seiner Leitung neue Wege erproben – wie etwa den Datenjournalismus oder große internationale Kooperationen. Daraus sind wegweisende Rechercheprojekte entstanden wie Luxemburg Leaks oder die Panama Papers. Diese Enthüllungen über Finanzskandale stehen zugleich für eine Qualität der Recherche, die über das Aufdecken einzelnen Fehlverhaltens hinaus die Strukturen einer ganzen Branche ausleuchtet – und immer wieder Anlass für politische Reaktionen sind.

Hans Leyendecker wurde Ende Mai eine besondere Ehre zuteil: Er wurde zum Präsidenten des Evangelischen Kirchentags gewählt, der 2019 in Dortmund stattfindet.

Da Leyendecker schon viele Journalistenpreise erhalten und deshalb viele journalistische Laudatoren erlebt hat, bat Netzwerk Recherche den BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke die Würdigung für den Ehren-Leuchtturm zu übernehmen. Der sagte sofort zu. Weiß er doch, dass dieser BVB seit mehr als 60 Jahren die große Leidenschaft von Hans Leyendecker ist.

E-Book zu Datenjournalismus erschienen

Datenjournalismus '14 - Netzwerk RechercheWas sind das für Menschen, die mit Zahlen und Daten Geschichten erzählen wollen?
Welche Herausforderungen stellen sich für den Datenjournalismus – und wo sind dessen eigene Grenzen vor dem Hintergrund jüngster Datenskandale?

Das in Kooperation mit epubli entstandene E-Book “Datenjournalismus ’14 und weitere Schwerpunkte der nr-Jahreskonferenz” kann auf der epubli-Seite eingesehen und erworben werden. Weiterlesen

#nr14 Tweets, Pad, Social Media Wall…

Die Begleitmedien der nr-Jahreskonferenz 2014 im Überblick:

nr14: You’ll never walk alone

Viel Kompetenz und Prominenz bei der 13. Jahrestagung von Netzwerk Recherche auf dem NDR-Gelände in Hamburg

“You’ll never walk alone” – so lautet in diesem Jahr das Motto der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche am 4. und 5. Juli 2014 auf dem NDR-Gelände in Hamburg. Damit nimmt die Konferenz von Journalisten für Journalisten gleich zwei journalistische Trends ins Visier: Zum einen die “Pressefreiheit in Zeiten der Massenüberwachung”, zum anderen aber auch die Tendenz zur Kooperation, Zusammenarbeit und Vernetzung von Journalisten – national, aber auch weltweit.

Auf die rund 600 Teilnehmer/innen warten knapp 100 Veranstaltungen. Mehr als 200 Referentinnen und Referenten, davon auch viele aus dem Ausland, versprechen spannende Vorträge und Diskussionen. Weiterlesen

Rede von Silke Burmester auf der nr13

Kriegsreporterin bei den (wahren) Helden der Gegenwart

von Silke Burmester, freie Journalistin und Dozentin in Hamburg

(Foto: Franziska Senkel)

(Foto: Franziska Senkel)

Auszüge aus der Rede zur Lage des Journalismus – gehalten auf der Jahreskonferenz 2013, am 15.06.2013 beim NRD in Hamburg:

Meine Damen und Herren, manchmal passiert es, dass Silke Burmester um einen Termin bittet. Für einen Artikel oder ein Interview. Und dass der Angefragte dann, meist so ein wenig verunsichert, fragt, ob sie denn mit ihrem Helm käme. Und dann muss Silke Burmester sagen, nein, ich will ja mit Ihnen über Ihre neue Geschirrlinie sprechen oder über den Ausbau von Kitaplätzen in Köln-Ost. Oder sie sagt, nein, dieser Artikel ist für Mare, das hat mit der taz nichts zu tun. Den Helm habe ich nur auf, sagt sie dann, wenn ich als taz-Kriegsreporterin unterwegs bin. Meist sind dann die Leute recht erleichtert.
Sie, meine Damen und Herren, sollten nicht erleichtert sein, denn ich bin, zu meiner Freude, als Kriegsreporterin hierher eingeladen. Ich darf, ja ich soll mit Helm kommen und das ist mir eine ganz besondere Freude. Ich glaube, ich fühle mich ein wenig so wie Eckart von Hirschhausen, nachdem er seine Arztpraxis verlassen durfte, um auf den Bühnen des Fernsehens herumzuturnen: Es ist eine Ehre, ich fühle mich befreit von den Zwängen eines 3500 Zeichen großen Kastens und freue mich, Sie 20 Minuten lang in Grund und Boden reden zu dürfen.
Als Thema hat man mir „Die Lage des Journalismus“ gegeben, was nicht nur ähnlich konkret ist, wie über das transatlantische Verhältnis zu reden oder über die Meere im Wandel der Zeit, es umgeht auch die charmante Gefahr, das Thema zu verpassen. Egal, was jetzt kommt, so lange es nur irgendwie mit dem zu tun hat, was wir tun, passt es hier her. Cherno Jobatey hat neue Schuhe? Steht in der Bunten, passt also. Horst Seehofer spricht nicht mehr. Schon gar nicht mit der Presse? Passt. Erster Cicero-Redakteur beim Twittern erwischt? Passt auch. Und, was auch ganz toll ist: Es ist mein Lieblingsthema. Ich kann mir quasi nichts Schöneres vorstellen, als zu gucken wie die Lage ist. Im Journalismus. Dafür habe ich einen Feldstecher und einen Helm, und wenn ich aktuell gaaaaanz weit nach Süden gucke und das Augenmerk auf Griechenland richte, dann muss ich sagen: Die Lage ist beschissen.
Da wurde mir nix dir nix, von jetzt auf eben im wahrsten Sinne des Wortes, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Stecker gezogen. Von jetzt auf eben, 5 Fernsehsender, 29 Radiostationen abgeschaltet. Bums aus, Sendeschluss. Ist ja nur der öffentlich-rechtliche Sender. Es sei, so hat jemand gesagt, als schalte man die BBC ab. Also, mal ehrlich, das halte ich jetzt für ein wenig übertrieben, schließlich kann ich mich nicht daran erinnern, irgendwelche grandiosen griechischen Fernsehserien gesehen zu haben oder preisgekrönte Tier-Dokus. Nicht einmal auf Phoenix oder Bibel-TV. Und so ein richtig fetter Missbrauchsskandal, bei dem sich ein Starmoderator über Jahrzehnte im Schutze seiner Kollegen des ihn anhimmelnden, jugendlichen Publikums sexuell bedient hat, ist mir auch nicht zu Ohren gekommen. Aber selbst wenn es stimmt, dass ERT ein verschlafener, ultralangweiliger Sender war, der über die geschmackliche Attraktivität von Rezina nicht hinauskommt, ein Hammer ist das schon.
Und jetzt stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn man hier in Deutschland den Stecker zöge. Allein hier beim NDR. Schließen Sie, verehrtes Publikum, für einen Moment die Augen und sehen Sie sie vor sich, die Redakteure und Techniker, die Programmplaner, die Intendantenassistentinnen und Moderatoren, die Kameraleute und Abteilungsleiter, wie sie verzweifelt, verwirrt über die Flure irren, den Schalter suchend, mit dem das Ganze wieder los geht. Wie sie, wie nach einem Erdbeben, nicht fassen könnten, was da geschehen ist und etwas greifen möchten, das nicht zu greifen ist. Und dann stelle ich mir vor, wie sie alle vor dem Gebäude stehen und im Angesicht des Aufgabenverlustes auch die Bedeutung weg ist. Und wie egal es auf einmal ist, dass eben noch jemand die Tagesthemen moderiert hat oder das Recht hatte, am Programm rumzumosern und unliebsame Beiträge rauszunehmen. Dass eben einer noch Tom Buhrow, Judith Rakers war oder Frank Beckmann ist völlig egal, wenn er oder sie jetzt neben der Cutterin Karin Schulze steht und beide keine Aufgabe mehr haben, weil es ihren Sender nicht mehr gibt.
Diese Vorstellung gefällt mir natürlich sehr gut. Und dann hört es auch schon auf. Dann nämlich mache ich es mir bewusst, was es heißt, wenn in einem Land, das uns sehr nahe ist, weil wir seit Jahrzehnten dort Urlaub machen, weil wir seine Oliven so lieben und so gern beim Griechen Essen gehen, ein Land, dessen Menschen seit 40 Jahren bei uns leben, wenn in diesem Land, in einem Staat der EU, mal so eben der öffentlich-rechtliche Rundfunk abgeschaltet wird. Weil ein Machthaber es so bestimmt.
Und ich dann sehe, was wir deutsche Journalisten tun. Bzw. nicht tun. Dann schäme ich mich. Dann würde ich gern in meinem Beobachtungsgraben verschwinden. Wo, so frage ich, ist unser Aufschrei der Empörung? Wo ist das Entsetzen über so eine Handlung? Wo die Solidarität mit einem Volk, das seine unabhängige Berichterstattung, eine Hüterin der Demokratie, verliert? Müssten nicht gerade wir, wir Journalisten in Deutschland wissen, welche Gefahren darin stecken? Was ist das für eine läppische Berichterstattung die letzten Tage? Ich begreife schlicht nicht, was wir für ein Verständnis von uns und unserem Beruf haben. Es kann doch nicht sein, dass es immer nur darum geht, dass Medienmänner in teuren Anzügen sich mit Phantasien wie dem Verschwinden der Media-Agenturen oder Bezahlung nach Klicks vor die Kameras drängen. Was sind wir für komische Leute, die wir hier sitzen und über „Traumjob Journalist“ reden, anstatt den Kolleginnen und Kollegen unsere Solidarität zu beweisen? 1340 Zeichen ist die Solidaritätsbekundung, die der DJV als Pressemitteilung irgendwo hingeschickt hat, lang. Na super.

Rede von Armin Wolf auf der nr13

Traumjob Journalist – eine Liebeserklärung

von Armin Wolf, stellvertretender Chefredakteur des Österreichischen Rundfunks.

(Foto: Ruben Neugebauer)

(Foto: Ruben Neugebauer)

Diese Rede hielt Armin Wolf auf der Jahreskonferenz 2013, am 14. Juni 2013 beim NDR in Hamburg:

Im November 1989 war ich 23 und seit knapp zwei Jahren freier Mitarbeiter in der Außenpolitik-Redaktion des ORF-Hörfunks in Wien. Am Montag, dem 20. November sollte ich nach Karl-Marx-Stadt fahren, das hieß damals noch so, für eine Reportage aus der noch existierenden DDR, wenige Tage nach dem Mauerfall. Weiterlesen

Das nr13-Pad

Das nr13-Pad – Links, Tipps & Tricks

Dieses Pad soll helfen, all die spannenden Geschichten, nützlichen Links, Tipps, Tricks und Empfehlungen der nr-Jahreskonferenz 2013 zu notieren und mit anderen zu teilen.

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Verklick dich mal! Tipps und Tricks für die Personenrecherche im sozialen Netzwerk „Facebook“
von Claudia Jentsch

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Eine Reise an und hinter die Ränder der Wikipedia : Wikipedia als Recherche- und Navigationsinstrument
von Albrecht Ude
Eine Reise an und hinter die Ränder der Wikipedia von Albrecht Ude [PDF, 24 S., 61 KB]

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Verschlüsselt kommunizieren (Boris Kartheuser und Marco Maas)
Mailen und Chatten mit PGP und OTR

Diese Liste enthält die relevanten Hyperlinks auf Programme und deren Dokumentationen für Verschlüsselung von Daten
und Kommunikation.

Alle genannten Programme sind freie und quelloffene Software.

GPG4win
Die Programmsammlung bietet einfach zu bedienende Windows-Tools rund um die Verschlüsselung von Mails

Download:
http://www.gpg4win.de

Anleitung:
http://gpg4win.de/handbuecher/einsteiger.html

GPGTools
Das Äquivalent für Apple-Betriebssysteme

Download:
https://gpgtools.org

Thunderbird
E-Mail-Programm der Mozilla Foundation.

Download:
http://www.mozilla.org/de/thunderbird

Anleitung:
http://www.verbraucher-sicher-online.de/anleitung/mozilla-thunderbird-3-fuer-sichere-e-mail-kommunikation-einrichten
(deutsch)

Enigmail
Ein Addon (Zusatzprogramm) für Thunderbird, mit dem die Verschlüsselungssoftware GnuPG in das
Mailprogramm eingebunden wird. Damit wird Mailverschlüsselung richtig einfach.

Download:
https://addons.mozilla.org/de/thunderbird/addon/enigmail

Thunderbird und GnuPG mit Enigmail

Anleitung:
http://www.verbraucher-sicher-online.de/anleitung/e-mails-verschluesseln-in-mozilla-thunderbird-mit-enigmail-und-gnu-privacy-guard
(deutsch)

Pidgin
Chatprogramm für Windows-PCs

Download:
http://www.pidgin.im/download

Anleitung:
http://www.investigativerecherche.de/eine-anleitung-zum-sicheren-chatten-mit-truecrypt-und-pidgin-otr-2
(deutsch)

Adium
Chatprogramm für Apple-Macintosh Computer

Download:
http://adium.im

Anleitung:
http://www.macjabber.de/anleitung-adium/

OTR-Plugin für Pidgin und Adium
„Off-the Record Messaging“, ein Zusatzprogramm, um die Verschlüsselung in die Chat-Clients einzubinden.

Download:
http://www.cypherpunks.ca/otr/index.php#downloads

Anleitung:
http://www.investigativerecherche.de/eine-anleitung-zum-sicheren-chatten-mit-truecrypt-und-pidgin-otr-2
(deutsch)

Digitaler Selbstschutz – Daten sichern mit Truecrypt und Co.

Truecrypt
Programm zum Verschlüsseln ganzer Festplatten oder von Teilen davon. Kann auch auf portablen Speichermedien wie USB-Sticks verwendet werden.

Download:
http://www.truecrypt.org/downloads

Anleitung:
http://www.investigativerecherche.de/eine-anleitung-zum-sicheren-chatten-mit-truecrypt-und-pidgin-otr-2
(deutsch)

Keepass
Password-Manager (mit portabler Version)

Download:
http://keepass.info/download.html

Hintergrundwissen

Das Cryptoparty-Handbuch: http://booki.cc/cryptoparty-handbook/how-to-cryptoparty/

Computersicherheit

Qualifizierter Selbstschutz : 11 Schritte zum sicheren Rechner.
von Albrecht Ude – 07.12.2011
Computersicherheit von Albrecht Ude [PDF; 66 KB]

Grußwort von Thomas Krüger (2010)

Das Gewissen unserer Zeit – von Thomas Krüger

Grußwort beim Jahrestreffen des Netzwerk Recherche 2010: „Fakten für Fiktionen. Wenn Experten die Wirklichkeit dran glauben lassen“,
9./ 10.Juli 2010 in Hamburg

„Nichts ist mehr so, wie es einmal war“ – mit diesem geflügelten Wort beschreiben Menschen seit dem 11. September gelegentlich Zäsuren von weltpolitischem Ausmaß. Es ließe sich aber ebenso gut auf die mediensystemischen Verwerfungen anwenden, die wir aktuell erleben: Die Wirtschaftskrise hat offenkundig Spuren hinterlassen – und sie ist nicht vorüber, jedenfalls noch nicht ganz.

Die Zeiten ändern sich radikal, auch und vor allem im Journalismus. Und lassen Sie mich dazu eines gleich vorwegschicken: Die Revolution durch das Internet ist keine Schimäre – und sie war es auch nie. Sie ist plötzlich greifbar geworden, überaus konkret und nicht mehr so abstrakt wie noch vor einigen Jahren. Wir merken inzwischen stärker am eigenen Leib, wie uns diese Veränderungen im Alltag begegnen: am Arbeitsplatz, auf Reisen, im Supermarkt, in der Behörde, aber auch in der täglichen Kommunikation mit unseren Freunden. Das Netz ist also längst kein Nebenthema mehr, sondern es prägt jeden Bereich unseres Lebens – im Positiven wie im Negativen.

Das Internet hat unsere Gesellschaft inzwischen fest im Griff. Ob wir diesen nun als Würgegriff empfinden oder ihn uns als Griff einer Tür vorstellen, hinter der sich Welten mit unglaublichen Möglichkeiten verbergen, liegt wie so oft im Auge des Betrachters. Es hängt aber zu einem wesentlichen Teil auch davon ab, ob dieser Betrachter einen professionellen Bezug zum Internet hat oder nicht.

Der Journalismus gehört zu jenen Berufen, die von den Umwälzungen durch das Internet mit Abstand am Stärksten betroffen sind. Dass sich dieser Wandel zum jetzigen Zeitpunkt in erster Linie negativ auf die ökonomische Situation der Medien auswirkt, ist zum Teil sicher fremdverschuldet. Der ökonomische Negativtrend ist allerdings kein Naturgesetz, sondern auch eine Konsequenz der Unterlassungssünden von Verlagen und Medienunternehmen. Die Verleger und Medienunternehmen haben es versäumt, frühzeitig Bezahlmodelle für ihre Online-Inhalte zu etablieren, um damit eine eigenständige Online-Qualität ihrer Angebote zu sichern. Jetzt müssen die Journalisten plötzlich zusehen, wie sie sich in Zukunft gegenüber nicht-journalistischen Informations- und Unterhaltungsangeboten behaupten, und müssen sich arg verspätet damit befassen, wie sich der technologische Wandel insgesamt auf das mediale und damit unser politisches System auswirken könnte.

In meiner Wahrnehmung ist es ein Paradoxon, dass heute zwar gerne und viel von Medienkonvergenz geredet wird, aber dass das Verständnis darüber, was das konkret bedeutet und welche Regeln gelten, im Journalismus erst schwach ausgebildet ist. Das, was jahrzehntelang getrennt war, wächst im Internet zwangsläufig zusammen. Und weil sich Journalisten jahrzehntelang entweder mit Wort, mit Ton oder Bild beschäftigt haben, neigen sie häufig dazu, die Probleme des Journalismus nicht im Großen und Ganzen zu betrachten, sondern aus ihren jeweils unterschiedlichen Gattungen – ob Presse, Radio oder Fernsehen – heraus zu interpretieren. Im Netz aber vermischen sich die hergebrachten Medien und darin liegt auch eine immense Chance, den Journalismus weiterzuentwickeln.

Ich gehöre jedenfalls nicht zu denjenigen, die das Internet und diejenigen, die es nutzen, per se verteufeln. Die Hybris, die manche Journalisten an den Tag legen, wenn sie wahllos auf Blogger oder Kommentatoren schimpfen, ist nicht nur töricht, sondern auch gefährlich: Wer die Bedürfnisse der Nutzer und Leser nicht ernst nimmt, wird sie auf Dauer verlieren. Es ist ja kein Geheimnis mehr, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Produzenten und Konsumenten zugunsten der Letzteren verschiebt – und damit müssen Sie als Journalisten umgehen.

Der Siegeszug des Internets hat den Printjournalismus in eine Identitätskrise gestürzt – an der die Branche jedoch eine Mitschuld trägt. Denn ob das Internet nun gut oder schlecht für den Journalismus ist, hängt ja davon ab, ob und wie man es professionell einsetzt. Es kann aber, soviel ist sicher, durch seine spezifische Beschaffenheit im Vergleich zu anderen Medien, das Erscheinungsbild journalistischer Angebote und deren handwerkliche Qualität entscheidend aufwerten.

Es gibt natürlich auch die Kehrseite des Internet, die Sie alle aus Ihrer beruflichen Praxis kennen: Die subkutanen Einflüsse auf den Journalismus durch gesteuerte PR-Informationen häufen sich und gefährden die journalistische Integrität. Die zunehmende Verschmelzung von Informations- und Entertainment-Industrie bleibt auch für den Journalismus nicht folgenlos – mitunter sind diese beiden Ebenen kaum mehr trennscharf; und nichtsdestoweniger hat das Internet auch die Expertenkultur revolutioniert, indem immer häufiger Informationen von selbst ernannten Experten an die Adresse der so genannten „seriösen Medien“ gelangen und von dort ungeprüft weiter verbreitet werden.

Die Tagung des Netzwerk Recherche behandelt also ein hochsensibles, statisch aufgeladenes Reizthema, das alle genannten Problemzonen des Journalismus – von der Bequemlichkeit der Journalisten über die PR-Durchdringung bis hin zur Experteninflation – streift und über das nicht immer gerne gesprochen wird.

Sie kennen vielleicht noch die unrühmliche Anekdote über einen renommierten Politikwissenschaftler, der kurz nach dem 11. September 2001 von einem Praktikanten interviewt werden sollte: Der Praktikant, der für eine große deutsche Sendeanstalt arbeitete, wurde mit einem Kamerateam in das Büro des Politikwissenschaftlers geschickt, um einige O-Töne für einen Beitrag einzufangen. Die erste Frage des Praktikanten an den Politikwissenschaftler vor laufender Kamera lautete: „Ich bin nur der Praktikant des Senders. Haben Sie einen Vorschlag, was ich Sie fragen könnte?“ Der Politikwissenschaftler antwortete: „Was wollen Sie denn wissen, junger Mann?“ Der Praktikant entgegnete: „Ich habe keine Ahnung. Man hat mich hergeschickt, weil niemand sonst Zeit hatte.“

Diese Geschichte hat sich inzwischen bestimmt schon hundertfach in allen möglichen Nuancierungen wiederholt, vielleicht in mehr oder weniger drastischer Ausprägung. Nun war es in jenem Fall so, dass der Politikwissenschaftler auch wegen der Erfahrung mit seinen Studenten souverän mit der Situation umgegangen ist und der Praktikant schließlich doch mit guten O-Tönen zurück in die Redaktion kehren konnte. Ich hielte es aber für ein Signal höchster Alarmstufe, wenn heute noch auf diese Weise O-Töne im Hauptabendprogramm der großen Fernsehsender platziert werden könnten. Was wäre, wenn der Praktikant keinen Politikexperten interviewt hätte, sondern ein Mitglied von Al-Kaida oder einen Scientologen? Das hätte im einen wie im anderen Fall ganz böse ins Auge gehen können.

Ich will Ihnen noch eine andere kurze Begebenheit erzählen, diesmal aus der Presse: Ein bekannter Terrorexperte hat mir berichtet, er sei Ende 2005 von einer überregionalen Tageszeitung zu einem kurzen Interview zur Entführung von Susanne Osthoff im Irak gebeten worden. Damals ging bei einem Mitarbeiter der ARD in Bagdad eine Videobotschaft ein, in dem die Osthoff-Entführer von der Bundesregierung ein Ende der deutschen Unterstützung für den Irak forderten – mit einem Ultimatum von drei Tagen nach Ausstrahlung des Films im deutschen Fernsehen. Sie erinnern sich vielleicht, dass die ARD das Video damals nur als Standbild gezeigt hat, um sich nicht zum Mittäter des Geschehens machen zu lassen.

Der Terrorexperte erzählte mir jedenfalls, er sei vom stellvertretenden Chefredakteur der Tageszeitung angerufen worden, der ihn um ein kurzes Mail-Interview zu diesem Erpressungsversuch bat, das am Folgetag auf Seite eins als Beisteller zu einem größeren Aufmacher erscheinen solle. Der Experte hatte schon einige Statements zu ähnlichen Themen gegeben, daher betrachtete er die Anfrage als keine große Sache. Der stellvertretende Chefredakteur schickte ihm also einige Fragen per Mail, und der Terrorexperte beantwortete diese innerhalb kürzester Zeit. Nachdem er seine Mail abgeschickt hatte, erhielt er 10 Minuten später einen Anruf des Chefredakteurs der Zeitung, der ihn fragte, ob er denn die Sache wirklich so sehe wie beschrieben, denn man müsse doch das und das noch bedenken. Und ob er nicht etwas mehr zu den Umständen sagen könne, wie Terroristen die Medien eigentlich für ihre Zwecke benutzten. Der Experte sagte: „Nein, das sehe ich tatsächlich so, und wenn ich Ihnen noch mehr darüber erzähle, wie Terroristen Medien instrumentalisieren, besteht doch die Gefahr, dass es Nachahmungstäter gibt, und deshalb möchte ich das nicht.“ Der stellvertretende Chefredakteur gab sich aber mit der Antwort nicht zufrieden und insistierte: Wenn es bei der Aussage bliebe und er nicht mehr dazu sagen wolle, müsse er sich möglicherweise nach einem anderen Experten umschauen. Dem Terrorexperten wurde das nun allmählich zu bunt, und er sagte dem stellvertretenden Chefredakteur: „Wenn Sie wirklich in einem Interview Anleitungen für Terroristen abdrucken wollen, handeln sie grob fahrlässig und verantwortungslos. Außerdem werde ich Ihre Recherchemethoden publik machen und meine Kollegen warnen.“ Der stellvertretende Chefredakteur legte schweigend auf, das Interview erschien am nächsten Tag in der Originalfassung.

Dieses Beispiel hat es in sich. Es verdeutlicht zum einen, dass sich Journalisten hin und wieder die Realität zurechtbiegen, wenn sie ihnen nicht passt – und das nicht nur auf Ebene von Praktikanten, sondern offenbar an höchster Stelle. Das Ganze nennt man wohl Thesenjournalismus, wenn Redaktionen wild herumtelefonieren, um geeignete Statements einzusammeln, die die These eines Beitrags stützen oder widerlegen können. Zum anderen finde ich den beinahe aggressiven Ton, der hier angeschlagen wurde und die Drohung, das Interview nicht zu publizieren, wenn dessen Aussagen nicht geändert werden, alles andere als professionell. Es muss auf den Experten ja so wirken, als dürfe er seine Meinung nicht unabhängig äußern, weil er ansonsten damit rechnen muss, dass sie bei Widerworten gar nicht erst publiziert wird – obwohl er ja angefragt wurde. Ich glaube, es wird an diesem Beispiel klar, dass sich Experten auf gar keinen Fall zum Spielball journalistischer Interessen umfunktionieren lassen dürfen, weil sie sonst ihre Glaubwürdigkeit verlieren.

Mein drittes und letztes Beispiel ist kurz. Es geht um all die Verlockungen und Halbwahrheiten im Internet, die eine neue Recherchekultur haben entstehen lassen. Sie alle erinnern sich noch an die Geschichte um den „falschen Wilhelm“, den ein Scherzbold als elften Vornamen des ehemaligen Bundeswirtschafts- und heutigen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg frei erfunden und in die Enzyklopädie Wikipedia eingegeben hatte. Mich hat damals erstaunt, wie viele so genannte „seriöse Medien“ diesen elften Vornamen ungeprüft übernommen haben, ohne zusätzliche Quellen zu konsultieren.

Bei diesem Beispiel handelt es sich keineswegs um eine Bagatelle. Denn dieser Hoax, also eine Falschmeldung oder ein Irrläufer, der über das Internet gestreut wird, sollte uns zweierlei zu denken geben: Dass das Wissen der Massen gelegentlich überprüft werden muss, weil die Möglichkeiten zur Manipulation im Internet schier grenzenlos sind. Und dass es heute umso mehr glaubwürdige, professionelle Informationsquellen geben muss, denen ich als Nutzer vertrauen kann. Die Vielstimmigkeit im Netz ist zwar urdemokratisch und stellt grundsätzlich einen Mehrwert dar – aber im Falle von wichtigen Nachrichten gilt umso mehr die Devise „Viele Hobby-Köche verderben den Brei“.

Das Ernüchternde aber ist: Auch im Journalismus selbst wird manipuliert, und zwar jeden Tag und in fast jeder Redaktion. Es hat mich nicht überrascht zu hören, dass es in vielen deutschen Redaktionen „Giftlisten“ gibt mit Namen von Experten, die nicht zu Wort kommen dürfen, weil ihre Meinung nicht der Redaktionslinie entspricht oder der Chefredakteur sie persönlich nicht leiden kann. Während einige Experten für Ihre Auftritte etliche hundert Euro Honorar bekommen, können andere noch nicht einmal einen feuchten Händedruck erwarten für die Bereitschaft, dem Publikum Auskunft zu geben. Jedes Jahr werden hunderte von Expertengesprächen geführt, von denen viele nicht gedruckt oder gesendet werden, weil sie den Redaktionen später aus inhaltlichen Gründen nicht mehr in den Kram passen oder ein anderer O-Ton prägnanter war. Viele Experteninterviews werden so lange frisiert und zurechtgestutzt, bis vom ursprünglichen Gespräch nur noch ein entstellter Korpus übrig bleibt. Ich weiß, dass viele Reporter von den Redaktionen mit dem Auftrag vor die Tür geschickt werden, um Statements einzuholen, die eine bestimmte These stützen sollen. Ich habe gehört, dass es in vielen Fernseh-Talkshows B- und C-Listen für Experten gibt, die zur Sicherheit von den Redaktionen angefragt, aber gleich wieder ausgeladen werden, sobald ein A-Listen-Experte zugesagt hat. Und schließlich kommt es auch vor, dass Experten letztlich auch den platten technischen Widrigkeiten zum Opfer fallen, weil das Licht falsch gesetzt oder der Kopf nicht richtig angeschnitten war.

Ich kann nur mutmaßen, dass einige Journalisten solche Redaktionsgeheimnisse gar nicht mehr schockieren, weil viele von ihnen das in ihren Redaktionen genau so praktizieren. Das sollte es aber, denn es verdeutlicht, wie unredlich manche Medien zunehmend arbeiten. Es zeigt nicht nur, dass die Performance und Sprachgewalt in der Expertenauswahl wichtiger sind als Kompetenz und Reflexionsniveau, sondern auch, dass sich Journalisten mitunter die Wirklichkeit zum Untertan machen wollen. Und ich meine damit nicht unbedingt die einschlägigen Medien der Boulevardfraktion – nein, es geht auch und gerade um die so genannten Qualitätsmedien. In vielen Redaktionen rangiert Prominenz heute weit vor Kompetenz. Es ist ein bedenkliches Signal, wenn hier sogenannte “Gesichtsbekannte” – so der Journalisten-Jargon – Experten, Politiker und andere Akteure den Vorrang erhalten. Hier ist es Zeit zum Umdenken. Im Zentrum der Expertenauswahl muss künftig das nachgewiesene Erfahrungswissen, die abgeklärte Substanz und die Validität der jeweiligen Analysen stehen.

Worauf ich hinaus will: Ich finde es wichtig und richtig, dass sich das Netzwerk Recherche selbstkritisch dieses heißen Themas angenommen hat. Der Journalismus genießt nicht mehr das Vertrauen, das er einmal hatte, das er sich über viele Jahrzehnte hart erarbeitet hat. Sein Publikum hat ihm großen Glauben geschenkt, und dieser Verantwortung sollte er sich bei jeder Zeile und Sendeminute bewusst sein. Journalisten sollten sich nicht als „Hohepriester“ der Information aufspielen, wie es der Internet-Experte Jeff Jarvis neulich im Interview mit Focus Online ausdrückte. Sie sollten niemals Begebenheiten und Ereignisse nach ihren Vorstellungen formen, sondern berichten, was Sache ist. Und sie sollten niemals die Privilegien ihres Berufes missbrauchen, indem sie sich durch ihr Herrschaftswissen Vorteile erschleichen. Wenn Journalisten dies nicht beherzigen, laufen Sie Gefahr, das in sie gesetzte Vertrauen endgültig zu verspielen.

Der Journalismus sollte sich stattdessen auf seinen kulturgeschichtlichen Stellenwert, seine ureigenen Talente, Tugenden und Techniken zurückbesinnen: der Recherche, der unabhängigen Prüfung von Quellen, der Hartnäckigkeit, Politikern auf den Fersen zu bleiben und der Fähigkeit, den Bürgern unsere komplizierte Welt näherzubringen und die Mitglieder unserer Gesellschaft zu integrieren, vor allem aber der wahrheitsgetreuen Darstellung, Spiegelung und Kommentierung von Gewesenem, Aktuellem und Kommendem. Journalisten sollten das sein, was sie schon immer waren: das Gewissen unserer Zeit – eine Instanz, der wir unser Vertrauen schenken und in dessen Hand wir die öffentliche Kontrolle und Kritik der Mächtigen unseres Landes aus Politik, Wirtschaft und Kirche legen können. Wenn Sie als Journalisten das weiterhin schaffen, brauchen wir uns vor einer Krise der Expertenkultur nicht zu fürchten.

Experten: Zehn Thesen von Prof. Holger Wormer

Beitrag zur Jahreskonferenz 2010
Fr./Sa., 09./10. Juli 2010, Hamburg

von Holger Wormer, Professor für Wissenschaftsjournalismus an der TU Dortmund

1. Experten nehmen eine zentrale Rolle in der journalistischen Berichterstattung ein. Ebenso zentral ist daher die Fähigkeit, geeignete Experten zu finden, zu bewerten und kritisch zu hinterfragen.

2. Expertenurteile dienen häufig als Surrogat für eine echte Auseinandersetzung mit komplexen Themen. Tatsächlich entbinden Expertenurteile Journalisten nicht von der Pflicht, sich selber in ein Thema einzuarbeiten. Eigenrecherche senkt die Abhängigkeit von reinen Expertenaussagen.

3. Der Respekt vor Experten und der Gültigkeit ihrer Aussagen ist zu groß. Journalisten fehlt aber häufig das notwendige Wissen und die Fähigkeit, die Rolle von Experten einzuschätzen. Dabei bietet gerade das Internet Chancen, Experten schnell richtig einzuordnen, weitere geeignete Experten zur Überprüfung zu finden sowie umgekehrt Expertennetzwerke und Abhängigkeiten zu analysieren.

4. Der Anspruch an einen Experten hängt auch von der Tragweite seiner Aussagen ab. An den Fußballexperten oder den „Erklärbär” für physikalische Phänomene auf der Basis von Schulwissen sind andere Anforderungen zu stellen als an den Gesundheitsexperten, der weit reichende Empfehlungen gibt, die über Heilung und Krankheit, unter Umständen über Leben oder Tod entscheiden können.

5. Ist ein „Experte” einmal als solcher in den Medien präsent, kommt es schnell zum Recycling der immer gleichen Köpfe auf allen Kanälen. Nicht selten mutiert der Experte auf einem hochspeziellen Gebiet dabei zu einer Art „Universalexperten” für vieles.

6. Ein Experte muss nicht zwangsläufig Wissenschaftler sein; ein international erfahrener Fußballtrainer hat durchaus Expertenstatus auf seinem Gebiet. Für Zuschauer, Zuhörer und Leser muss aber jederzeit klar sein, worin die Kompetenzen und Grenzen eines präsentierten Experten liegen. Wird der Anschein von Wissenschaftlichkeit erweckt, so muss der Experte auch über eine wissenschaftliche Expertise auf dem entsprechenden Gebiet verfügen. Ein Unternehmensberater ist kein wissenschaftlicher Experte, auch wenn er gerne als solcher auftritt.

7. Journalistische Grundregeln wie das Einholen einer Gegenmeinung können im Falle von Expertenstatements zu Verzerrungen führen („balance as bias”). Ohne entsprechende Einordnung bekommen wissenschaftliche Außenseitermeinungen oft ein überproportionales Gewicht in der Berichterstattung: Es entsteht der Eindruck eines großen Expertenstreits, obwohl unter den eigentlichen Experten ein praktisch vollständiger Konsens herrscht (Beispiel Klimawandel).

8. Die Wissenschaft selbst hat formale Kriterien für die Bewertung von Experten entwickelt, die auch Journalisten für einen ersten „Experten-Check” unbedingt nutzen sollten. Dazu gehören Fachpublikationen (in angesehenen Verlagen und möglichst begutachteten („peer reviewed”) Fachzeitschriften), Zitierhäufigkeit in der jeweiligen scientific community, Ruf der Person und seiner Institution unter Fachkollegen, Drittmittel, Forschungspreise, Patente und Lehrerfahrung. Wenngleich diese Kriterien nur Anhaltspunkte geben und zum Teil ambivalent sind (z.B. Drittmittel), ließen sich damit bereits die meisten Scharlatane erkennen.

9. Der Staat gefährdet mit einer an ökonomischer Prinzipien ausgerichteten Forschungspolitik, einem mitunter absurden Wettbewerb bei gleichzeitig fortschreitender Unterfinanzierung der Hochschulen eine zumindest prinzipielle Unabhängigkeit wissenschaftlicher Experten. Die zunehmend nur zeitlich befristete Förderng von Projekten, die Forderung nach Medienpräsenz der Institution und der Zwang zur Verwertbarkeit möglichst vieler Forschungsergebnisse erhöht den Drittmitteldruck auf Wissenschaftler und zerstört ihre relative Unabhängigkeit. In Bereichen wie der Medizin gibt es kaum noch einen „unabhängigen Experten”.

10. Umgekehrt funktioniert der verbreitete journalistische Reflex „Wissenschaftler xy erhält auch Projektmittel von Unternehmen z und ist deshalb nicht glaubwürdig” in dieser einfachen Form nicht mehr. In vielen Fällen – etwa bei Ingenieuren – sind Drittmittel aus der Industrie sogar ein besonderes Zeichen für Expertise auf einem bestimmten Gebiet. Voraussetzung ist dabei ein transparenter Umgang des Experten mit solchen Finanzierungen und ggf. die Erklärung eines „conflict of interest”.

Grußwort von Lutz Marmor (2010)

Grußwort des NDR-Intendanten Lutz Marmor auf der Jahrestagung 2010: „Fakten für Fiktionen. Wenn Experten die Wirklichkeit dran glauben lassen“,
9./ 10.Juli 2010 in Hamburg

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

auch von mir: Herzlich Willkommen zur Jahrestagung von Netzwerk Recherche! Wir sind zum neunten Mal in Folge Gastgeber der Konferenz. Das freut mich, denn ich schätze diese Veranstaltung. Sie passt gut zum NDR.

Der NDR hat in diesem Jahr sein Engagement noch einmal verstärkt. Wir freuen uns, Ihr Gastgeber zu sein!

Vielerorts wird mit großem Aufwand versucht, Medienkongresse zu initiieren, ich nenne nur den Internationalen Mediendialog in Hamburg. Die Jahrestagung von Netzwerk Recherche – eine Veranstaltung von Journalisten für Journalisten in den Räumen des NDR – ist fest etabliert. Darauf können Sie stolz sein. Ein Blick auf das Programm zeigt, dass es auch in diesem Jahr wieder gelungen ist, interessante Themen zu finden und hochkarätige Referenten zu gewinnen.

Je schwieriger die Zeiten werden, desto wichtiger ist es, in die Qualität der eigenen Arbeit zu investieren. Recherche – jedenfalls dann, wenn Sie über den zweiten Telefonanruf hinausgeht – macht Arbeit und sie kostet Geld. Doch die Investition lohnt sich – Ihnen brauche ich das nicht näher zu erläutern.

Mit dem Reporterpool von NDR Info haben wir ein Modell zur Verbesserung von Recherche gefunden, das inzwischen andere Unternehmen – zum Beispiel die WAZ Mediengruppe – kopieren. Damit verlieren wir vielleicht ein Alleinstellungsmerkmal, aber wir sind dennoch froh über diese Entwicklung. Guter Journalismus nützt allen und ist im digitalen Zeitalter wichtiger denn je.

Er bleibt, das gebe ich gerne zu, eine ständige Herausforderung. Sie brauchen die richtigen Leute, einen langen Atem, die nötigen finanziellen Mittel – und – das wird immer wichtiger – eine gute Rechtsabteilung. Je mehr Sie recherchieren, desto größer wird die Anzahl an juristischen Verfahren. Immer öfter versuchen Firmen oder Privatpersonen mit juristischen Mitteln unliebsame Berichterstattung zu verhindern. Oft geht es dabei nicht um den Kern der Sache, sondern um Nebensächlichkeiten. Wird ein Teilerfolg errungen, wird das öffentlichkeitswirksam per Pressemitteilung verkündet, obwohl der Kern der Berichterstattung davon unberührt bleibt.

Solche Fälle erleben wir häufig. Deshalb möchte ich an Sie appellieren: Übernehmen Sie diese Pressemitteilungen von Unternehmen nicht ungeprüft! Natürlich auch nicht die des Senders. Fragen Sie zumindest beide Seiten und bilden Sie sich ein eigenes Urteil!
Allzu oft feiern Unternehmen einen Sieg, den sie gar nicht errungen haben. Das geschieht mit Hilfe von Journalistinnen und Journalisten, die sich ihre Arbeit zu einfach machen – man könnte auch sagen: sich gar keine Arbeit machen.

Die häufigen Klagen zeigen auch: Die Anforderungen an die Journalistinnen und Journalisten, bis in die Details sorgfältig zu arbeiten, steigen.

Wir verlangen von unseren Leuten korrekte und sorgfältige Arbeit. Wenn etwas Falsches behauptet wurde, muss das im Programm richtig gestellt werden. Auch das gehört zur journalistischen Sorgfaltsplicht. Der Druck finanzstarker Lobbyisten darf umgekehrt aber nicht dazu führen, Berichterstattung zu verhindern!

In Anlehnung an das Zitat von Wilhelm Busch auf Ihrem Programmheft könnte man auch sagen: „Manche Prozesse sollen nicht, manche brauchen nicht, manche müssen geführt werden.”

Die Entwicklung, mit juristischen Mitteln gegen Journalistinnen und Journalisten vorzugehen, ist nicht neu – bei mir weckt sie den Kampfgeist. Auch das gehört zur journalistischen Ehre: Wenn wir Recht haben, werden wir auch dafür streiten, Recht zu bekommen.

Ich weiß, dass nicht jedes Medium die finanziellen und personellen Kapazitäten hat, sich so zu wehren wie der NDR. Ein großer Verlag darf aber genau so wenig wie ein öffentlich rechtlicher Sender klein beigegeben, wenn versucht wird, mit juristischen Mitteln Journalismus zu verhindern.

Wir werden das Verhalten von Unternehmen auch in unseren Sendungen thematisieren – in der Hoffnung, damit die Hürde für Klagen auch gegen andere zu erhöhen.

Abmahnungen und einstweiligen Verfügungen sind immer wieder auch Thema der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche. Vielleicht bietet es sich an, im nächsten einen Blick darauf zu werfen, was aus den zahlreichen Verfahren in diesem Jahr geworden ist.
Ich biete Ihnen gerne an, auch im nächsten Jahr die Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche zu unterstützen.

Jetzt wünsche ich Ihnen gute Gespräche, interessante Diskussionen und vor allem auch viel Spaß hier in Hamburg!

Eröffnungsrede von Carolin Emcke auf der nr10

Zur Lage des Journalismus – von Carolin Emcke

Eröffnungsrede auf der Jahrestagung 2010: „Fakten für Fiktionen. Wenn Experten die Wirklichkeit dran glauben lassen“, 9./ 10.Juli 2010 in Hamburg

Um gleich mit einer Enttäuschung zu beginnen:

Über die „gegenwärtige Lage des Journalismus” werde ich nicht oder nicht vornehmlich sprechen. Davon verstehen andere mehr.

Aber ich dachte mir: hier bin ich nur einmal eingeladen, da kann ich auch gleich die Gelegenheit nutzen, und von dem sprechen, wovon ich was verstehe. Wo ich jetzt schon mal da bin, kann ich potentiell nur noch für die nächste Jahrestagung ausgeladen werden.

Deswegen gebe ich auch gleich zu Anfang zu: die ewig selben Konferenzen auf der Suche nach der ganz neuen Art, Geschichten zu erzählen, haben mich meist gelangweilt, das narzistisch gekränkte Klagen über die Entwicklung des Journalismus durch Blogger und Vjs im Netz ebenso.

Mehr als das Internet schreckt mich die zunehmende Neigung unserer Zunft, sich angstvoll mit sich selbst zu beschäftigen, und darüber die Auseinandersetzung mit der Welt zu vernachlässigen. Diese Tendenz, die Wirklichkeit nur noch als Material für Texte oder Filme zu verstehen, also letztlich „Armut” bloß für eine Rubrik zu halten, gehört zu den beunruhigendsten Deformationen des gegenwärtigen Journalismus und scheint mir schädlicher als jeder Konkurrenzdruck der Netzgemeinde.

Weil mich aber die soziale Welt mit ihren politischen, ethischen und existentiellen Fragen interessiert und der Journalismus nur in seiner kritischen Funktion im Bezug auf diese Welt, möchte ich stattdessen etwas anderes versuchen heute.

Ich möchte über die gegenwärtige Lage der Welt sprechen und erst in einem zweiten Schritt über den Journalismus, den es braucht, um auf diese Welt zu reagieren, sie abzubilden, zu hinterfragen, zu kritisieren.

Es geht also nicht um eine deskriptive, sondern um eine normative Betrachtung des Journalismus, nicht der Journalismus, den es gibt, ist mein Thema, sondern der, den es braucht, wenn denn Journalismus mehr als nur Journalismus, nämlich Öffentlichkeit sein soll, wenn denn die Öffentlichkeit relevant sein soll für eine demokratische Gesellschaft, die sich darin über ihre Werte oder ihre Lebensweise verständigen will.

Ich glaube allerdings auch, dass nur der Journalismus, der sich dem widmet, was gebraucht wird, seinerseits gebraucht wird, nur der Journalismus, den die existentiellen Fragen der Welt interessieren, eine eigene Existenzberechtigung hat.

Ich möchte drei verschiedene Aspekte der globalisierten Welt herausnehmen, die einerseits kennzeichnend für diesen zeithistorischen Augenblick sind, und die andererseits den Journalismus vor besondere Herausforderungen stellen.

Die globale Welt ist verwoben, verwundbar, vernetzt. Anders ausgedrückt: ich spreche über die kulturelle Dimension der Globalisierung, die politisch-ökonomische und die mediale. Die Globalisierung, die Finanzkrise und den Strukturwandel der Öffentlichkeit.

1. Die globale Welt ist verwoben

Ich ahne schon, dass Sie jetzt gelangweilt in ihren Programmheften blättern wollen, weil Sie denken, Sie wüssten alles über die Globalisierung, aber:

Hören Sie bitte genau zu:

Musik ab!

„Lambarena – Bach to Africa”….Track 2.

Was Sie gehört haben, war die Verschmelzung von dem Chor „Lasset uns den nicht zerteilen” aus der Johannes Passion von Johann Sebastian Bach mit dem „Sakanda”, einem traditionellen Gesang aus Gabun in der Sprache Obamba.

Warum ich Ihnen das vorspiele? Weil dieser Prozess der Vermischung, der Aneignung einer Tradition durch eine andere, dieses Aufleben einer kanonischen Literatur, Musik, eines Rituals oder einer Idee, genau das ist, was die Globalisierung jenseits der ökonomischen und fiskalischen Dimension bedeutet. Globalisierung, das illustriert diese Musik, bedeutet immer auch Hybridisierung, Vieldeutigkeit, Vielsprachigkeit!

So ist es gerade die Eindeutigkeit, die zu den eindeutigsten Verlierern der Globalisierung gehört. Vermeintlich zweifelsfreie Behauptungen oder einfache Gewissheiten sind seltsam stumpf und fragwürdig geworden. Der Gestus der analytischen Sicherheit wirkt befremdlicher denn je. Ironischerweise taugt ausgerechnet die Globalisierung nicht zur globalen Analyse.

Allgemeine, universale Urteile zielen an der komplexen Wirklichkeit vorbei. Es gibt kaum eine Interpretation der politischen, ökonomischen, sozialen Dynamiken der Globalisierung, die nicht zur Differenzierung genötigt wäre; kaum eine Einschätzung der Vorzüge, die bestimmte Regionen oder Staaten genießen, ohne Hinweis auf die Nachteile für einzelne Landesteile, die davon ausgeschlossen sind; kaum eine Betrachtung der Verluste, die gewisse Bevölkerungsgruppen erleiden müssen ohne Einschränkung, der Norden kann nicht gegen den Süden, Männer können nicht gegen Frauen, Bauern nicht gegen Städter verrechnet werden.

Die intellektuellen Landkarten der Globalisierung können nicht einfach nur internationaler, sie müssen vor allem präziser und kleinteiliger werden. Globalisierung erzählt sich nicht in globalen, sondern in lokalen Geschichten.

Vielleicht hat die verengte Perspektive auf die ökonomische Ebene der globalisierten Welt diese Erkenntnis verzögert. In analytischer Hinsicht ist die Ambivalenz der große Gewinner der Globalisierung. Alle Phantasien von “Reinheit” zerschellen an einer Wirklichkeit, die sich vor allem durch die dichte Verflechtung, die wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen Teile auszeichnet.

Was das bedeutet für den Journalismus?

Es bedeutet zunächst, dass der Konzept-Journalismus, der Geschichten gern in Gewinner und Verlierer aufteilt, der polare Perspektiven aufbereitet, hier das Opfer, da der Täter, dass diese Art von Geschichten zu einfach sind, dass sie nicht mehr stimmen, dass sie zu grobkörnig sind für die Figuren und Strukturen einer so verwobenen Welt.

Es bedeutet auch, dass wir uns von dem so lieb gewonnenen Konzept der „Authentizität” verabschieden sollten.

Diese Vorstellung, es gäbe das: einen „echten Muslim”, einen „authentischen Juden”, dieses Reinheitsgebot, das in Talkshows und Podien gepflegt wird, nur ein „echter” Schwuler könne auch die Perspektive der Schwulen repräsentieren, nur eine „echte” Afghanin könne die Position der Zivilbevölkerung Afghanistans erklären, und dabei klopfen wir uns auf die Schulter und denken, wir seien unglaublich liberal und tolerant, dass wir sie da überhaupt reinlassen, und fühlen uns irgendwie auch weltläufig.

Aber wie ausdifferenziert und bunt gemischt es in diesen Kulturen und Lebensformen zugeht, wie zerstritten und lebendig, widersprüchlich und vielseitig die individuellen Biographien sind, wie sie dieses starre, mediale Bild einer statischen, reinen Kultur oder Lebensform unterwandern – das zeigen wir selten.

Was spräche denn dagegen, zwei Afghanen einzuladen bei einer Diskussion über den Krieg? Was spräche dagegen, zwei Bundeswehr Soldaten aufs Betroffenensofa einzuladen? – und die Konflikte und Kontroversen zwischen ihnen zu zeigen?

Was spräche dagegen, auch mal andere Muslime einzuladen: es gibt nicht nur Necla Kelek und Seyran Attes, sondern auch Hilal Sezgin und Özlem Topcu – um nur mal zwei zu nenen.

Warum sollte in Zeiten der Mobilität und Flexibilität nur Herkunft und Zugehörigkeit zu einer Gruppe entscheidend sein?

Wie sähe die journalistische Landschaft aus, wie sähe unser Bild von der Welt aus, wenn Juden nicht ausschließlich über Israel und den Holocaust ausgefragt würden, wenn Muslime nicht ausschließlich über al Qaeda und Ehrenmorde befragt würden und Schwule nicht ausschließlich über Sex? Da sind sie immerhin in einer besseren Lage als Lesben, die dürfen nicht einmal über Sex reden.

Anders gefragt: zementieren wir mit unserer medialen Politik des Authentischen nicht die Vorstellung von einer Welt, die angeblich auseinanderfällt an den religiösen oder kulturellen Bruchstellen? Spielen wir damit nicht genau den radikalen Dogmatikern und Extermisten zu, die sich exakt diese Konfliktlinien nur wünschen? Und übersehen wir nicht stattdessen all die ökonomischen und sozialen Differenzen, von denen neoliberale Strategen sich wünschen, dass wir sie übersähen? Und verhindern wir nicht auf diese Weise, in dieser Fixierung auf religiöse oder kulturelle Herkunft, dass die eigentlichen Fragen gestellt werden: die nach den Bedingungen von Unterdrückung und Gewalt, nach den Ursachen für Ausbeutung und Demütigung, die nach den Bedingungen sozialer Teilhabe, nach den sozialen Voraussetzungen für Bildung und Erziehung? Verhindert dieser ideologisch anerzogene Blick auf religiöse oder kulturelle Unterschiede das Verständnis für Ähnlichkeiten?

2. Die globale Welt ist verwundbar

Für jemanden wie mich, die den Wirtschaftsteil einer Zeitung nur als Rückseite der Sport-Berichterstattung wahrnimmt, bestand das Beunruhigendste der Finanzkrise eigentlich darin, dass ich auf einmal das Gefühl hatte, ich verstünde etwas von Wirtschaft.

Letztlich hatte jeder Laie sich das doch genau so vorgestellt, dass es bei einer Hypothek einer Immobilie um den Wert dieser Immobilie gehe, dass die Hypothek, wie oft auch immer so zerstückelt und weiterverkauft wird, in ihrem Wert immernoch abhängig ist von dem Wert des Hauses, das für sie bürgt, dass Kredit schon begrifflich etwas mit glauben und vertrauen zu tun hat, und dass eine Finanzwirtschaft, die sich zunehmend entkoppelt von der Realwirtschaft letztlich das ist, was Schopenhauer die „Welt als Wille und Vorstellung” nannte, eine Finanzwelt also, in der nicht mehr mit materialen Werten von Produkten, Unternehmen oder unternehmerischen Ideen gehandelt wird, sondern in der nurmehr auf Projektionen gewettet wird, in der gehandelt wird mit der Erwartung, was für eine Erwartung andere in ein Produkt, eine Idee, ein Phänomen, ein Unternehmen haben werden.

Wenn uns die Finanzkrise eines vorgeführt hat, dann dass Globalisierung vor allem wechselseitige Verwundbarkeit bedeutet. Anders noch als der 11. September 2001, der als politisches Ereignis die Verwundbarkeit einer einzelnen Nation vorführte oder anders als die Wirtschaftskrise in Argentinien im Dezember 2001, die uns den fiskalischen Zusammenbruch eines Landes vorführte, gab es bei der Finanzkrise 2008..(und Folgende) kein Aussen mehr, keine Gegend, die nicht betroffen gewesen wäre. Die wechselseitige Verwobenheit entpuppte sich als wechselseitige Verwundbarkeit.

Die Euro-Krise und die Instabilität Griechenlands bedeutet zudem, dass es keine unwichtigen Länder mehr gibt. Die alte geostrategische Landkarte, die politische Ordnung der G8 oder auch der G 20 ist nicht nur moralisch-politisch fragwürdig geworden. Auch ein kleines, politisch schwaches Land kann das gesamte System gefährden.

Was das für den Journalismus heisst? Was für einen Journalismus es brauchte, um auf diese Entwicklungen reagieren zu können?

Ich denke, es bräuchte einen Journalismus, der sich nicht grundlos eine Ideologie zueigen macht, nur weil sie sich gerade durchsetzt. Philosophen nennen das einen „naturalistischen Fehlschluss”, nur weil etwas ist, heisst nicht, dass es gut ist, wie es ist.

Es braucht einen Journalismus, der es wieder wagt, mit guten Gründen zu misstrauen, denn nur so ist eine Krise des Vertrauens, wie sie im Moment besteht, zu vermeiden, in dem wir rechtzeitig und begründet Zweifel äussern, und indem wir, als Journalisten, uns einer Aufgabe besinnen, die etwas aus der Mode gekommen scheint: Ideologie-Kritik als eine Form der Aufklärung, auf die wir uns ansonsten doch so vollmundig berufen.

3. Die globale Welt ist vernetzt

Die Globalisierung, so hat uns Nial Fergusson das formuliert, ist gekennzeichnet durch eine Verdichtung von Raum und eine Beschleunigung von Kommunikation, sie bedeutet letztlich eine „Aufhebung von Distanz”.

Mich interessiert hier nicht die Frage, ob diese Beschleunigung der Kommunikation, die Vernetzung den Untergang des Printjournalismus nach sich zieht.

Mich interessiert, was diese Beschleunigung von Kommunikation und die Entwicklung des Internets für unsere Vorstellung von Demokratie bedeuten.

Demokratie ist im Kern, im Rousseau’schen, aber auch im Kantischen Sinne Selbstgesetzgebung. Demokratie bedeutet, dass diejenigen, die von einer politischen Entscheidung betroffen sind, auch an ihrer Entstehung beteiligt werden. Anders gesagt: die Adressaten des Rechts müssen und dürfen in gewisser Hinsicht immer auch die Autoren des Rechts sein.

Eben für diesen Prozess, diesen Entscheidungsfindungsprozess, in dem die Betroffenen, eine Gesellschaft, eine Region, eine Nation, Rechte und Werte erwägen und erörtern können, eben dafür braucht es in einer Demokratie eine kritische, unabhängige Öffentlichkeit. Es ist nicht wichtig, ob das per Radio oder Fernsehen, in Wochenzeitungen, im Internet oder auf Marktplätzen stattfindet, aber es braucht einen öffentlichen Ort, an dem eine Gesellschaft sich über ihre Werte und Lebensweise verständigen kann.

In dieser Hinsicht stellt die Globalisierung ein riesiges Demokratie-Defizit dar: es sind unendlich viel mehr Menschen von politischen, ökonomischen, ökologischen oder sozialen Entscheidungen betroffen als an ihrer Entscheidung beteiligt sind, ja, die, die an einer Entscheidung beteiligt sind, wissen oftmals noch nicht einmal, wer und wie von dieser Entscheidung betroffen sind.

Und in dieser Hinsicht, braucht es einen Journalismus, der die Anderen nicht immer nur als die Anderen begreift, der Auslandsberichterstattung nicht als Berichte über eine ferne, fremde Welt versteht, sondern es braucht einen Journalismus, der diese Verwobenheit, diese Verwundbarkeit auch abbildet, der die Anderen als Eigene thematisiert, weil sie ein Recht haben, an den Diskussionen beteiligt zu werden, die sie selbst betreffen.

Es braucht einen Journalismus, der die eine globale Welt entwirft, auch wenn sie demokratisch noch nicht existiert, einen Journalismus, der immer mit einem utopischen Vorgriff das Wir einer Öffentlichkeit behauptet, auch wenn die politische Ordnung es noch unterdrückt.

Aus dieser Perspektive, mit einem Blick für die demokratische Funktion einer Öffentlichkeit, als der Ort, an dem eine Gesellschaft über ihre Werte und Lebensweisen diskutieren und streiten kann, aus dieser Perspektive erst wird die Entstehung des Internets interessant.

Wenn es stimmt, dass die Globalisierung und das Internet eine Verdichtung von Raum und Zeit und eine Beschleunigung von Kommunikation bedeuten, dann ist die Frage des Strukturwandels der Öffentlichkeit eine von elementarer politischer Relevanz.

Wenn es stimmt, dass das Internet die Öffentlichkeit zunehmend individualisiert und fragmentiert, was bedeutet das für eine Gesellschaft? Wie gelingen dann noch die demokratisch so wichtigen Selbstverständigungs-Diskurse über Werte und Normen, wenn eine Gesellschaft sich medial immer weiter aufsplittert? Inwiefern vergrößert zwar das Internet die partizipativen Möglichkeiten der Kommunikation, aber verringert möglicherweise die Gemeinsamkeiten, über die kommuniziert werden kann? Wenn eine demokratische Gesellschaft einen öffentlichen Raum zur Selbstverständigung braucht, wie gelingt diese Verständigung noch im Netz, das sich zunehmend in Milieus individualisiert und fragmentiert? Vielleicht muss es das: so wie im 19. Jahrhundert oder auch noch zu Teilen im 20. Jahrhundert die Diskussionen im halb-privaten Raum des Salons geführt wurden, zunächst in kleinen Kreisen und Milieus stattfanden, und erst nach und nach die Kreise der Debatten sich vergrößerten, verzweigten, erweiterten, vielleicht ergänzen sich auch so heute die kleinen Räume der Chatrooms und der Netzgemeinden, verlinken sich und erweitern sich zu größeren Öffentlichkeiten, vielleicht ist eine Öffentlichkeit, die sich über einen derart großen, internationalen Raum erstreckt, anders nicht denkbar.

Wenn ich also zum Schluß sagen darf, was für einen Journalismus es braucht für diese Welt, dann würde ich mir folgendes wünschen:

Einen Journalismus, der misstrauisch ist und zweifelnd daherkommt, nicht besserwisserisch, sondern fragend, ich würde mir Geschichten wünschen, die ambivalent und offen sind, nicht eindeutig und geschlossen und ich würde mir Journalisten wünschen, die leidenschaftlich und nachdenklich zugleich sind, die sich einlassen auf die Wirklichkeit jenseits des Hauptstadtbüros, die teilnehmend, nicht distanziert beobachten, dichte Beschreibungen von Gegenden liefern und den Blick für die feinen Unterschiede behalten, ich würde mir einen Journalismus wünschen, der alle Genres des Internets entdeckt und bespielt, der sich die Räume dort erobert, wo es nötig ist, und sie sein lässt, wo es möglich ist, ich wünsche mir einen Journalismus, der nicht der Wirklichkeit hinterherhetzt, sondern sie kritisch hinterfragt, und, wie hat Henry Kissinger jüngst in einem Interview mit Newsweek gesagt: „You have to know the difference between what is urgent and what is important.”

In diesem Sinne wünsche ich mir einen Journalismus, der weniger am Eiligen als am Wichtigen sich orientiert.

Vielen Dank!

Eröffnungsrede von Heribert Prantl auf der nr09

Sind Zeitungen systemrelevant? – von Heribert Prantl

Eröffnungsrede beim Jahrestreffen des Netzwerk Recherche am 05. Juni 2009 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg

Zeitungen sind systemrelevant, und ich kann es beweisen. Sie sind systemrelevanter als die HRE-Bank, als die Deutsche und die Dresdner Bank. Sie sind sehr viel systemrelevanter als Opel und Arcandor. Die Süddeutsche Zeitung ist systemrelevant, die FAZ ist es, der Spiegel, die Zeit, die Welt, die Frankfurter Rundschau und die taz sind es. Viele andere sind es auch. Das System, für die sie alle relevant sind, heißt nicht Marktwirtschaft, nicht Finanzsystem und nicht Kapitalismus, sondern Demokratie. Demokratie ist eine Gemeinschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet. Und die Presse in all ihren Erscheinungsformen, gedruckt, gesendet, digitalisiert, ist eine ihrer wichtigsten Gestaltungskräfte. Der Beweis für die Systemrelevanz der Presse ist 177 Jahre alt, er beginnt 1832 und er dauert bis heute. Er ergibt sich aus der Gesamtgeschichte der deutschen Demokratie.

Diese Geschichte der deutschen Demokratie beginnt 1832 auf dem Hambacher Schloss, bei der ersten deutschen Großdemonstration. Ihr Hauptorganisator war unser journalistischer Urahn Phillipp Jakob Siebenpfeiffer, geboren im Revolutionsjahr 1789. Als die Regierung seine Druckerpresse versiegelte, verklagte er sie mit dem Argument: Das Versiegeln von Druckerpressen sei genauso verfassungswidrig wie das Versiegeln von Backöfen. Das ist ein wunderbarer Satz, weil darin die Erkenntnis steckt, dass Pressefreiheit das tägliche Brot ist für die Demokratie. Das ist die Hambacher-Schloss- Erkenntnis von 1832: Pressefreiheit ist das tägliche Brot für die Demokratie.

Hambach war damals, in den ersten Tagen der deutschen Demokratie, der Boden, in den die Freiheitsbäume gepflanzt wurden. Heute sind diese Freiheitsbäume gut verwurzelt, sie sind groß gewachsen, sie werden gepflegt vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Karlsruhe ist so etwas wie das Hambach unserer Zeit. Und dieses Karlsruhe hat die Systemrelevanz der Presse in großen Urteilen bestätigt. Im Spiegel-Urteil von 1965, im Cicero-Urteil von 2007: „Eine freie, nicht von der der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse“ ist ein „Wesenselement des freien Staates“. Und: Die Presse ist ein „ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung“. Das ist nicht ganz so plastisch formuliert wie im Hambacher Schloss, bedeutet aber nichts anderes: Pressefreiheit ist das tägliche Brot der Demokratie.

Das täglich Brot gibt uns natürlich auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk und das öffentlich-rechtliche Fernsehen, er/es ist Presse im Sinne des Gesetzes – und wird für das tägliche Brot auch gut entlohnt. Die Anerkennung der Systemrelevanz des öffentlichrechtlichen Rundfunks sind die Rundfunkgebühren. Verglichen mit dem, was ARD, ZDF, Deutschlandfunk & Co insgesamt schon an Rundfunkgebühren erhalten haben, ist das Milliardenkonjunkturpaket für die Wirtschaft der Jahre 2008/2009 nur ein Päckchen, sind die bisherigen staatlichen Ausgaben für die HRE-Bank beinah ein Kleinkredit. Aber für dieses Geld liefert der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht nur das täglich Brot, sondern auch allerlei Gebäck: Süßzeug, Hörnchen mit Quark und Plunder mit Frischkäse.

Sie glauben jetzt wahrscheinlich, ich hätte mit diesen Ausführungen zur Systemrelevanz der gedruckten Presse mein Plädoyer für deren Staatsfinanzierung oder Staatsunterstützung begonnen. Nein, wirklich nicht. Ich will keine Solidaritätsabgabe für die Presse, keine Staatsbürgschaft, kein Hilfspaket und keinen Notgroschen. Den Zeitungen fehlt es gerade noch, dass es bei ihnen zugeht wie beim ZDF – dass also die politischen Parteien glauben, sie könnten sich nicht nur den Chefredakteur beim ZDF, sondern auch noch den bei der taz aussuchen. Ich will aber vor allem deswegen keine Staatsbürgerschaft, kein staatliches Hilfspaket und keinen Notgroschen für die Zeitungen, weil ich die Not der Zeitungen, über die allenthalben geklagt wird, so nicht sehe.

Ich sehe eher einen merkwürdigen journalistischen Dekadentismus, der eine Mischung ist aus Melancholie, Leichtlebigkeit, Weltschmerz und vermeintlicher Ohnmacht gegenüber Anzeigenschwund und Internet, gegenüber dem Stand und dem angeblichen unaufhaltsamen Gang der Dinge. Die angebliche Not, die angebliche Existenzkrise, ja Todesnähe der Zeitungen oder gleich gar des professionellen Journalismus, das alles gehört zu den Hysterien, die im Journalismus noch besser gedeihen als anderswo. Der Kikeriki-Journalismus, die aufgeregte Kräherei, die seit einiger Zeit unsere politische Publizistik prägt, kräht nun das eigene Ende herbei. Man schreibt sich sein eigenes fin de siecle. Man schreibt sein eigenes Produkt schlecht, so lange bis es alle glauben – selbst kluge Leute wie Jürgen Habermas und Dieter Grimm.

Der Philosoph Jürgen Habermas und Dieter Grimm, der frühere, für die Pressefreiheit zuständige Bundesverfassungsrichter, haben für eine Staatsfinanzierung von Zeitungen geworben. Sie glaubten und glauben an die existentielle Not von Zeitungen – und ihre Antwort darauf ist eine fast verzweifelte demokratische Liebeserklärung. Wir, die Journalisten, haben sie zumeist ziemlich überheblich zurückgewiesen, nicht selten deshalb, weil eine solche Zurückweisung leichter ist, als die Phantasielosigkeit des eigenen Verlagsmanagements zu beklagen und als überzogene Renditeerwartungen der eigenen Verleger anzuprangern. Überzogene Gewinnerwartungen von Eigentümern sind kein Ausdruck von Not, sondern von Kurzsichtigkeit und Dummheit.

Es ist ja bitteschön nicht so, dass die Zeitungen in Deutschland rote Zahlen schreiben, es ist nicht so, dass sie seit Jahren in der Verlustzone drucken. Sie machen nur nicht mehr so hohe Gewinne wie zuvor. Das kommt in den besten Unternehmen vor, auch in den Unternehmen, für dies es kein spezielles Grundrecht gibt. Die Verlage nutzen aber die angebliche Not für überzogene Notwehr. Viele der sogenannten Restrukturierungsmaßnahmen und Kündigungswellen in deutschen Medienhäusern sind Putativnotwehrexzesse – die zugleich, und das ist das wirklich Tragische, die Basis für künftiges Gedeihen der Presseunternehmen gefährden.

Die deutschen Zeitungen brauchen kein Staatsgeld. Sie brauchen aber Journalisten und Verleger die ihre Arbeit ordentlich machen. Sie brauchen Journalisten, die neugierig, unbequem, urteilskräftig, selbstkritisch und integer sind. Sie brauchen Verleger, die einen solchen Journalismus schätzen, die also von ihren Zeitungen mehr wollen als Geld, die stolz sind darauf, dass sie Verleger sind; und denen dieser Stolz mehr bedeutet als ein oder zwei Prozent mehr Gewinn.

Die deutsche Publizistik hat sich von der US-Zeitungsdepression lustvoll anstecken lassen. Man tut so, als sei es gottgegeben, dass der „state of play“ in den USA auch der „Stand der Dinge“ in Deutschland ist. Man sieht das amerikanische Zeitungssterben, übersieht zugleich, dass immer noch erstaunliche 50 Prozent aller erwachsenen Amerikaner täglich eine Zeitung aufschlagen. Gleichwohl gibt es die US-Krise natürlich. Lange bevor sich im Herbst 2008 die Banken- und Finanzkrise zuspitzte, steckten 19 der 50 größten US-Zeitungen in roten Zahlen. Wenn es einem Wirtschaftszweig in den USA heute noch schlechter geht als den Banken, dann sind das die Tageszeitungen. Stephan Russ-Mohl, der Journalistik-Professor in Lugano, vermeldet, was die Medienunternehmen mit den Finanzjongleuren von der Wall Street gemein haben: „Es ist noch nicht allzu lange her, da gab es nur eine einzige Branche, in der sich mit dem eingesetzten Geld noch mehr Geld verdienen ließ (als mit Banken und Zeitungen): (mit) Spielcasinos.“

Banken, Zeitungen, Spielcasinos: Das sollte den Blick darauf lenken, was zur USZeitungsdepression geführt hat. Es war vor allem die Geldsucht. Das US-Zeitungswesen ist jener Wall-Street-Theorie zum Opfer, wonach man Profite dadurch maximiert, in dem man das Produkt minimiert.

Die US-Zeitungen sind an die Börse gegangen und dann an der Börse heruntergewirtschaftet worden. Der Wert der Zeitungen wurde von der Wertschätzung nicht der Leser, sondern der Aktionäre abhängig gemacht. Überall und ständig wurde von den Zeitungen gefordert, ihren Aktienwert zu verbessern. Deswegen gab es Kahlschlag- Sanierungen, Korrespondentennetze wurden zerschnitten, Büros geschlossen, Redaktionen kastriert, die Druckkosten zu Lasten der gedruckten Inhalte gesenkt. An immer mehr Zeitungen haben die Investsmentfonds wesentliche Aktienanteile gehalten. Dass Fondsmanager kein Interesse am Zeitungsmachen haben, liegt auf der Hand. Das war und ist der eine Grund für die US-Zeitungsmisere. Der andere hat vielleicht auch mit diesem einen zu tun: Die US-Zeitungen haben in der Bush-Ära fast komplett versagt.

In Washington hat sich – so konstatiert der Pulitzer-Preisträger Russell Baker – „das renommierte Corps der Hauptstadtkorrespondenten mit Lügen abspeisen und zur Hilfstruppe einer Clique neokonservativer Verschwörer machen lassen“. Die Blogs waren daher nichts anderes als eine demokratische Not- und Selbsthilfe. Blogger haben die kritischen Analysen und Kommentare gegen Bush und den Irak-Krieg lesen, die man in den Zeitungen nicht lesen konnte. Ein guter Journalismus muss wegen der Blogger nicht Heulen und Zähneklappern kriegen: Er kann dem Blog dankbar sein, wenn und weil er seine Lücken substituiert und seine Fehler aufzeigt.

Man kann viel lernen aus der US-Zeitungsdepression. Vor allem, was man tun muss, um nicht in eine solche Depression zu geraten. Da muss man einiges tun: Vielleicht muss zu allererst an die Stelle von Larmoyanz wieder Leidenschaft treten. Ein leidenschaftlicher Journalismus nähme die Manipulationen der Presse durch die Bahn AG nicht so gleichgültig hin, wie dies geschieht. Da müsste es einen Aufschrei geben. Aber vielleicht geniert man sich ja, erstens weil man diese Manipulationen mit sich hat machen lassen und weil diese zweitens nicht von der Presse, sondern von der Privatorganisation „Lobby-Control“ aufgedeckt wurden

Und überhaupt: Die Blogs, das Internet. Ich weiß nicht, warum man sich als Zeitungsmensch vor der digitalen „Huffington Post“ fürchten soll. Sie macht das, was eine gute deutsche Zeitung auch macht: ordentlichen Journalismus. Man sollte endlich damit aufhören, Gegensätze zu konstruieren, die es nicht gibt – hie Zeitung und klassischer Journalismus, da Blog mit einem angeblich unklassischen Journalismus. Man sollte damit aufhören, mit ökonomischem Neid auf die Blogs zu schauen. Mit und in den Blogs wird sehr viel weniger Geld gemacht als mit den Zeitungen. Man sollte auch aufhören mit dem Gerede, dass der „klassische“ Journalismus in einem Bermuda-Dreieck verschwinde. Der gute klassische ist kein anderer Journalismus als der gute digitale Journalismus. Die Grundlinien laufen quer durch diese Raster und Cluster: Es gibt guten und schlechten Journalismus, in allen Medien. So einfach ist das.

Guter Journalismus hat gute, er hat große Zeiten vor sich: Noch nie hatten Journalisten ein größeres Publikum als nach der digitalen Revolution. Noch nie war Journalismus weltweit zugänglich. Und es gab wohl noch nie so viel Bedürfnis nach einem orientierenden, aufklärenden, einordnenden und verlässlichen Journalismus wie heute.

Es ist doch so: Die Ausweitung des wissbaren Wissen durch das Netz (der Philosoph Martin Bauer nennt es die horizontale Erweiterung des Wissens) wird auf Kosten ihrer Vertiefung erwirtschaftet (also, nach Bauer, ihrer Vertikalisierung). Kurz: Die Datenmenge nimmt zu, aber die Datenverarbeitung bleibt aus. Da kommt dem Journalismus eine neue Aufgabe zu: Gegen Datentrash hilft nur Reflektion und Hintergrundbildung. Daher muss der Print-Journalismus auf die Medienrevolution auch mit der Erfindung neuer „Formate“ reagieren, in denen er eine Aschenputtel-Aufgabe wahrnimmt: Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Die Töpfchen – das sind die neuen Formate, in denen die Datenmenge des Web sortiert und bewertet wird.

Der Amateur-Journalismus, der in den Blogs Blüten treibt, ist kein Anlass für professionellen Griesgram. Dieser Amateur-Journalismus bietet doch Chancen für eine fruchtbare Zusammenarbeit. Er ist ein demokratischer Gewinn. Mich erinnern diese Blogger an die bürgerlichen Revolutionäre von 1848/49, mich erinnert die Kommunikationsrevolution heute an die vor 150 Jahren.

Die Revolution von 1848/49 war auch eine Kommunikationsrevolution. Die Zahl der deutschsprachigen Tageszeitungen verdoppelte sich damals fast, von 940 im Jahr 1847 auf 1700 zwei Jahre später. In Paris stieg die Auflage aller Zeitungen von 50 000 vor der Revolution auf 400 000 im Mai 1848, als man in Paris 171 Zeitungen zählte. Eine der Haupttätigkeiten der unglaublich vielen politischen Vereine, die damals gegründet wurden, bestand darin, aus Zeitungen vorzulesen und sie gemeinsam zu bearbeiten.

Durch die explosionsartige Ausbreitung der Presse und durch das neue Verkehrsmittel Eisenbahn entstand ein neuer, größerer Erfahrungsraum. In Deutschland wurde auf diese Weise die Intellektuellen-Idee eines gemeinsamen deutschen Vaterlandes zu einer erfahrbaren Realität. Kurz: Das Revolutionsjahr 1848 steht für einen politischen Lernprozess, der hunderttausende von Menschen einbezog und ihnen Möglichkeiten zur politischen Partizipation gab. 150 Jahre später bietet die digitale Revolution diese Möglichkeit wieder, in nie gekannter Dimension.

Anders gesagt: Blogs sind „mehr Demokratie“, bei allen Unwägbarkeiten. Blogs bergen die Chance zu einer neuen bürgerlichen Revolution. Soll da wirklich der professionelle Journalismus die Nase hochziehen, so wie es vor 150 Jahren die etablierten fürstlichen Herrschaften und die monarchischen Potentaten getan haben?

Vielleicht sollten wir in Deutschland einfach nicht mehr so viel von Pressefreiheit reden, sondern sie einfach praktizieren. Zu viel Weihrauch, sagt das Sprichwort, rußt den Heiligen. Was für einen Heiligen gilt, kann auch für ein Grundrecht gelten: In den Weihrauchschwaden ritualisierter Lobpreisungen erkennt man es kaum mehr, es verliert sein Gesicht. Dem Gesetzgeber gilt die Pressefreiheit ohnehin als Gedöns-Grundrecht. Es gehört zu dem glänzenden Tand, den man sich besonderen Tagen, etwa zum Grundgesetz-Jubiläum, aufhängt – so wie das ein eine deutsche Familie mit dem Weihnachtsschmuck am 24. Dezember macht. Nach dem Fest räumt man das Zeug wieder weg.

Im gesetzgeberischen Alltag spielt die Pressefreiheit keine Rolle, siehe zuletzt das BKAGesetz, siehe die Vorratsdatenspeicherung, siehe die Gesetze zur Überwachung der Telekommunikation. Journalisten-Telefone werden überwacht, die Telefonnummern werden gespeichert, die Journalisten-Computer können durchsucht werden – gerade so, als gäbe es keinen Schutz der Vertraulichkeit, als gäbe es kein Redaktionsgeheimnis. Was hilft das in der Strafprozessordnung verankerte Zeugnisverweigerungsrecht, was hilft es dem Journalisten, wenn er die Auskunft darüber verweigern darf, wer ihm bestimmte Informationen gegeben hat – wenn der Staat das durch Computerdurchsuchung oder Telefonüberwachung ohne weiteres herausbekommen kann?

Die Pressefreiheit muss, so ist es leider seit längerer Zeit, beiseite springen, wenn der Staat mit Blaulicht, also mit Sicherheitsinteressen, daherkommt. Der Gesetzgeber hat es sich angewöhnt, Pressefreiheit gering zu schätzen. Ich frage mich freilich, ob es sich nicht auch der Journalismus angewöhnt hat, sich selber gering zu schätzen. Geht nicht womöglich von der Presse selbst mehr Gefahr für die Pressefreiheit aus, als vom Gesetzgeber? Ich glaube ja: Die wirklich große Gefahr für den Journalismus hierzulande geht vom Journalismus, von den Medien selbst aus – von einem Journalismus, der den Journalismus verachtet; von Verlegern, die ihn aus echten oder vermeintlichen Sparzwängen kaputtmachen, von Medienunternehmern, die den Journalismus auf den Altar des Anzeigen- und Werbemarktes legen.

Vielleicht liegt es an meiner Regensburger Vergangenheit, dass mir an dieser Stelle ein Spruch des verstorbenen Regensburger Fürsten von Thurn und Taxis einfällt. Der hat einmal über das fürstliche Vermögen gesagt: Es sei so groß, dass man es nicht versaufen, verfressen oder verhuren könne – man könne es nur verdummen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es mit dem geistigen und ökonomischen Vermögen, das in großen deutschen Zeitungen steckt, auch so ist.

Im Tagungsthema steht das Wort „Morgen“. Wie wird der Journalismus morgen aussehen? Wer über die Zukunft reden will, muss die Vergangenheit kennen. Ich habe eingangs unseren Urahn Philipp Jakob Siebenpfeiffer erwähnt, weil er am Beginn einer Reihe von großen Journalisten steht. In der Weimarer Republik hießen die Siebenpfeiffers Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky, in der Bundesrepublik hießen sie Henri Nannen und Rudolf Augstein; auch Axel Springer – bei allen Differenzen und Unterschieden wussten sie, dass der Journalismus eine Aufgabe hat, die über das Geldverdienen hinausgeht.

Ich rede gerne von diesen großen Namen des Journalismus – weil sie nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft des Journalismus stehen. Es ist wichtig, dass die jungen Kollegen in den Journalistenschulen nicht nur lernen, wie der „Crossover- Journalismus“ funktioniert, dass sie nicht nur lernen, wie man effektiv und schnell schreibt und produziert, sondern dass sie auch erfahren, dass es journalistische Vorbilder gibt, große Vorbilder – und warum sie sind und wie sie es wurden. Warum? Weil sie nicht nur wunderbare journalistische Handwerker waren, weil sie nicht nur kluge Verleger waren – sondern weil sie eine Haltung hatten.

Haltung: Das Wort ist aus der Mode gekommen. Haltung heißt: für etwas einstehen, Haltung heißt: Sich nicht verbiegen lassen, nicht von kurzfristigen Moden, nicht von unrealistischen Renditeerwartungen, nicht von Bilanzen. Ich bin davon überzeugt: Wenn die journalistische Bilanz der Zeitung, eines Medienunternehmens stimmt, dann stimmt langfristig auch die ökonomische. Zur angemessenen journalistischen Haltung heute gehört auch, sich gemeinsam zu überlegen, wie man auf „kreative“ Weise sparen kann. Das heißt: Wir müssen uns darüber klar werden, was eine Presse braucht, die ihre Freiheit gegen die Ökonomisierung von Nachrichten- und Medienmärkten politisch verteidigen will.

Noch einmal: Vielleicht sollten wir von Pressefreiheit weniger reden, sie dafür aber mehr praktizieren – das gilt für Verlage und Redaktionen. Ich nenne ausdrücklich beide: Verlage und Redaktionen. Sie beide müssen in ihrer Arbeit, nicht durch wohlfeile Resolutionen an den Gesetzgeber, zeigen, was Pressefreiheit ist und was sie ihnen wert ist. Schlimmer als Cicero-Razzien, als Vorratsdatenspeicherung und Online-Durchsuchung sind geistige Zwangsjacken, die sich der Journalismus selber anzieht, schlimmer sind die Kastrations- Aktionen, welche Verleger in den Redaktionen exekutieren. Pressefreiheit ist nicht die Freiheit, Redaktionen auszupressen. Pressefreiheit ist auch nicht die Freiheit, sie durch redaktionelle Zeitarbeitsbüros zu ersetzen, als gelte es, ein Call-Center eine Weile am Laufen zu halten. Pressefreiheit ist nicht die Freiheit der Heuschrecken, sondern die Freiheit verantwortungsbewusster Journalisten und Verleger. Heuschrecken fressen alles, auch die Pressefreiheit. Manchmal tarnen sich Heuschrecken auch als brave Käfer.

Journalistische Arbeit kann man nicht einfach in PR-Büros, lobbyfinanzierte Werbeagenturen und Schreibbüros auslagern. Genau das geschieht aber: Es besteht wie noch nie seit 1945 die akute Gefahr, dass der deutsche Journalismus verflacht und verdummt, weil der Renditedruck steigt; weil an die Stelle von sach- und fachkundigen, nicht von Interessengruppen bezahlten Journalisten immer öfter von Produktionsassistenten für Multimedia gesetzt werden, wieselflinke Generalisten, die von allem wenig und von nichts richtig etwas verstehen. Aus dem Beruf, der heute Journalist heißt, wird dann ein multifunktionaler Verfüller von Zeitungs- und Webseiten. Solche Verfüllungstechnik ist allerdings nicht die demokratische Kulturleistung, zu deren Schutz es das Grundrecht der Pressefreiheit gibt.

Der Presse ist die Freiheit garantiert. Presse sind Journalisten, Verleger, Medienunternehmen. Die Pressefreiheit könnte entfallen, wenn diese Freiheit als Freiheit ohne Verantwortung missverstanden wird – und: Wenn Medienunternehmen sich nur noch als Renditeunternehmen wie jedes andere auch verstehen. Manager, die glauben, die Herstellung von Druckwerken sei nichts anderes als die Herstellung von Plastikfolien, täuschen sich. Für die Hersteller von Plastikfolien gibt es kein eigenes Grundrecht. Es hat einen Grund, warum es das Grundrecht der Pressefreiheit gibt: Pressefreiheit ist Voraussetzung dafür, dass Demokratie funktioniert. Wird dieser Grundsatz nicht mehr geachtet, wird das Grundrecht grundlos. Dann verlieren Zeitungen wirklich ihre Zukunft.

Es gibt immer mehr Leute, die schon die Todesanzeigen für die Zeitung entwerfen: „Geboren 1603 in Straßburg/Elsass, gestorben 2020. Wir werden der Zeitung ein ehrendes Andenken bewahren.“ Diese Beerdigungsredner reden allerdings nicht von der Zusammenlegung von Redaktionen, auch nicht von entlassenen Redakteuren und nicht vom Outsourcing – sondern vom Internet. Seitdem der amerikanische Publizist Philip Meyer im Jahr 2004 ein Buch mit dem Titel „The Vanishing Newspaper“ veröffentlicht, also das Verschwinden der Tageszeitung angekündigt hat, hören sich die Podiumsdiskussionen auf Medientagen über das Internet so an wie Vorbereitungen zur Beerdigung der Zeitungen.

Für derlei Überlegungen ist es aber erstens ein bisschen früh, denn selbst Professor Meyer hat den Tod der Tageszeitung erst für das Jahr 2043 vorhergesagt. Zweitens könnte es sich mit Meyers Prophezeiungen so verhalten wie mit denen seines Kollegen Francis Fukuyama, der 2002, als das östliche Imperium und der Staatskommunismus zusammengebrochen waren, das „Ende der Geschichte“ ausgerufen hat. Die Geschichte mochte sich dann nicht daran halten.

Aber es gibt den von mir schon beschriebenen Ehrgeiz, das Zeitungssterben und die von Meyer berechnete Mortalität zu beschleunigen. Zuletzt hat sich in Deutschland David Montgomery bemüht, der „Berliner Zeitung“ den Journalismus auszutreiben und aus der Zeitung eine Benutzeroberfläche zu machen, auf der immer weniger von dem platziert wird, was Geld kostet (nämlich gute Artikel), aber immer mehr von dem, was Geld bringt (nämlich Werbung und Product-Placement). Das Muster kennt man, wie schon erwähnt, aus den USA: Journalisten werden entlassen, Korrespondenten eingespart, Redaktionen aufgelöst, eigene Texte durch solche von Agenturen ersetzt oder billig eingekauft. Die Chefredaktion verwandelt sich in eine Geschäftsführung. Geist mutiert in Geistlosigkeit. Man spart, bis die Leser gehen. Es ist wie eine absonderliche Version des Märchens vom Rumpelstilzchen: Es wird – aus Geldsucht und Unverstand – Gold zu Stroh gesponnen. Bei der Berliner Zeitung hat sich das Blatt nun hoffentlich zum wieder Besseren gewendet. Aber ich fürchte: Montgomery ist zwar weg, aber sein Beispiel macht Schule.

Die gute Zukunft der Zeitung sieht anders aus: Die Tageszeitung muss sich, sie wird sich verändern – sehr viel mehr, als die Konkurrenz von Rundfunk und Fernsehen sie verändert hat. Der Inhalt der Zeitung wird ein anderer sein, als man es bisher gewohnt war, aber sie wird immer noch und erst recht Zeitung sein: Und die Texte, die dort stehen, werden Nachrichten im Ursinne sein müssen – Texte zum Sich-danach-Richten. Es wird auch Texte und Formate geben müssen, die den Datentrash des Internet sortieren, ordnen und bewerten. Das kriegt man nicht umsonst, das kostet. Aber ich glaube, dass sich viele Zeitungsleser das auch etwas kosten lassen werden – und dass es User geben wird, die genau deswegen zur Zeitung finden werden.

Gegen Datentrash hilft, wie gesagt, nur Reflektion und Hintergrundbildung. Das muss die Zeitung bieten. Mit einem allmählich verdummenden Journalismus kann man das aber nicht leisten. Ein Billigjournalismus ist zum Wegwerfen, nicht zum Lesen. Wenn sich eine Zeitung an Anzeigenblättern orientiert, ist sie keine Zeitung mehr, sondern eben ein Anzeigenblatt, das nicht einmal mehr ausreichend Anzeigen kriegt.

Weil der Journalismus kein Billigjournalismus sein darf, kann es auch nicht mehr lang gut gehen, dass Zeitungen ihre wichtigsten Stücke im Internet verschenken. Das ist eine, im Wortsinn, Selbstpreisgabe. Es wird sehr schnell ein Kurswechsel stattfinden müssen – hin zu einem ganz einfach, simplen, gut praktikablen System des Micro-Payment pro Artikel. Den Appetizer gibt es dann umsonst, das Hauptgericht kostet ein paar Cent. Click and buy: Das bringt niemanden um, das macht aber die Zeitungen stärker.

Ansonsten hätte ich nichts dagegen, wenn das Stiftungswesen, das sich in Deutschland erfreulicherweise sehr im Aufschwung befindet, sich auch der einen oder anderen Zeitung annähme: Das Zeitungswesen könnte ein wenig Mäzenatentum durchaus vertagen. Eine Zeitungsstiftung ist ein wahre Gemeinwohl-Stiftung. Das FAZ-Stiftungsmodell – die Fazit- Stiftung verteidigt seit Jahrzehnten die finanzielle und redaktionelle Unabhängigkeit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – müsste doch Nachahmer locken können. Es gibt ja nicht wenige kluge und verantwortungsbewusste Milliardäre in Deutschland.

Das Internet, das Internet. Viele Zeitungsleute reden darüber wie von einem neuen Hunneneinfall. Die Hunnen kamen vor 1500 Jahren aus dem Nichts, schlugen alles kurz und klein (und verschwanden hundert Jahre später wieder). Das Internet schlägt gar nichts kurz und klein. Das ist doch auch die Lehre aus jeder mediengeschichtlichen Revolution: Kein neues Medium hat je die alten Medien verdrängt. Es kommt zu Koexistenzen. Das Internet ersetzt nicht gute Redakteure, es macht gute Journalisten nicht überflüssig; im Gegenteil: es macht sie noch wichtiger als bisher.

Und es wird weiterhin und mehr denn je gelten: Autorität kommt von Autor und Qualität kommt von Qual. Dieser Qualitäts-Satz Satz hängt zwar in der Hamburger Journalistenschule, aber er gilt nicht nur für Journalistenschüler. Er meint nicht, dass man die Leser und User mit dümmlichem, oberflächlichem Journalismus quälen soll. Qualität kommt von Qual: Dieser Satz verlangt von Journalisten in allen Medien, auch im Internet, dass sie sich quälen, das Beste zu leisten – und er verlangt von den Verlegern, dass sie die Journalisten in die Lage versetzen, das Beste leisten zu können. Dann hat Journalismus eine glänzende Zukunft.

Bleiben wir beim Morgengrauen. Morgengrauen ist der beginnende Übergang zwischen Nacht und Tag. Wenn wir den Journalismus in diesem Übergang verorten könnten – dann könnten wir sehr glücklich sein. Wenn die Nacht zu Ende geht, hat man die Chance, aus dem Tag etwas Gescheites zu machen.
Dr. Heribert Prantl leitet die innenpolitische Redaktion der Süddeutschen Zeitung.

Haltungen, Popper und Moneten – Tom Schimmeck (2007)

Rede von Tom Schimmeck zur Jahreskonferenz des netzwerks recherche, 16. Juni 2007

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als mich der gefürchtete Enthüllungsjournalist Dr. Thomas Leif anrief, um zu fragen, ob ich hier heute das erste große Fass anzapfen, die Auftaktrede halten würde, war ich sehr verblüfft. Genauer gesagt, ich habe gedacht: Die spinnen.

Ich bin wahrlich kein “Alphajournalist”, wie das neuerdings heißt, bestenfalls ein Gamma-Tierchen. Ein Studienabbrecher, der den Beruf nie formell korrekt gelernt hat. Der nie einen Preis bekommen hat – nicht einmal die „Verschlossene Auster“. Der nie im Fernsehen war.

Vielleicht liegt schlicht eine Verwechselung vor. Man habe sich entschlossen, hieß es in einem der Ankündigungstexte zu dieser hochwohlmögenden Versammlung, mit der schon traditionellen Medienschelte am Samstagmorgen diesmal keinen „alten Hasen“, sondern mal einem „jungen Kollegen“ zu betrauen. Das geht einem nach 28 Berufsjahren wirklich runter wie Butter. Aber man muss doch erkennen: Auch beim Netzwerk Recherche wird das Geburtsdatum nicht immer nachgecheckt.

Die freundlichste Deutung ist, dass einigen Obernetzwerkern womöglich die Texte gefallen haben, die ich in letzter Zeit über den Zustand unseres Metiers verfasst habe. Der erste, ein langgezogener Schmerzensschrei mit dem wenig ausgewogenen Titel „Arschlochalarm“, befasste sich mit jenem verschmockten, völlig inhaltsleeren, dafür umso aufgeblaseneren Zirkus, der sich selbst gerne „Hauptstadtjournalismus“ nennt. Vermutlich in Abgrenzung zur ordinären Dorfschreiberei.

Ein Akt purer Seelenhygiene meinerseits. Entstanden in jenem Wahlkampf, an dessen Ende ein verkorkster Abgang des Kanzlerdarstellers Schröder, ein lausiges Ergebnis seiner inzwischen quartalsweise umjubelten Nachfolgerin und vor allem der Bankrott dessen stand, was in besseren Zeiten politischer Journalismus hieß. Ich erinnere, wie ich eines tristen Tages der Kandidatin Merkel und ihrem neuen Star Kirchhoff lauschte – just auf Mutter Erde herabgepurzelt, um den Menschen Heil und Erlösung zu bringen. Es war ein Riesenschmarren, da vorne auf der Bühne der CDUParteizentrale. Der eigentlich schockierende Moment aber kam, als ich mich umdrehte. Und in die Gesichter einer gewaltigen Zahl von Menschen schaute, die wild entschlossen schienen, den ungelenken Firlefanz auf der Bühne mit ihren Blöcken, Mikrofonen und Kameras zum politischen Großereignis zu verdichten, mit Terabytes von Wörtern, Tönen und Bildern zu zelebrieren. Und sie taten es. Unerschrocken. Wochenlang. Bis einer wie im Märchen rief: Der hat ja gar nichts an! Da war plötzlich „die Geschichte durch“, wie man in Berlin sagt. Nun schrieb man mit gleichem Elan das Gegenteil. Was haben wir uns früher über das „Raumschiff Bonn“ lustig gemacht. Dieses provinzmiefige Provisorium, diesen absurden Quadratkilometer voller Schauspieler, Saufnasen und Seilschaften. In Berlin, das war die Hoffnung, würde ein großstädtischer Wind den Kleingeist wegpusten. Würde endlich wahre, wertige, wuchtige Politik gemacht, geistvoll, gehaltvoll, gut für die Menschen. In Berlin, hurra, würde auch deren Betrachtung und Analyse neue Tiefenschärfe finden. Würde endlich ein Journalismus wachsen, wie er uns kaum je vergönnt war: Genau, galant, scharf, human, humorvoll. Die Weimarer Zeit war zu kurz, die Hitlerei lochte die Talente ein, trieb sie ins Exil oder ermordete sie. Das piefige Bonn bot wohl nie recht den Humus dafür. Von Berlin Ost mal ganz zu schweigen.

Pustekuchen! Was wir bekamen, war die „Berliner Republik“. Viele Scheinwerfer, wenig Schatten. Verglichen mit den Meinungs- Nussschalen, die heute über die Spree tänzeln, hatte manch Bonner Haudegen den Tiefgang eines Tankers. Das klingt wohl ein wenig nach „früher war alles besser“. Was einem „jungen Kollegen“ natürlich gar nicht zusteht. Vielleicht sage ich es mit einem Ausruf des großen, just verstorbenen Stinktiers Lothar Günther Buchheim, der einmal, sich über einen Kollegen echauffierend, rief: „Der nennt sich Publizist – und ich höre immer nur Pups.“

In Berlin passt der Satz gelegentlich sehr gut..

Vieles ist an dieser Stelle schon gesagt worden. Frank A. Meyer hat hier im vergangenen Jahr die Hybris der gleichgeschalteten Meinungsmacher beleuchtet, die totale Geschwätzigkeit und die Galageile Selbstweihräucherungslust unserer sich immer hermetischer abriegelnden Kaste. Er kam dabei übrigens zu einem ganz ähnlichen Schluss wie ich in meinem ersten Wutausbruch: Dass sich viele Medienleute nicht mehr als Mittler zu den Menschen, sondern als Mitinhaber von Macht begreifen. Ihre Währung heißt Wichtigkeit. Sie suchen die Nähe anderer „Wichtiger“, möglichst im Fernsehen. Denn sie haben verstanden: Wer notorisch auf der Mattscheibe herumfuhrwerkt, wird quasi automatisch groß. Die Perpetuierung der eigenen Visage generiert Bedeutung.

Jürgen Leinemann sprach hier vor zwei Jahren sehr aufrichtig über seinen eigenen Schmerz mit unserer Profession, über die Allüren und Lebenslügen der Medienfuzzis, dieses eitle Schaulaufen der journalistischen Selbstvermarkter, das man jetzt häufig bestaunen kann, wenn unsereins zusammenkommt. Seine Rede gipfelte in der Schlussfolgerung, die journalistische Freiheit unserer Republik sei heute – Zitat – “viel weniger durch obrigkeitsstaatliche Pressionen bedroht als durch die weiche Knechtschaft einer eitlen Selbstverliebtheit.” Leinemann ist viel zu loyal, um dies explizit auf seinen “Spiegel” zu beziehen. Wir wissen auch so, wen er meint.

Ich gebe zu: Ich bin kein klassischer Tagungsteilnehmer. Beim letzten Journalistenkongress, den ich freiwillig besucht habe, war ich 16 und Schülerzeitungsredakteur. Ich erinnere, dass er in Frankfurt stattfand, dass er sich gegen “Zensur und Repressalien” richtete. Und dass an der Eingangstür kräftig gebaute Ordner einer DKP-nahen Jugendorganisation standen, die keinen durchließen, der ihnen politisch nicht in den Kram passte. Wir sind gleich alle empört abgereist. Was bedeutet: Ich war eigentlich noch nie freiwillig auf einem Journalistenkongress.

Ich bin lieber unterwegs. In der weiten Welt. Am besten da, wo möglichst wenig andere Journalisten sind. Nicht weil ich ein Snob wäre, sondern weil alle Reportererfahrung lehrt: Je weniger Medienmenschen an einem Ort anwesend sind, desto besser kann sich dort Wirklichkeit entfalten, normalmenschliche Realität. Am schlimmsten ist es, wenn das Fernsehen kommt. Dann bricht alles authentische Leben jäh zusammen. Dann kann man eigentlich nach Hause gehen. Weil im Scheinwerferlicht alle nur noch Huhu und Haha machen, irgendwie wirken wollen und dabei komplett ballaballa werden. Ist einfach so. “Kann man nicht gegenan”, sagt der Hamburger.

Die Reden von Leinemann und Meyer habe ich also nachgelesen. Und mich gefragt: Wie kann man das weiterspinnen? In eine Richtung, die nicht alle schon hundertmal gehört haben. In Leinemanns Rede kam viermal eine Vokabel vor, die ich in letzter Zeit, wenn ich über den Zustand des Gewerbes jammere, auch gerne verwende: Haltung. Nicht im Sinne von Körperhaltung, oder gar Habacht- Stellung. Sondern im guten Duden-Sinne von “Grundeinstellung, die jemandes Denken und Handeln prägt”.

Haltung. Ich glaube, dass viele in unserem Metier mit diesem Wort rein gar nichts mehr anfangen können. Dass es ihnen fremder klingt als Desoxyribonukleinsäure. Aus einer Reihe von Gründen.

1. Die Ausbildung. Da gedeiht ein Dschungel neuer Medienstudiengänge – für junge Menschen, die, wie das heute so schön heißt, “irgendwas mit Medien” machen wollen – TV, PR, Werbung, am besten alles zusammen. Die Zahl der Studenten, meldet der Wissenschaftsrat, habe sich binnen zehn Jahren auf rund 55 000 verdoppelt. Hinzu kommt eine Fülle von Journalistenschulen, über die ich wenig sagen kann, da ich sie höchstens mal als Gelegenheitsdozent von innen gesehen habe. Manche haben große Talente hervorgebracht. Doch der Verdacht bleibt: Dass Geschmeidigkeit hier oft mehr zählt als Charakter.

2. Die Hackordnung. Wer ewig am unteren Ende der Leiter steht, durch einen nie endenden Tunnel von Praktika gezwungen wird, lernt bald, dass Überzeugungen und Prinzipien im Zweifel stören. „Ach, die Jungen“, seufzte neulich die kampferprobte Redakteurin eines öffentlich-rechtlichen Senders, als ich nach dem geistig-moralischen Zustand des Nachwuchses fragte. Dann rührte sie in ihrem Kantinenkaffee und sprach: „Die gucken immer gleich nach, ob noch Platz im Darm ist.“

3. Die Berufsverhältnisse. Der aktuell arbeitende Journalist schuftet, zumal in der Hauptstadt, unter mehrfach durchrationalisierten Stressbedingungen. Jeder einzelne ist von – gefühlt – drei Dutzend PR-Akrobaten, Spindoktoren, Verbandslautsprechern und Pressebeschwörern umstellt, deren bloße Kakophonie ihn schon am Denken hindern könnte. Sofern er überhaupt Zeit dafür hätte.

4. Der Zeitgeist. Da bin ich Experte. Schon weil ich vor 20 Jahren einmal kurzfristig Redakteur eines damals neuen „Zeitgeist-Magazins“ mit dem flotten Namen „Tempo“ war. Seither verfolge ich die Wirrungen des so genannten „Popjournalismus“ mit einer gewissen Faszination. Betrieben wird er meist von Söhnen und Töchtern aus gutem Hause, die viel Freude an Markenprodukten und der narzisstischen Umkreisung des eigenen Bauchnabels haben. Sie unterscheiden streng zwischen “in” und “out”. Ersteres sind in der Regel sie selber, letzteres alle anderen, insbesondere “Prolls”, “Alt- 68er” und alle dieses irgendwie albern engagierte Volk. Politisch endet der Popjournalist nach allerlei Pirouetten verlässlich und sehr pragmatisch irgendwo zwischen Guido Westerwelle und Roland Koch. Sein Feind ist der „Gutmensch“ im schlecht sitzenden Anzug. „Gutmensch“ ist überhaupt eines seiner liebsten Schimpfwörter. Weil er nämliche jede Art von Haltung zutiefst verachtet.

Die Stärke dieser Subspezies Journalist ist ihr üppiges, zuweilen ins Großkotzige changierende Selbstvertrauen. In panischer Angst, einen Trend zu verpassen, am Ende gar die Jugend zu verlieren, haben viele deutsche Chefredakteure solche nassforschen Popper eingekauft. Warum auch nicht? Die sind in der Regel emsig und stören nicht, und deshalb heute in allen Zeitungen und Zeitschriften von Rang vertreten. Manch fruchtbaren Textacker haben sie komplett umgepflügt. Freien Autoren, wie ich einer bin, fällt das regelmäßig auf, wenn sie sich mal wieder fragen: Wo nur bringe ich diese große Reportage noch unter? Oder gar einen richtig analytischen Text? Das ist sehr, sehr schwierig geworden.

 

Das Magazin der „Zeit“, für das ich einst schrieb, ist schon lange tot. Neuerdings findet sich hier ein buntes „Leben“, in dem Helmut Schmidt raucht. Der Herausgeber. Interviewt vom Chefredakteur. Das ist von großer, wenn auch unfreiwilliger, Komik. Das Magazin der FAZ ist auch längst weg, das der „Süddeutschen“ stürzte vor Jahren schon ins kunterbunte Nichts. Auf dem Höhepunkt seiner Pop-Karriere, wir erinnern uns, gab es den hübschen kleinen Skandal um Tom Kummer, diesen tollen Interviewer, der seine schrillen Gespräche mit den Stars leider frei erfunden hatte. Als er erwischt wurde, taufte er den Betrug „Borderline-Journalismus“.

Die beiden SZ-Verantwortlichen, Ulf Poschardt und Christian Kämmerling, wurden furchtbar bestraft. Poschardt durfte bei der “Welt am Sonntag” als cooler Rechtsaußen antreten, Kämmerling beim Radikalumbau der einst seriösen Schweizer “Weltwoche” unter Roger Köppel mithelfen, der nach vollbrachter Tat bekanntlich Chef der deutschen “Welt” wurde. Nun hört man, Kämmerling beschäftige sich mit einem möglichen Neustart des FAZ-Magazins und einer Zeitschrift namens “Heroes”. Ulf Poschardt lenkt derweil das deutsche “Vanity Fair”. Noch so ein Blatt, wo wir alle noch viele kluge Texte unterbringen werden. Auch der Verlag Gruner und Jahr, eine andere bewährte Bastion des Qualitätsjournalismus, schenkt uns ja ständig neue Sturmgeschütze der Aufklärung. “Park Avenue” zum Beispiel. Ich bin eine Spur zu jung, um ein echter 68er zu sein. Aber ich frage mich immer öfter, warum die Generation der geschmeidigen Macher direkt nach mir, diese “Generation Mini-Golf”, wie ein Kollege mal spottete, die 68er derart hasst. Gewiss: Das ganze Generationengerede taugt nur bedingt. Und trotzdem hat jede Zeit ihre Stimmen und Stimmungen, ihren Geschmack, ihre Helden – ihre Haltung. Sie kennen das vielleicht: Wenn man Musik aus der Zeit hört, die einen geprägt hat, kommt das Lebensgefühl wieder. Meine 70er etwa waren eine schrille, oft absurde Zeit voller Widersprüche, Zweifel, Experimente, auch voller Unfug. Aber sehr lebendig, sehr suchend und intensiv. Immerhin haben wir damals die “taz” geschaffen.

Neulich dachte ich: Die armen Popper haben nichts eigenes, die kennen nur “hip” und “retro”, nur Zitate, kein Empfinden. Vielleicht sind sie einfach unendlich neidisch, langweilen sich schrecklich, müssen gähnen beim Anblick ihrer eigenen, ereignislosen Biographie. Immer nur cool gewesen und gut angezogen. Nichts erlebt, nichts ersehnt, nie enttäuscht worden. Wo soll da bitte Haltung herkommen? “Medienalarm” lautet die lärmende Überschrift, die Leif & Co dieser Rede gegeben haben. Also treten wir kurz einmal zurück und betrachten die Lage unserer Medien. Gehen wir zu einem gut sortierten Bahnhofskiosk. Wir sehen: Endlose Meter Zeitungen und Zeitschriften. Sagenhaft. Und dann suchen wir mal jene Publikationen zusammen, in denen wir den feinen Journalismus zu finden hoffen, den wir vom noblen Netzwerk Recherche gerne hoch halten. Welch ein elendes Häuflein.

Ein ähnliches Erlebnis haben Sie alle schon an jenen scheußlichen Abenden gehabt, an denen die Finger auf der Fernbedienung vor lauter vermeintlicher Vielfalt nicht zur Ruhe kommen. Zapp zapp, durch alle Kanäle. Blut, Kitsch und Paris Hilton. Da entsteht oberhalb von C0 schnell echter Unterdruck. Ich, als typischer Tatort-und- Tagesthemen-Konsument, bin fassungslos, wenn ich die Statistiken sehe: 202 Minuten guckt angeblich jeder Durchschnittsdeutsche tagtäglich in die Röhre, zusätzlich hört er 186 Minuten Radio. Zeitungen und Zeitschriften liest er auch noch. Wenn er das nicht alles gleichzeitig macht, kommen dabei rund sieben Stunden Medienkonsum pro Tag heraus. Wann schlafen die Leute eigentlich? Wahrscheinlich vor dem Fernseher.

Als Fernsehmensch würde ich in die Kirche gehen und göttlichen Beistand erflehen. Stellen sie sich einmal diese Verantwortung vor: 82,459 Millionen Einwohner, und ein jeder glotzt 1229 Stunden pro Jahr. Das macht 100 Milliarden Stunden per annum allein in Deutschland. Welch ein geradezu astronomischer Zeitdiebstahl. In Japan – 251 Minuten Tagesdosis – und den USA – 271 Minuten – sind die Verhältnisse noch krasser.

Die wichtigere Frage bleibt die inhaltliche: Was wird gedruckt? Und was quillt aus Deutschlands 43 Millionen angemeldeten Radios und den 37 Millionen angemeldeten Fernsehgeräten? Wenn ich einen masochistischen Tag habe, schalte ich morgens um 5:35 Uhr im Deutschlandfunk die Presseschau aus deutschen Zeitungen ein. Da tröten die hohlen Phrasen der deutschen Meinungs-Armada, die ganze Blechbüchsenarmee der Platitüden scheppert einem durch den noch wehrlosen Kopf. Und weckt diese späte Sehnsucht, endlich doch noch einen anständigen Beruf zu ergreifen. Der Kommentar ist wahrlich nicht die Königsdisziplin in diesem Land. Der “Spiegel” etwa drückt sich hier seit dem Tod Rudolf Augsteine komplett. Die Ideologie quillt wohl zwischen den Zeilen hervor. Eine klar formulierte Meinung aber ist wahrscheinlich Chefsache. Und der Chef hat keine. Können wir da nicht mal etwas tun? Meinung hat ja idealerweise auch etwas mit Haltung zu tun.

Wenn wir weiter an der Radioskala drehen, kommen viele Sender, auf denen “echte Hits” mit aufdringlich fröhlichen Worten verrührt werden. Besonders perfide: Die Sprüche sind immer gleich, werden aber alle paar Sekunden als “echte Abwechslung” angepriesen. Wir müssen hier gar nicht groß auf “die Privaten” schimpfen. Etliche öffentlichrechtliche Programme gehorchen heute der gleichen Dumm-dumm- Rezeptur. Zum Beispiel bei der heute gastgebenden Anstalt NDR, die so bescheiden von sich behauptet, „das Beste am Norden“ zu sein. Auf NDR 2 etwa, dem Sender meiner Jugend, der früher Informationen und Debatten satt lieferte und abends den “Club”, ist Dudeln heute Pflicht. Längst ist der Kanal zum, ich zitiere „attraktiven Begleitprogramm für die jüngere und mittlere Generation” umgemodelt worden. Komplett durchformatiert, harmlos, zahnlos, nur noch gut, um Zeit tot zu schlagen. Kein Journalismus mehr, der beim Netzwerk Recherche Gefallen fände.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist eine wirklich großartige Erfindung. Doch viele seiner Oberen und die sie umgebenden politischen Kräfte, lieber Herr Wulff, scheinen seit vielen Jahren danach zu streben, das zahlende Publikum von jeder tiefer gehenden Einsicht fernzuhalten. Die gründlich ausgeforschte und typisierte Kundschaft wird aufgespalten. Hier die kleine Schar der Unverbesserlichen, die Futter für ihr Hirn verlangen, der „modernen Kulturorientierten“, wie das im Fachjargon heißt. Die bekommen ein paar Info- und Kulturkanäle. Dort die große Restmasse, denen nur mehr sedierende Zerstreuung eingeträufelt wird. Frohsinn und Musik, zwo, drei, dazu ein bisschen Wetter und Verkehr.

Ich war zufällig dabei, als man hier, im ehemaligen „Rotfunk“, Anfang der 80er begann aufzuräumen. Ein Herr Räuker war Intendant. Wer als studentische Hilfskraft auch nur auf den Knopf des Kopierers drücken wollte, musste mindestens im RCDS sein. Ich habe diese Hinrichtung journalistischen Esprits damals in Artikeln so liebevoll beschrieben, dass der Intendant vor versammelter Belegschaft einen Tobsuchtsanfall hinlegte. Den ich, dreist wie ich damals wohl war, hinter der letzten Sitzreihe kauernd, still genoss. Wenig später war ich “Freier” beim NDR. Die Ära fiel sehr kurz aus. Falsche Haltung.

 

Kommen wir zum Kern. Reden wir über’s Geld. Da ist ein „Freier“ Experte. Ahnt irgendjemand hier, wie viel von ihren rund 7,3 Milliarden Euro die öffentlich-rechtlichen Anstalten für guten Journalismus ausgeben? Ein Fernsehautor erzählte mir diese Woche, seine Honorare würden sich auf dem Niveau von vor 20 Jahren bewegen. Bei den Zeitungen, das kann ich halbwegs überblicken, ist nach den Sparrunden der vergangenen Jahre kaum mehr Geld da. Die honorieren in aller Regel dürftig und nach Zeile, was Recherchen geradezu bestraft. Reisespesen sind Glückssache. Selbst ein Hochglanzmagazin wie Geo hat Tagespauschalen längst gestrichen. Für viele freie Autoren ist die Lage bedrückend. Ihnen bleibt kaum Raum für anständigen Journalismus. Manchmal ist es auch eine Frage der Würde. Ein persönliches Beispiel: Nachdem vor fünf Jahren mein Stammblatt „Die Woche“ pleite ging, arbeitete ich unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“. Drei Jahre lang lieferte ich jede Woche zwei Texte, egal, ob ich Fieber hatte oder auf Reisen war. Das machte sogar Spaß. Obendrein war es ein festes Einkommen.

Eines Tages klingelte das Telefon. Der Ressortleiter war dran. „Du, hier läuft ein Typ von Roland Berger rum“, raunte er, „Ende 20, mit Fliege, hochmotiviert.“ „Ja und?“, fragte ich. „Wir müssen Dein Honorar um 25 Prozent kürzen.“ Spontan schlug ich vor, es gleich um 100 Prozent zu kürzen. Ich würde dann einfach aufhören, sagte ich. Weil das kein Umgang mit guter, stets gelobter Arbeit sei. „Das kannst Du doch nicht machen“, brummte er. Wir verabschiedeten uns hastig. Am nächsten Tag rief er wieder an. „Ich hab mir das noch mal überlegt“, sagte er, „wir kürzen das Honorar nur um 12,5 Prozent.“ Das fände ich eigentlich noch schlimmer, antwortete ich. „Warum denn das?“, fragte er. „Weil das keine echte Einsparung mehr ist, sondern nur noch der symbolische Akt, mich über das Roland-Berger- Stöckchen springen zu lassen.“ Dann sehe er keinen Spielraum mehr, sprach der Ressortleiter und legte auf. Die Mitarbeit endete sofort. Monate später schrieb der Chefredakteur eine Email, dass das ja irgendwie blöd gelaufen sei. Seither nichts mehr aus München. So läuft freier Journalismus heute. Vogelfreier Journalismus.

Man schlägt sich so durch. Und ich will nicht larmoyant werden. Mir geht es gut. Ich mache, was ich will. Und das mit Wonne. Welcher Journalist kann das von sich sagen? Ich habe viel zu tun. Nächste Woche fliege ich in die USA, für ein Radiofeature über Kriegsveteranen in der amerikanischen Gesellschaft – „Die Narben des Uncle Sam“. Der Deutschlandfunk, mein Lieblingssender, will das senden, und nicht um 0.45 Uhr, sondern um 19.15 Uhr. Nur die vollen Reisekosten kann auch er nicht tragen. Ich habe versucht, dafür eine Koproduktion einzufädeln. Aber glauben Sie nicht, man könne auf eine Antwort zählen, wenn man einer ARD-Redaktion ein ausführliches Exposé samt persönlichem Anschreiben schickt. In diesem Fall: Kein Ton. Funkstille beim WDR, beim SWR, beim NDR. Ich vermute, jeder Freie kennt das. Manchmal fehlt es eben nicht nur an Mitteln, sondern auch an Manieren.

Wie also rettet man sein Feature-Projekt? In diesem Fall durch einen Bruch mit den hehren Prinzipien des Netzwerks Recherche. „Journalisten machen keine PR“, sagen wir. Ich habe das heftig verteidigt, mit flammendem Wort und erigiertem Zeigefinger. Doch dann meldete sich neulich ein alter Bekannter an und fragte, ob ich für seine Firmenzeitschrift eine USA-Reportage schreiben würde. Kurz durchdacht: Das würde die Reisekosten decken. Mein Feature wäre gerettet. Ich müsste eine nette kleine Rundum-Reportage schreiben, eigentlich nichts ehrenrühriges. Trotzdem ist es natürlich PR; für eine Firmenzeitung; in einem Werbeumfeld. Steinigt mich dafür, wenn Euch danach ist. Oder verratet mir eine Alternative.

 

Ich fasse zusammen:

1. Im heiklen Wechselspiel der „Leitmedien“ und Gleitmedien, der politischen Akteure und der sie umkreisenden Journalisten hat vor allem der politische Journalismus gelitten. Selbst in einst seriösen Zeitungen geht es oft nur mehr um die Frage, welcher Akteur gerade wie dasteht und wie gut sein Sakko sitzt. Die distanzierte Demut des Beobachters weicht dabei der Geltungssucht des Mitmischers, der Menschen und Themen nach Gusto herauf- und herunterschreibt. Reale politische Konflikte werden zunehmend als hässliches Gezänk gespiegelt, die vermeintlichen Sieger und Verlierer täglich neu und oft willkürlich festgelegt. Die Macht professioneller Einflüsterer ist deutlich gestiegen.

2. Mit dem Niedergang ihrer Urteilskraft sinkt auch das Image der medialen Mittler. Am deutschen Film, besonders am deutschen Fernsehkrimi, kann man das gut ablesen. Dort hat sich der Journalist als verlässlich mieser Antityp etabliert, stets schmierig und penetrant. Ein Widerling, der meist im Rudel auftritt.

3 Je unsicherer man ist, desto stärker wird das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung. Die Binnenwelt der Medien gibt sich gerne glamourös, gebiert aus dem Nichts Stars, die sich bei Galas über rote Teppiche schieben. Man zeigt, interviewt, feiert und lobt sich gegenseitig, hängt sich allerlei Medaillen um. So entsteht ein klebriges Miteinander. Dabeisein ist die Währung. Könige sind jene Fernsehgesichter, die durch Dauerpräsenz einen Extra-Marktwert zu schaffen verstehen, oft mit Hilfe öffentlich-rechtlicher Anstalten und ihrer Gebührenzahler. Um solche Prominenz alsdann in klingende Münze umzuwandeln – schon weil sie ab einem bestimmten Wiedererkennungswert als Werbeträger taugen. Journalisten verwandeln sich hier in käufliche Kaufleute. Während das Publikum in Billigformaten zunehmend kannibalisiert, sich selbst zum Fraße vorgeworfen wird.

4. Mut und Eigensinn der Journalisten müssen gestärkt, ihre Arbeitsmöglichkeiten dürfen nicht durch immer knapper werdende Ressourcen eingeschränkt werden. Qualitätsjournalismus brauch guten Raum: Einfallsreiche Programme und Publikationen. Mit jedem Girlie-Blättchen, jedem Shoppingkanal, jedem Dudelsender hingegen verabschieden sich wieder Millionen unterforderte Gehirnzellen in den Vorruhestand.

5. Alljährlich produziert unser Bildungssystem tausende Nachwuchskräfte für unser Metier. Sie landen in einem grellen Medienmarkt, der für analytischen, investigativen, kritischen Journalismus nur noch in Ausnahmefällen Platz und Mittel hat. Denkbar wäre ein Ausbildungsmoratorium für Journalisten. Gekoppelt mit dem Neustart einer Verlegerausbildung. Denn mutige Verleger sind Mangelware. In den Stamm-Verlagen sitzen nur noch Marketingleute, die auf Charts starren und Schickimicki-Ballaballa machen. Keiner, der sich etwas trauen, der sagen würde: Wir schaffen etwas richtig Gutes, das Neugier und Geist und Haltung zeigt. Wir nehmen Geld in die Hand und schicken Talente los, die sich unser Land und die Welt wieder gründlich und von allen Seiten angucken.

 

Zum Schluss: Wir wollen hier nicht zu düster malen. Es gibt eine Menge Leute, die in der Dunkelheit ein Licht anzünden. Nicht nur die arrivierten Damen und Herren vom Netzwerk Recherche, die die Fackel der Wahrheit bekanntlich ja nie aus der Hand legen. Sondern auch viele Journalisten, die etwa in ihrem Lokalblatt einfach aufrichtig über Menschen und Sachverhalte schreiben. Abseits der medialen Büffelherden, die Wucht nur durch bewegte Masse erzeugen. Jeder Tag bringt gute Artikel und Sendungen. Wir leben in einem stabilen, demokratischen Land. Manchmal scheint unser Missmut drückender als die realen Probleme. Deutschland, schrieb Timothy Garton Ash dieser Tage, sei „eines der freisten und zivilisiertesten Länder dieser Erde“. Die Bürgerrechte würden hier besser geschützt als in den USA oder seiner Heimat Großbritannien. Und rühmte dann die „paradoxe“ deutsche Großleistung: „In diesem guten Land haben die Professionalität seiner Historiker, die investigativen Fähigkeiten seiner Journalisten, die Ernsthaftigkeit seiner Parlamentarier, die Großzügigkeit seiner Geldgeber, der Idealismus seiner Priester und Moralisten, das schöpferische Genie seiner Schriftsteller und, ja, die Brillanz seiner Filmemacher sich verbunden, um in der Vorstellungskraft der Welt die unauslöschlichste Verbindung Deutschlands mit dem Bösen zu zementieren.“

Ich finde, trotz etlicher Abstriche im Detail: Das stimmt. Lassen wir uns also unsere Medien nicht versauen. Wie sagte neulich unsere Kanzlerin, bei der Feier zum 80. von Alfred Neven DuMont? „Kaum ein anderer Bereich unserer Gesellschaft prägt Haltungen und Lebensentwürfe ganzer Generationen so stark, wie die Medien dies vermögen.“

Haltungen! Sie sehen: Auch Frau Merkel hat verstanden.

 

Medienfreiheit als Voraussetzung für Demokratieentwicklung? – Gesine Schwan (2007)

Medienfreiheit als Voraussetzung für Demokratieentwicklung?

Vortrag von Prof. Dr. Gesine Schwan anlässlich der netzwerk-recherche- und n-ost-Konferenz am 15. Juni 2007 in Hamburg.

I. Einleitung

Vor einigen Wochen teilte ich mit einigen Journalisten eine Taxi-Fahrt vom Flughafen zu einer Konferenz. Ihr lebhaftes Gespräch – sie waren alle in sog. kritischen Medien tätig – drehte sich durchweg um Quoten und Aufmacher. Dabei ging es durchaus differenziert um ästhetische Fragen und um den Zusammenhang zwischen Aufmacher und Quote – und je höher sie war, desto mehr leuchteten die Augen und desto mehr wuchs der kollegiale Respekt. Das Gespräch wirkte sehr professionell, und man bezog sich auf einen breiten Fächer empirischer Veranschaulichungen. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Priorität der Quote und der demokratischen Verantwortung der Medien stellten sich die Journalisten nicht, sie hätte auch in diesem Zusammenhang ziemlich deplatziert gewirkt – zu grundsätzlich, abstrakt, theoretisch abgehoben. Die Diskrepanz zwischen dem, was diese ganz und gar sympathischen Journalisten offensichtlich vorrangig bewegte und was mich selbst umtrieb, die Diskrepanz nämlich zwischen den Bedingungen des täglichen Erfolgs, der zum individuell-professionellen wie zum institutionellen Überleben der Medien notwendig ist, und dem, was ich als die zentrale und überaus wichtige Verantwortung der Medien in der Demokratie halte, beschäftigt mich nicht erst seit dieser Flughafenfahrt.

Denn kein Mensch würde bestreiten, dass die Medien in der Demokratie eine überaus wichtige Rolle spielen. Aber können sie sich darum angesichts der harten Konkurrenz auf dem Markt überhaupt noch kümmern? Müssen sie nicht in erster Linie eben auf jene Quoten und Absatzzahlen achten, um sich zu behaupten? Sind dazu nicht alle Mittel, die wir im Kampf der Medien beobachten, erforderlich? Kann man infolgedessen die Kluft zwischen der allgemein akzeptierten Grundannahme ihrer demokratischen Verantwortung und den Bedingungen des Geschäfts überhaupt noch überwinden? Oder sollten wir das schöne demokratische Postulat einfach beiseite legen und uns statt dessen auf die insbesondere ökonomisch erfolgreiche Bewältigung des Medienalltags konzentrieren?

Jedenfalls geht das nicht, wenn man danach fragt, ob Medienfreiheit als Voraussetzung von Demokratieentwicklung zu begreifen ist – und dies im Kontext der Erfahrungen in den sog. Transformationsländern Mittelosteuropas. Diese Frage aber habe ich als thematische Aufgabe aufgetragen bekommen. Ich will versuchen, sie zu beantworten, indem ich zunächst den normativen demokratietheoretischen Maßstab zeichne, anhand dessen ich argumentieren möchte. In einem nächsten Schritt skizziere ich die wesentlichen Gefahren, gegen die sich Demokratie fördernde Medien behaupten müssen, um schließlich mit einigen Schlussfolgerungen zu enden.

II. Demokratietheoretische Überlegungen

Die moderne Demokratie entstand – auf der Grundlage eines vorher entwickelten Rechtsstaates – nicht als direkte Demokratie, sondern bedurfte seit dem 19. und erst recht im 20. Jahrhundert der Vermittlung durch Medien, die für eine breitere Öffentlichkeit Informationen und Diskussionen von politischen Vorstellungen und Parteien aufbereiteten und verbreiteten. Das hat einen technisch-erkenntnistheoretischen und einen demokratietheoretischen Aspekt.

Der technische liegt in der Notwendigkeit, Kommunikation auch zwischen den Bürgern herzustellen, die sich nicht direkt miteinander austauschen können. Vermittlung ist also aus rein praktisch-empirischen Gründen notwendig. Solche Vermittlung ist aber nicht als neutral-transparente Übergabe denkbar, sondern wirkt notwendig auf den Inhalt und die Art der Kommunikation ein. Denn genauso wie es keine Erkenntnis als sog. objektive Wiedergabe einer sog. objektiven Wirklichkeit gibt – die Lenin’sche Widerspiegelungstheorie, die verbal immer noch in manchen Köpfen spukt, gehörte zu den erkenntnistheoretisch vielleicht naiven, aber jedenfalls philosophisch unhaltbaren Elementen eines totalitären Kommunismus -, genauso gibt es keine „objektive“ Kommunikation, Mitteilung, Weitergabe von Nachrichten oder Meinungen. Eine Auswahl aus der prinzipiell unendlichen Zahl von Nachrichten und eine damit einhergehende Perspektivität mit wertenden Implikationen über ihre Wichtigkeit bzw. Bedeutung ist unvermeidbar.

Dieses Dilemma kann in einer modernen pluralistischen Demokratie, die nicht nur faktisch eine Vielfalt von Interessen enthält, sondern sie auch als legitim akzeptiert, nicht prinzipiell überwunden, sondern nur demokratiekonform gestaltet werden. Die Grundmaxime dafür liegt in der Forderung, das Spektrum der Interessen breit zu halten, ihr Gewicht vor Einseitigkeit zu schützen und den Raum für eine kontroverse Diskussion zu sichern. Sie bietet die Chance, die einzelnen Interessen und Prioritäten mit Kriterien des Gemeinwohls zu vergleichen, etwa gemäß dem Habermas’schen Kriterium der Verallgemeinerbarkeit der Interessen, und damit zugleich argumentativ die Vielfalt der Lösungsmöglichkeiten und gewollten bzw. ungewollten Folgen und Implikation möglicher Entscheidungen auszuloten, was der Solidität und der Gemeinwohlorientierung der Entscheidung zugute kommen soll. Damit führt bereits der technische Aspekt der Vermittlungsaufgabe von Medien zum zweiten demokratietheoretischen, d.h. zur demokratischen Verantwortung der Medien.

Denn wenn Demokratie die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger an der Politik bedeutet und Politik im wesentlichen die Vorbereitung und Durchführung von Entscheidungen – oder auch Nicht-Entscheidungen bzw. Blockaden – in Bezug auf Angelegenheiten meint, die kontrovers beurteilt werden und alle Bürger betreffen und binden, dann haben gemeinwohlorientierte Ziele nur eine Chance, wenn sich die Bürger darüber verständigen, wenn sie möglichst erschöpfend darüber argumentieren und die Implikationen von Entscheidungen offen legen können. Öffentlichkeit wurde so Jahrzehnte lang demokratietheoretisch als eine Art Filter angesehen, der partikularistische oder willkürliche Politik herauszufinden hilft und das demokratische Gemeinwohl befördert. Immanuel Kant hat es ganz im gleichen Sinne als eine Art Test für die Gerechtigkeit von Entscheidungen bezeichnet, wenn sie zu ihrer Verwirklichung der Öffentlichkeit bedürfen, wozu gehört, dass die Öffentlichkeit dem zustimmen und eine gerechte Interessenabwägung durchführen kann. Wenn man dagegen im Dunkeln munkelt, bleibt die Gerechtigkeit leicht auf der Strecke.

Damit ist zugleich gesagt, dass Demokratie, wie ich sie hier verstehe, nicht einfach ein wertmäßig neutrales Entscheidungsverfahren meint. Vielmehr begreife ich sie als eine normativ gestaltete politische Verfassung und Lebensform. Entsprechend ihrer ideengeschichtlichen wie grundgesetzlichen Bestimmung dient sie dem Ziel, die gleiche Würde aller Menschen im Sinne ihres gleichen Rechts und ihrer gleichen Pflicht zur Freiheit, d.h. zur selbstbestimmten und verantworteten Lebensführung und solidarischen Teilhabe am Gemeinwesen, zu verwirklichen. Zu ihrer Realisierung und Festigung braucht es nicht nur Gesetze und organisierte Institutionen, sondern auch eine politische Kultur, die die die angemessene Handhabung der Institutionen unterstützt. Wir kennen die Maxime, dass Gesetze ihrem Geiste und Buchstaben gemäß angewendet werden sollen. Wir wissen auch, dass man sie immer missbrauchen oder pervertieren kann, weil sich die Wirklichkeit, auf die sie angewendet werden sollen, in kein Gesetz ganz einfangen lässt. In Bezug auf die Gerechtigkeit hat Aristoteles deswegen in seiner berühmten Nikomachischen Ethik am Ende seiner Ausführungen zur Gerechtigkeit das „Gütige“ als ihren Gipfel gerühmt. Es besteht darin, auf ein eigenes Recht zu verzichten, wenn seine Einforderung eine größere Ungerechtigkeit nach sich ziehen würde. Das Gütige als Grundhaltung brauchen wir, so Aristoteles, in einem freiheitlichen Gemeinwesen, weil sich die Gerechtigkeit nie ganz in eine Gesetzesregelung umsetzen lässt.

Wenn Demokratie also auf kulturelle Unterstützung angewiesen ist, dann betrifft das einerseits die Grundhaltung der Bürger. Autoritäre Persönlichkeiten, die ihr individuelles Urteilsvermögen unbefragten Autoritäten unterordnen, die ihren Mitbürgern eher misstrauisch begegnen und nicht leicht mit ihnen kooperieren, die also – das gehört ins Bild – weder Fremd- noch Selbstvertrauen und infolgedessen auch keine Zukunftszuversicht aufbringen, Bürger, die ungeniert ihre partikularen Interessen verfechten, ihre Macht ausnutzen und sich um Fairness nicht scheren, Menschen, die sich abgewöhnt haben, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden oder die die Lüge für ein vertretbares Mittel halten, Gegner auszuschalten – können eine Demokratie nicht aufbauen oder bewahren. Sie zerstören dass Grundvertrauen, das Menschen sowohl für die mutige Gestaltung ihres privaten Lebens als auch für das Gelingen eines freiheitlichen Gemeinwesens, das eben grundsätzlich auf freiwilligen Gehorsam und freiwillige Kooperation baut, brauchen. Vertrauen ist die kulturelle Nahrung, ohne die eine Demokratie verkümmert, ohne die sich die Bürger und Interessengruppen gegenseitig im Wege stehen und blockieren, anstatt die Kraft zur Gemeinsamkeit aufzubringen und etwas zu ihrem gemeinsamen Wohl aufzubauen.

Diese Grundhaltung ihrerseits wird aber – und dies ist das zweite – nicht gedeihen -, wenn die Medien ihr zuwiderhandeln, anstatt sie ihrerseits zu fördern. Wenn Bürger einseitig informiert werden, dann fördert dies Misstrauen, weil es der Komplexität der Wirklichkeit und der gesellschaftlichen Wahrnehmungen, Ansprüche und Interessen nicht gerecht wird. Wenn Medien jenseits der oben kurz skizzierten grundsätzlich-philosophischen Schwierigkeit, angemessen, d.h. in pluralistischer Breite zu kommunizieren, einer ganz anderen Logik folgen, wenn sie um ihres Überleben willen vor allem auf Gewinn aus sein müssen und deswegen verzerrende Kampagnen betreiben, anstatt aufzuklären, dann werden sie ihrer demokratischen Grundverantwortung, an einer gemeinwohlorientierten Öffentlichkeit mitzuarbeiten und damit das gesellschaftliche Vertrauen, das die Demokratie braucht, mitzuschaffen, nicht gerecht. Den zentralen Begriff „Medienfreiheit“ in meinem Thema verstehe ich also nicht als individuell beliebige Willkür, als unbegrenzte „Freiheit von“, sondern als konstitutionell demokratisch geordneten Raum, der Medien vor Willkür und Machtmissbrauch schützt und sie zugleich ihrerseits in ihrer „Freiheit für“ angemessenes Handeln zu dessen Schutz verpflichtet. Welchen Gefahren ist die Medienfreiheit, insbesondere in den Transformationsländern ausgesetzt und wie kann sie zur Demokratieentwicklung in ihnen beitragen?
Die moderne Demokratie entstand – auf der Grundlage eines vorher entwickelten Rechtsstaates – nicht als direkte Demokratie, sondern bedurfte seit dem 19. und erst recht im 20. Jahrhundert der Vermittlung durch Medien, die für eine breitere Öffentlichkeit Informationen und Diskussionen von politischen Vorstellungen und Parteien aufbereiteten und verbreiteten. Das hat einen technisch-erkenntnistheoretischen und einen demokratietheoretischen Aspekt.

Der technische liegt in der Notwendigkeit, Kommunikation auch zwischen den Bürgern herzustellen, die sich nicht direkt miteinander austauschen können. Vermittlung ist also aus rein praktisch-empirischen Gründen notwendig. Solche Vermittlung ist aber nicht als neutral-transparente Übergabe denkbar, sondern wirkt notwendig auf den Inhalt und die Art der Kommunikation ein. Denn genauso wie es keine Erkenntnis als sog. objektive Wiedergabe einer sog. objektiven Wirklichkeit gibt – die Lenin’sche Widerspiegelungstheorie, die verbal immer noch in manchen Köpfen spukt, gehörte zu den erkenntnistheoretisch vielleicht naiven, aber jedenfalls philosophisch unhaltbaren Elementen eines totalitären Kommunismus -, genauso gibt es keine „objektive“ Kommunikation, Mitteilung, Weitergabe von Nachrichten oder Meinungen. Eine Auswahl aus der prinzipiell unendlichen Zahl von Nachrichten und eine damit einhergehende Perspektivität mit wertenden Implikationen über ihre Wichtigkeit bzw. Bedeutung ist unvermeidbar.

Dieses Dilemma kann in einer modernen pluralistischen Demokratie, die nicht nur faktisch eine Vielfalt von Interessen enthält, sondern sie auch als legitim akzeptiert, nicht prinzipiell überwunden, sondern nur demokratiekonform gestaltet werden. Die Grundmaxime dafür liegt in der Forderung, das Spektrum der Interessen breit zu halten, ihr Gewicht vor Einseitigkeit zu schützen und den Raum für eine kontroverse Diskussion zu sichern. Sie bietet die Chance, die einzelnen Interessen und Prioritäten mit Kriterien des Gemeinwohls zu vergleichen, etwa gemäß dem Habermas’schen Kriterium der Verallgemeinerbarkeit der Interessen, und damit zugleich argumentativ die Vielfalt der Lösungsmöglichkeiten und gewollten bzw. ungewollten Folgen und Implikation möglicher Entscheidungen auszuloten, was der Solidität und der Gemeinwohlorientierung der Entscheidung zugute kommen soll. Damit führt bereits der technische Aspekt der Vermittlungsaufgabe von Medien zum zweiten demokratietheoretischen, d.h. zur demokratischen Verantwortung der Medien.

Denn wenn Demokratie die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger an der Politik bedeutet und Politik im wesentlichen die Vorbereitung und Durchführung von Entscheidungen – oder auch Nicht-Entscheidungen bzw. Blockaden – in Bezug auf Angelegenheiten meint, die kontrovers beurteilt werden und alle Bürger betreffen und binden, dann haben gemeinwohlorientierte Ziele nur eine Chance, wenn sich die Bürger darüber verständigen, wenn sie möglichst erschöpfend darüber argumentieren und die Implikationen von Entscheidungen offen legen können. Öffentlichkeit wurde so Jahrzehnte lang demokratietheoretisch als eine Art Filter angesehen, der partikularistische oder willkürliche Politik herauszufinden hilft und das demokratische Gemeinwohl befördert. Immanuel Kant hat es ganz im gleichen Sinne als eine Art Test für die Gerechtigkeit von Entscheidungen bezeichnet, wenn sie zu ihrer Verwirklichung der Öffentlichkeit bedürfen, wozu gehört, dass die Öffentlichkeit dem zustimmen und eine gerechte Interessenabwägung durchführen kann. Wenn man dagegen im Dunkeln munkelt, bleibt die Gerechtigkeit leicht auf der Strecke.

Damit ist zugleich gesagt, dass Demokratie, wie ich sie hier verstehe, nicht einfach ein wertmäßig neutrales Entscheidungsverfahren meint. Vielmehr begreife ich sie als eine normativ gestaltete politische Verfassung und Lebensform. Entsprechend ihrer ideengeschichtlichen wie grundgesetzlichen Bestimmung dient sie dem Ziel, die gleiche Würde aller Menschen im Sinne ihres gleichen Rechts und ihrer gleichen Pflicht zur Freiheit, d.h. zur selbstbestimmten und verantworteten Lebensführung und solidarischen Teilhabe am Gemeinwesen, zu verwirklichen. Zu ihrer Realisierung und Festigung braucht es nicht nur Gesetze und organisierte Institutionen, sondern auch eine politische Kultur, die die die angemessene Handhabung der Institutionen unterstützt. Wir kennen die Maxime, dass Gesetze ihrem Geiste und Buchstaben gemäß angewendet werden sollen. Wir wissen auch, dass man sie immer missbrauchen oder pervertieren kann, weil sich die Wirklichkeit, auf die sie angewendet werden sollen, in kein Gesetz ganz einfangen lässt. In Bezug auf die Gerechtigkeit hat Aristoteles deswegen in seiner berühmten Nikomachischen Ethik am Ende seiner Ausführungen zur Gerechtigkeit das „Gütige“ als ihren Gipfel gerühmt. Es besteht darin, auf ein eigenes Recht zu verzichten, wenn seine Einforderung eine größere Ungerechtigkeit nach sich ziehen würde. Das Gütige als Grundhaltung brauchen wir, so Aristoteles, in einem freiheitlichen Gemeinwesen, weil sich die Gerechtigkeit nie ganz in eine Gesetzesregelung umsetzen lässt.

Wenn Demokratie also auf kulturelle Unterstützung angewiesen ist, dann betrifft das einerseits die Grundhaltung der Bürger. Autoritäre Persönlichkeiten, die ihr individuelles Urteilsvermögen unbefragten Autoritäten unterordnen, die ihren Mitbürgern eher misstrauisch begegnen und nicht leicht mit ihnen kooperieren, die also – das gehört ins Bild – weder Fremd- noch Selbstvertrauen und infolgedessen auch keine Zukunftszuversicht aufbringen, Bürger, die ungeniert ihre partikularen Interessen verfechten, ihre Macht ausnutzen und sich um Fairness nicht scheren, Menschen, die sich abgewöhnt haben, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden oder die die Lüge für ein vertretbares Mittel halten, Gegner auszuschalten – können eine Demokratie nicht aufbauen oder bewahren. Sie zerstören dass Grundvertrauen, das Menschen sowohl für die mutige Gestaltung ihres privaten Lebens als auch für das Gelingen eines freiheitlichen Gemeinwesens, das eben grundsätzlich auf freiwilligen Gehorsam und freiwillige Kooperation baut, brauchen. Vertrauen ist die kulturelle Nahrung, ohne die eine Demokratie verkümmert, ohne die sich die Bürger und Interessengruppen gegenseitig im Wege stehen und blockieren, anstatt die Kraft zur Gemeinsamkeit aufzubringen und etwas zu ihrem gemeinsamen Wohl aufzubauen.

Diese Grundhaltung ihrerseits wird aber – und dies ist das zweite – nicht gedeihen -, wenn die Medien ihr zuwiderhandeln, anstatt sie ihrerseits zu fördern. Wenn Bürger einseitig informiert werden, dann fördert dies Misstrauen, weil es der Komplexität der Wirklichkeit und der gesellschaftlichen Wahrnehmungen, Ansprüche und Interessen nicht gerecht wird. Wenn Medien jenseits der oben kurz skizzierten grundsätzlich-philosophischen Schwierigkeit, angemessen, d.h. in pluralistischer Breite zu kommunizieren, einer ganz anderen Logik folgen, wenn sie um ihres Überleben willen vor allem auf Gewinn aus sein müssen und deswegen verzerrende Kampagnen betreiben, anstatt aufzuklären, dann werden sie ihrer demokratischen Grundverantwortung, an einer gemeinwohlorientierten Öffentlichkeit mitzuarbeiten und damit das gesellschaftliche Vertrauen, das die Demokratie braucht, mitzuschaffen, nicht gerecht. Den zentralen Begriff „Medienfreiheit“ in meinem Thema verstehe ich also nicht als individuell beliebige Willkür, als unbegrenzte „Freiheit von“, sondern als konstitutionell demokratisch geordneten Raum, der Medien vor Willkür und Machtmissbrauch schützt und sie zugleich ihrerseits in ihrer „Freiheit für“ angemessenes Handeln zu dessen Schutz verpflichtet. Welchen Gefahren ist die Medienfreiheit, insbesondere in den Transformationsländern ausgesetzt und wie kann sie zur Demokratieentwicklung in ihnen beitragen?
III. Institutionelle und kulturelle Gefahren für die Medienfreiheit

Als erstes liegt die Gefahr jeglicher politischer Machtkonzentration auf der Hand. Die traditionell bekannte in Diktaturen – gar totalitären Diktaturen – muss ich wahrscheinlich nicht näher beschreiben. Es ist klar, dass das ursprünglich marxistische Argument, die Macht des „Kapitals“ durch die geballte politische Macht des Volkes bzw. seiner Avantgarde zugunsten der wahren Volksherrschaft zu ersetzen, nicht diese letztere, sondern selbsternannte Eliten gegen das Volk privilegiert hat. Diese Gefahr institutionell, auf dem Wege von Verfassungs- und Gesetzesänderungen zu überwinden, gehörte in allen Transformationsländern zu den vorrangigen Aufgaben.

Freilich stand sie vor einer besonders komplexen Herausforderung: die alten Institutionen mit ihren Kadern und kulturellen Gewohnheiten zu überwinden und zugleich den neuen Gefahren wirtschaftlicher Machtkonzentration und der Verabsolutierung kapitalistischen Profitlogik zu wehren. Das Ganze unter Bedingungen eines neuen heftigen Schubs ökonomischer Globalisierung, die durch nationalstaatliche Gesetze kaum zu beeinflussen ist und die den Transformationsländern mehrheitlich ausländische Medieneigentümer beschert hat, mit komplizierten Folgen für das gerade gewonnene Selbstbestimmungsrecht der vom Kommunismus befreiten Gesellschaften. Dabei zeigt sich, dass „Freiheit von“ leichter zu bewerkstelligen ist als „Freiheit für“.

Wo liegen die gefährlichen Folgen der wirtschaftlichen Machtkonzentration und der Verabsolutierung kapitalistischer Gewinnlogik? Aus den öffentlichen Diskussionen der etablierten Demokratien sind sie bekannt, wenn auch in der letzten Zeit m.E. nicht genügend prägnant erörtert. Das Problem liegt wohl weniger im Einfluss der Eigentümer auf die Journalisten als im Zwang des Wettbewerbs, so preisgünstig wie möglich zu produzieren und so erfolgreich wie möglich die Medienprodukte abzusetzen. Die Einsparung von Personal, von fest angestellten Journalisten hat schon seit längerem zu einem klar erkennbaren Qualitätsverlust in Recherche und Analyse geführt. Wenn nicht genügend Zeit und kompetente Personen zur Verfügung stehen, solide informiert und analytisch reflektiert über Sachverhalte und Zusammenhänge zu berichten und sie zu kommentieren, wenn darüber hinaus – auch aus Gründen der Kostenersparnis – die inhaltlich selben Produkte in verschiedener Aufmachung erscheinen, dann leiden darunter die Gründlichkeit der Recherche und die Vielfalt der Aspekte und Argumente, die eine demokratische Öffentlichkeit und mit ihr die handelnden Politikerinnen und Politiker brauchen, um solide und vertrauenerweckende Entscheidungen zu fällen bzw. kritisch zu rezipieren.

Darüber hinaus wächst die Versuchung zur Skandalisierung, um die Auflagenhöhe zu steigern, und zur Banalisierung, um den Stoff mundgerecht zu servieren. Hier glaube ich übrigens, dass die Gesellschaft auch in ihren sehr unterschiedlichen Schichten bereiter ist als generell angenommen wird, komplizierte Sachverhalte zu verstehen, wenn sie Vertrauen in Personen und Institutionen gefasst hat, die dies zu vermitteln suchen.

Mit Skandalisierung und Banalisierung entsteht eine Verzerrung von Wirklichkeit, die über die unausweichliche Perspektivität weit hinaus geht, eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge scheinbar (nicht wirklich!) überflüssig macht und das Vertrauen nicht nur zwischen Politik und Gesellschaft, sondern auch innerhalb der Gesellschaft beschädigt, ja zerstört, weil mit dem Verlust der Wahrheitsbindung auch die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt.

Die Verabsolutierung der Markt- und Wettbewerbslogik unterminiert auch die zur Demokratie erforderliche Verantwortung der Menschen als politischer Bürger, als „Citoyens“ im Unterschied zum „Bourgeois“, weil sie als Konsumenten, nicht als mitverantwortliche Akteure angesprochen werden. Sie können dann bequem im Sessel sitzen und sich den Mund über all die Torheit, die Gewinnsucht, die Lächerlichkeit der handelnden Politik zerfetzen, ohne sich der Verpflichtung zu unterziehen, sich an deren Stelle zu setzen, was heißt: unter Bedingungen der unvermeidlichen Ungewissheit in der Sache und des vielfachen Interessendrucks zu entscheiden, und ohne die Verpflichtung, sich für konstruktive Alternativen verantwortlich zu fühlen.

Damit sind wir schon bei den kulturellen Folgen der institutionellen Markt- und Gewinnlogik. Hier sind Hindernisse auf Seiten der Journalisten zu nennen. Ein völlig verständlicher Ehrgeiz, in dieser Logik zu bestehen, bekräftigt den Wunsch, im Wettbewerb aufzufallen, Punkte zu machen, von anderen zitiert zu werden, auch wenn dies zu Unsachlichkeit und einer Verzerrung führt, die an Lüge grenzt. Denn der Zusammenhang, in den Fakten gebracht werden (die ihrerseits natürlich stimmen müssen), konstituiert deren jeweilige Wahrheit, die nicht absolut zu erreichen, aber durchaus absolut zu verfehlen ist, wenn man z.B. erkennbare Gegenargumente oder widersprechende andere Fakten verschweigt. Und wenn man sich, z. B unter Zeitdruck, nicht an die Verpflichtung hält, Behauptungen anhand unabhängiger alternativer Quellen zu prüfen.

Angesichts eines Wettbewerbs, der einen Kampf aller gegen alle nahe legt und damit aus wirtschaftlichen Gründen eine Situation wie in Hobbes’ politischer Welt der Wölfe herauf führt, reagieren viele Journalisten ausgesprochen allergisch, wenn man sie ihrerseits kritisiert, begreifen sie sich doch als Wächter der Öffentlichkeit, deren Autorität und Unparteilichkeit außer Frage steht. Die Medien dürfen, sollen, müssen die Politik nicht nur kritisieren – was ja im genauen Wortsinn „sondern“ heißt, also unterscheiden, zwischen gut und schlecht, falsch und richtig etc. und was der Demokratie völlig angemessen wäre. Sie dürfen sie auch vielfach höhnend oder ironisch-überlegen attackieren, aber wehe, die Politik zahlt mit gleicher Münze heim! Dagegen hält die Zunft dann oft wie Pech und Schwefel zusammen, ohne zu begreifen, dass sie der Wahrheit und den ethischen Geboten der Demokratie genauso zu dienen hat wie die Politik. Blind machender Ehrgeiz, Korrumpierbarkeit, Trägheit und mangelnde Moral sind kein Privileg der Politik, sondern Verführungen, denen wir alle ausgesetzt sind und gegen die nur gegenseitige Korrektur und Kritikoffenheit hilft.

Als erstes liegt die Gefahr jeglicher politischer Machtkonzentration auf der Hand. Die traditionell bekannte in Diktaturen – gar totalitären Diktaturen – muss ich wahrscheinlich nicht näher beschreiben. Es ist klar, dass das ursprünglich marxistische Argument, die Macht des „Kapitals“ durch die geballte politische Macht des Volkes bzw. seiner Avantgarde zugunsten der wahren Volksherrschaft zu ersetzen, nicht diese letztere, sondern selbsternannte Eliten gegen das Volk privilegiert hat. Diese Gefahr institutionell, auf dem Wege von Verfassungs- und Gesetzesänderungen zu überwinden, gehörte in allen Transformationsländern zu den vorrangigen Aufgaben.

Freilich stand sie vor einer besonders komplexen Herausforderung: die alten Institutionen mit ihren Kadern und kulturellen Gewohnheiten zu überwinden und zugleich den neuen Gefahren wirtschaftlicher Machtkonzentration und der Verabsolutierung kapitalistischen Profitlogik zu wehren. Das Ganze unter Bedingungen eines neuen heftigen Schubs ökonomischer Globalisierung, die durch nationalstaatliche Gesetze kaum zu beeinflussen ist und die den Transformationsländern mehrheitlich ausländische Medieneigentümer beschert hat, mit komplizierten Folgen für das gerade gewonnene Selbstbestimmungsrecht der vom Kommunismus befreiten Gesellschaften. Dabei zeigt sich, dass „Freiheit von“ leichter zu bewerkstelligen ist als „Freiheit für“.

Wo liegen die gefährlichen Folgen der wirtschaftlichen Machtkonzentration und der Verabsolutierung kapitalistischer Gewinnlogik? Aus den öffentlichen Diskussionen der etablierten Demokratien sind sie bekannt, wenn auch in der letzten Zeit m.E. nicht genügend prägnant erörtert. Das Problem liegt wohl weniger im Einfluss der Eigentümer auf die Journalisten als im Zwang des Wettbewerbs, so preisgünstig wie möglich zu produzieren und so erfolgreich wie möglich die Medienprodukte abzusetzen. Die Einsparung von Personal, von fest angestellten Journalisten hat schon seit längerem zu einem klar erkennbaren Qualitätsverlust in Recherche und Analyse geführt. Wenn nicht genügend Zeit und kompetente Personen zur Verfügung stehen, solide informiert und analytisch reflektiert über Sachverhalte und Zusammenhänge zu berichten und sie zu kommentieren, wenn darüber hinaus – auch aus Gründen der Kostenersparnis – die inhaltlich selben Produkte in verschiedener Aufmachung erscheinen, dann leiden darunter die Gründlichkeit der Recherche und die Vielfalt der Aspekte und Argumente, die eine demokratische Öffentlichkeit und mit ihr die handelnden Politikerinnen und Politiker brauchen, um solide und vertrauenerweckende Entscheidungen zu fällen bzw. kritisch zu rezipieren.

Darüber hinaus wächst die Versuchung zur Skandalisierung, um die Auflagenhöhe zu steigern, und zur Banalisierung, um den Stoff mundgerecht zu servieren. Hier glaube ich übrigens, dass die Gesellschaft auch in ihren sehr unterschiedlichen Schichten bereiter ist als generell angenommen wird, komplizierte Sachverhalte zu verstehen, wenn sie Vertrauen in Personen und Institutionen gefasst hat, die dies zu vermitteln suchen.

Mit Skandalisierung und Banalisierung entsteht eine Verzerrung von Wirklichkeit, die über die unausweichliche Perspektivität weit hinaus geht, eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge scheinbar (nicht wirklich!) überflüssig macht und das Vertrauen nicht nur zwischen Politik und Gesellschaft, sondern auch innerhalb der Gesellschaft beschädigt, ja zerstört, weil mit dem Verlust der Wahrheitsbindung auch die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt.

Die Verabsolutierung der Markt- und Wettbewerbslogik unterminiert auch die zur Demokratie erforderliche Verantwortung der Menschen als politischer Bürger, als „Citoyens“ im Unterschied zum „Bourgeois“, weil sie als Konsumenten, nicht als mitverantwortliche Akteure angesprochen werden. Sie können dann bequem im Sessel sitzen und sich den Mund über all die Torheit, die Gewinnsucht, die Lächerlichkeit der handelnden Politik zerfetzen, ohne sich der Verpflichtung zu unterziehen, sich an deren Stelle zu setzen, was heißt: unter Bedingungen der unvermeidlichen Ungewissheit in der Sache und des vielfachen Interessendrucks zu entscheiden, und ohne die Verpflichtung, sich für konstruktive Alternativen verantwortlich zu fühlen.

Damit sind wir schon bei den kulturellen Folgen der institutionellen Markt- und Gewinnlogik. Hier sind Hindernisse auf Seiten der Journalisten zu nennen. Ein völlig verständlicher Ehrgeiz, in dieser Logik zu bestehen, bekräftigt den Wunsch, im Wettbewerb aufzufallen, Punkte zu machen, von anderen zitiert zu werden, auch wenn dies zu Unsachlichkeit und einer Verzerrung führt, die an Lüge grenzt. Denn der Zusammenhang, in den Fakten gebracht werden (die ihrerseits natürlich stimmen müssen), konstituiert deren jeweilige Wahrheit, die nicht absolut zu erreichen, aber durchaus absolut zu verfehlen ist, wenn man z.B. erkennbare Gegenargumente oder widersprechende andere Fakten verschweigt. Und wenn man sich, z. B unter Zeitdruck, nicht an die Verpflichtung hält, Behauptungen anhand unabhängiger alternativer Quellen zu prüfen.

Angesichts eines Wettbewerbs, der einen Kampf aller gegen alle nahe legt und damit aus wirtschaftlichen Gründen eine Situation wie in Hobbes’ politischer Welt der Wölfe herauf führt, reagieren viele Journalisten ausgesprochen allergisch, wenn man sie ihrerseits kritisiert, begreifen sie sich doch als Wächter der Öffentlichkeit, deren Autorität und Unparteilichkeit außer Frage steht. Die Medien dürfen, sollen, müssen die Politik nicht nur kritisieren – was ja im genauen Wortsinn „sondern“ heißt, also unterscheiden, zwischen gut und schlecht, falsch und richtig etc. und was der Demokratie völlig angemessen wäre. Sie dürfen sie auch vielfach höhnend oder ironisch-überlegen attackieren, aber wehe, die Politik zahlt mit gleicher Münze heim! Dagegen hält die Zunft dann oft wie Pech und Schwefel zusammen, ohne zu begreifen, dass sie der Wahrheit und den ethischen Geboten der Demokratie genauso zu dienen hat wie die Politik. Blind machender Ehrgeiz, Korrumpierbarkeit, Trägheit und mangelnde Moral sind kein Privileg der Politik, sondern Verführungen, denen wir alle ausgesetzt sind und gegen die nur gegenseitige Korrektur und Kritikoffenheit hilft.
IV. Die besondere Situation der Transformationsländer

Dies alles gilt bereits für etablierte Demokratien. In Transformationsländern kommt hinzu, dass weder die neuen politischen Institutionen noch erst recht eine demokratische politische Kultur Zeit hatten, sich zu festigen, so dass die Gefahren des kapitalistischen Marktes sich leicht und oft schwer durchdringbar mit denen der überkommenen undemokratischen Traditionen und Eliten der überwundenen Diktaturen verknüpfen und sich dadurch gegenseitig verstärken. Wenn ein vermachteter Medienmarkt mit einer autoritär-diktatorischen Tradition politischer Kultur und unzureichendenden Mediengesetzen zusammen kommen, hat es die Demokratieentwicklung schwer. Überdies machen wir immer wieder die Erfahrung, dass die überkommenen Eliten von ihren sozialen Netzen profitieren und von ausländischen Investoren gern wegen ihrer Gewinn bringenden Effektivität gehalten werden.

Wir haben bisher auf die innere Situation der Transformationsländer geblickt. Aber wie in Westeuropa nach 1945 hängt das Gelingen der Demokratisierung vom europäischen Kontext ab. Die demokratiepolitische Chance der westdeutschen Bundesrepublik lag – neben der Tradition demokratisch-politischer Parteitraditionen von CDU/CSU, SPD und den nicht deutsch-nationalen Liberalen in ihrer Einbettung in die westeuropäische Integration und in die NATO. Mit denselben Argumenten ist für die rasche Aufnahme der postkommunistischen Länder in die Europäische Union plädiert worden. Die Stabilisierung ihrer Demokratien durch die europäische Integration und die Einsparung einer nationalen Verteidigung, die kostspieliger geworden wäre als die Eingliederung in die NATO, waren wichtige politische Gesichtspunkte in der politischen Diskussion.

Umfragen etwa in Polen haben auch gezeigt, dass die mittelosteuropäischen Gesellschaften von der Integration in die Europäischen Union durchaus eine überzeugendere Qualität ihrer Demokratien erwartet haben und erwarten. In Bezug auf die Medien zeigt sich allerdings hier ein besonderes Problem. Denn die Berichterstattung westeuropäischer Journalisten in deren Heimatländern ist nicht immer hilfreich, wenn sie denn überhaupt in nennenswertem Maße stattfindet. Angesichts des historischen Informations- und Interessengefälles von Ost nach West und tief verwurzelter negativer Vorurteile gegenüber dem Osten, war und ist es auch unter demokratiepolitischem Aspekt wichtig, die Befestigung dieser Vorurteile zu vermeiden. Sie geschieht aber leicht, wenn man die neuen Demokratien paternalistisch als defiziente Nachzügler in Sachen Demokratie beschreibt, ohne ihre jeweiligen historischen und kulturellen Voraussetzungen und Besonderheiten zu erläutern und ohne die generellen Probleme einer rasanten Modernisierung unter den besonderen Bedingungen der ökonomischen Globalisierung mit ihren – auch im Westen – gravierenden sozialen Umbrüchen und Verwerfungen zureichend in Rechnung zu stellen.

In Bezug auf Polen z.B. entsteht dann leicht ein Eindruck sozialer Rückständigkeit, religiöser Borniertheit und politischer Sturheit, der sich mit den traditionellen Vorurteilen (sie sind ja fast immer negativ!) verbindet und sie bekräftigt. Wenn die Berichterstattung sich dann zusätzlich auf die Hauptstadt konzentriert und das Land de facto mit seiner jeweiligen Regierung identifiziert und die gesellschaftliche Vielfalt auf einige Skurrilitäten zusammen schnurren lässt, dann weckt und stärkt das negative Einstellungen auf beiden Seiten und dient weder der Entwicklung der nationalen Demokratien noch der demokratischen europäischen Einigung, die ihrerseits die Demokratien stabilisieren könnte.
V. Chancen der Demokratieentwicklung durch die Medien

Aus den bisherigen Überlegungen lassen sich 10 zusammenfassende Forderungen ableiten. Wie immer, wenn es um Demokratisierung geht, müssen wir an institutionelle und an kulturelle Wege denken.

Zu den wichtigsten institutionellen gehört die kluge Verankerung der Medienfreiheit in den neuen demokratischen Verfassungen. Dies ist in der Regel der Fall.
Dazu gehören allerdings auch Mediengesetze, die die Erfahrungen der westlichen Länder ebenso berücksichtigen wie die neue Mischung von diktatorisch-politischen und kapitalistisch-ökonomischen Gefahren. Diese dürfen nicht durch andere Vorschriften (z.B. im Strafrecht oder in Sicherheitsgesetzen oder staatliche Intervention ausgehebelt werden.)
Zentral bedeutend ist dabei die Einschränkung von wirtschaftlicher und politischer Machtkonzentration …
… und eine reflektierte Verbindung von öffentlichen und privaten Medien, wobei die öffentlichen sowohl den parteipolitischen Missbrauch als auch die Blockade einer übertriebenen gesellschaftlichen „Ausgewogenheit“ von Aufsichtsräten vermeiden müssen, weil sonst originelle und unabhängige Kritik „weg-nivelliert“ wird.
Für die Öffentlichen muss genug Raum bleiben, weil die privaten Medien erfahrungsgemäß Information, Analyse und Kultur zu kurz kommen lassen, auf die eine lebendige Demokratie aber angewiesen ist.
und das ist an dieser Stelle und an Ihre Adresse gerichtet vielleicht die wichtigste Anregung: Etablieren Sie medieninterne Jurys, die Missbrauch verfolgen und professionelle Kritik mit wirksamen Sanktionen anwenden. Das wichtigste Konstruktionsprinzip der Institutionen ist die Transparenz. Denn es gibt keine Interessenneutralität und auch keine Objektivität der Medien. Transparenz aber hilft am besten, Interessen zu verfolgen und deren möglichen negativen Konsequenzen entgegenzuwirken.
Zu den kulturellen Elementen
Die institutionellen Regelungen müssen sich mit der Festlegung und immer erneuten öffentlichen Reflexion demokratischer kultureller Standards verbinden, die bis in die Journalistenausbildung reichen sollten.
Auch dies möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich hervorheben: Debatten zwischen unterschiedlichen medialen Positionen halte ich für überaus wichtig, eine Wagenburg-Mentalität unter Kollegen nach dem Motto „right or wrong my colleague“ für dysfunktional. Die Diskreditierung von solchen Debatten als „Zerstrittenheit“ dient der Demokratie nicht, die auf den Austrag der Pluralität von Aspekten zugunsten des Gemeinwohls angewiesen ist. Auch Politikerbeschimpfung, ebenso wie die simple Moralisierung von Konflikten anstelle ihrer sorgfältigen Analyse macht es sich zu leicht und geht an den Notwendigkeiten der Demokratie vorbei
Ganz entscheidend ist m.E. zur Stärkung der Demokratieentwicklung in den Transformationsländern die Europäisierung der öffentlichen Debatten. Dass Polen in Deutschland kritisch über Politik und Gesellschaft ihres Landes urteilen ebenso wie Deutsche in Polen hilft der europäischen Verständigung und Integration und darf nicht zugunsten einer nationalen Regression verunglimpft werden. Wir Deutsche oder: Wir Journalisten oder: Wir Politiker müssen zusammenhalten! – das ist die falsche Devise. Wir müssen alle miteinander fair umgehen, aber zugleich eigenständig und zivilcouragiert. Demokratieentwicklung gelingt nicht mehr rein national, sondern nur noch mindestens europäisch, eigentlich nur noch global.
Die letzte und beste Instanz für das Gelingen von Demokratieentwicklung in unserer ökonomisch und kulturell globalisierten geschichtlichen Situation ist eine wache, kritische in eigener politischer Aktivität (auch etwa der organisierten Zivilgesellschaft) erfahrene Öffentlichkeit, so wie schon die berühmten „Federalist Papers“ in der Diskussion um die amerikanische Verfassung darauf hingewiesen haben, dass gegen allen Missbrauch institutioneller Regelungen allein der „manly spirit“ der Amerikaner eine Garantie zu bieten vermag. Heute gehören allerdings auch, vielleicht ganz besonders die Frauen dazu. Und das ist gut so!

Keine Pressefreiheit ohne Menschenrechte – Barbara Lochbihler

Vortrag von Barbara Lochbihler auf der Jahreskonferenz des Netzwerk Recherche, 15. Juni 2007

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bedanke mich sehr für die Gelegenheit, heute zu Ihnen über die Pressefreiheit sprechen zu dürfen. Sie alle sind Frauen und Männer der journalistischen Praxis, und es wird in den nächsten zwei Tagen auch darum gehen, wie ganz praktisch die Pressefreiheit verletzt wird, namentlich in Osteuropa. Das mir gestellte Thema „Keine Pressefreiheit ohne Menschenrechte“ verlangt hingegen nach Grundsätzlichkeit, und ich will auch gleich ein paar grundsätzliche Anmerkungen machen. Doch auch wir von amnesty international sind Frauen und Männer der Praxis, uns interessiert zunächst und vor allem die konkrete Menschenrechtsverletzung und das davon betroffene Opfer, und auch davon soll in den nächsten 15 Minuten die Rede sein.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte erst kürzlich in einer Entscheidung fest1: „Die Meinungsfreiheit ist eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Selbstbestimmung eines jeden Individuums … Die Freiheit gilt nicht nur der ‚Information’ und den ‚Ideen’, die als vorteilhaft, genehm oder problemlos empfunden werden; sondern auch jenen Informationen und Ideen, die beleidigen, schockieren und stören. Dies verlangen die Gebote des Pluralismus, der Toleranz und der Offenheit, ohne die es eine demokratische Gesellschaft nicht geben kann.“

Der Gerichtshof hätte hier auch sagen können: Das verlangt der Gedanke der Menschenrechte. Ich habe dieses Zitat aus zwei Gründen an den Anfang gestellt. Erstens, weil es von der überragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit für freiheitliche und demokratische Gesellschaften spricht. Und zweitens, weil es den Grundgedanken der Menschenrechtsidee benennt: Die Rechte kommen einem jeden Menschen unveräußerlich zu, egal, ob jemand anderem das nun passt oder nicht, egal, ob sich Herrschende geschockt oder gestört fühlen, und auch weitgehend unabhängig davon, ob sich der Betreffende selbst an die gesellschaftlichen Normen und Regeln hält oder nicht. Und ich will gleich zu Beginn daran erinnern, dass dieser Gedanke noch immer keineswegs selbstverständlich ist. Er hat, schaut man auf die alltägliche weltweite Praxis, noch immer viel im besten Sinne revolutionäres Potential.

Die Pressefreiheit als Menschenrecht: Überspringen wir die gesamte ideengeschichtliche und kämpferische Geschichte der Menschenrechte vor 1945 und betrachten wir die für uns wesentlichen Basisdokumente, die nach der Barbareierfahrung des Zweiten Weltkriegs entstanden. Man stellt zunächst erstaunt fest: Von Pressefreiheit ist da gar nicht so sehr die Rede. Noch im ganzen 19. Jahrhundert war die „Pressfreiheit“ ein umkämpfter und zentraler Begriff emanzipatorischer Anstrengungen. Doch weder in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (AEMR) noch in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 (EMRK) noch im Internationalen Pakt über die bürgerlichen und zivilen Rechte von 1966 (Zivilpakt) kommt der Begriff direkt vor – und dies, obwohl nun individuelle Abwehr und Anspruchsrechte erstmals völkerrechtlichen Rang und Verbindlichkeit erfuhren, d.h. das Individuum als Rechtsträger im supranationalen Kontext anerkannt wurde.

Ganz anders im deutschen Grundgesetz. Artikel 5 schützt mindestens fünf Freiheitsrechte ganz ausdrücklich, nämlich die Meinungsäußerungs und verbreitungsfreiheit, die Informationsfreiheit (aus allgemein zugänglichen Quellen), die Pressefreiheit, die Rundfunkfreiheit, die Film- bzw. Fernsehfreiheit. Und er verfügt, ebenfalls ganz ausdrücklich, ein Zensurverbot.

Dass die menschenrechtlichen Texte hier zurückhaltender sind, mag auch mit unterschiedlichen Rechtsstraditionen zu tun haben, worauf vereinzelt verwiesen wird. Doch der Grund scheint mir ein anderer zu sein, sozusagen ein menschenrechtlicher. Pressefreiheit ist ohne einen größeren menschenrechtlichen Kontext gar nicht zu denken, und auf diesen kommt es an. Sie wird nämlich aus einem umfassenden Menschenrecht auf freie Kommunikation abgeleitet. Artikel 19 der AEMR lautet: „Jedermann hat das Recht auf Freiheit der Meinung und der Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die unbehinderte Meinungsfreiheit und die Freiheit, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut durch Mittel jeder Art sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.“ Die EMRK, Art. 10, behandelt das Recht auf freie Meinungsäußerung – das, als Grundlage, das Recht auf freie Meinung („Geistesfreiheit“) einschließt. Medien werden eher implizit bzw. negativ behandelt: Absatz 1 stellt fest, dass Staaten die Rundfunk- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen können. Die Printmedien sind nicht genannt. Der völkerrechtlich verbindliche Zivilpakt greift die Meinungsfreiheit ebenfalls in seinem Artikel 19 auf und spezifiziert sie als die Freiheit, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.“ Hier immerhin ist das gedruckte Wort genannt. Aber auch hier ist deutlich: Es geht um einen größeren Gesamtzusammenhang.

Pressefreiheit ist also als Teil der Meinungsfreiheit ein Menschenrecht. Das Bundesverfassungsgericht bewertet die Meinungsfreiheit in seiner ersten grundlegenden Entscheidung zum Artikel 5 GG in kaum zu überbietender Weise: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarer Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt…. Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend (….) Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt.“ (BverfGE 7, 198 (208), v. 15.1.1958).

Die Meinungsfreiheit – oder auch Meinungsäußerungsfreiheit – wiederum steht im Kontext und in Beziehung zu anderen Menschenrechten. Schaut man auf die unmittelbare Nachbarschaft des Artikel 19 der AEMR und des Zivilpakts, so finden wir in Art. 18 die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, in Artikel 20 (bzw. 21 und 22 im Zivilpakt) die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Der Zivilpakt schiebt übrigens als Artikel 20 das Verbot jeder Kriegspropaganda sowie von Hassreden dazwischen, genau jene Einschränkung, die amnesty international im Zweifelsfall an die Meinungsfreiheit anlegt.

Beide „Nachbarrechte“ – die Gedanken-, Gewissen- und Religionsfreiheit wie die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit zählen sowohl im privatpersönlichen wie im öffentlichkeitsbezogenen Verständnis zu den fundamentalen Menschenrechten.

Ich will noch kurz auf einen anderen Kontext verweisen. Ab Artikel 22 benennt die AEMR eine ganze Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Rechten: Das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 22); Das Recht auf Arbeit und gerechte Entlohnung (Art. 23); Das Recht auf Gesundheit (25), auf Bildung (Art. 26). Diese „Wirtschaftlichen, Sozialen und Kulturellen Rechte“ bezeichnen Juristen gerne als Anspruchsrechte, im Unterschied zu den Abwehrrechten, zu denen die vorgenannten, darunter die Meinungsfreiheit gehören. Die AEMR stellt bis heute den umfassendsten Katalog freiheitlich-politischer und wirtschaftlich-sozial-kultureller Rechte dar. Und dieses Zusammengehen verweist auch darauf, dass die einen ohne die anderen nicht funktionieren können. Wer sein Recht auf Bildung nicht wahrnehmen kann, also nicht lesen kann, zudem so arm ist, dass Zeitungen zu einem Luxus zählen, der für ihn finanziell unerreichbar ist, für den ist die Pressefreiheit materiell wertlos, solange nicht seine anderen Menschenrechte verwirklicht sind.

Wie steht es um die Pressefreiheit in der Welt? Nicht gut, das wissen Sie aus Ihrer Arbeit. Es würde meine Zeit und Ihre Geduld überfordern, wollte ich hier umfassend Auskunft geben. Mit Osteuropa vor allem werden Sie sich ohnehin ausführlich befassen. Ich greife mal eine Region heraus, die wir im kürzlich vorgestellten Jahresbericht 2007 unter dem Stichwort Meinungs- und Pressefreiheit im Fokus hatten: Den Nahen Osten.

Die meisten Regierungen im Nahen Osten waren im Jahr 2006 darauf bedacht, die Kontrolle über die öffentliche Meinung zu behalten, und setzten der Äußerung abweichender Meinungen enge Grenzen. Medien riskierten strafrechtliche Verfolgung, wenn sie Vertreter der Regierung oder anderer staatlicher Stellen kritisierten. In Algerien, Ägypten und Marokko wurden Journalisten auf der Grundlage von Gesetzen über Verleumdung strafrechtlich verfolgt, während im Iran nach wie vor Zeitungen ihr Erscheinen einstellen mussten oder Journalisten inhaftiert oder misshandelt wurden. Die staatlichen Kontrollen erstreckten sich auch auf das Internet. Die Regierung von Bahrain verbot mehrere Webseiten, und die syrischen Behörden blockierten den Zugang zu Homepages, auf denen Nachrichten und Kommentare über Syrien angeboten wurden. In Ägypten und im Iran wurden Blogger, die die Behörden kritisiert hatten, in Haft genommen. Menschen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung einforderten, riskierten ihre Festnahme und Inhaftierung sowie Schikanen und Einschüchterungsmaßnahmen. Besonders groß war diese Gefahr im Iran, in Syrien, Tunesien und der Westsahara.

Der Rückschlag, den die Menschenrechte seit 9/11 erfahren haben, hat auch die Pressefreiheit berührt. Konnte man vor 2001 von einem zumindestens theoretischen und zumindest unter Rechtsstaaten vorfindlichen Konsens sprechen, dass internationale Politik den Leitsätzen der Menschenrechte zu folgen habe, so ist dieser Konsens verloren gegangen. Im Gegenteil, es scheint so, als sei heute derjenige begründungspflichtig, der genau darauf pocht – auch im Kampf gegen Terrorismus. Der Primat einer militärisch verstandenen Sicherheitspolitik hat zu Gesetzen geführt, die auch in westlichen Demokratien die Pressefreiheit einschränken – und zu Forderungen, die Pressefreiheit müsse hinter dem Erfordernis der Terrorbekämpfung zurückstehen. In vielen Ländern nehmen Regierungen den Antiterrorkampf als willkommene Legitimierung, die ohnehin betriebene Unterdrückung politischer Opposition und Meinungsfreiheit zu intensivieren. In Usbekistan hat sich das Klima für unabhängigen Journalismus derart verschlechtert, dass die BBC im November ihr Büro in Taschkent schließen musste. In Pakistan sind auch Journalisten unter den Hunderten, die in den letzten Jahren im Zuge des Antiterrorkampfes „verschwunden“ sind. Andere sind noch da, werden aber immer wieder schikaniert und willkürlich verhaftet.

Die Zahl getöteter Journalisten in Kriegsgebieten ist in den letzten Jahren stark gestiegen; allein im Irak kamen seit Beginn des Krieges 2003 mindestens 139 Journalisten gewaltsam ums Leben. Immer öfter sterben Journalisten nicht nur im Kreuzfeuer oder durch Unfälle, sondern durch gezielte Angriffe bewaffneter Gruppen. Stellvertretend für alle erinnere ich an die Korrespondentin des arabischen Nachrichtensenders Al-Arabiya, Atwar Bahjat, ihren Kameramann Adnan Khairallah und den Tontechniker Khaled Mohsen. Sie wurden im Februar 2006 in Samarra nördlich von Bagdad entführt und umgebracht. Ständig steigt auch die Zahl entführter Journalisten, was unterstreicht, dass Journalisten zunehmend Opfer gezielter Maßnahmen werden. amnesty international unterstützt die Forderung, dass internationale Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. amnesty international hat den UN-Sicherheitsrat aufgerufen,solche Maßnahmen zu ergreifen. Der Sicherheitsrat hat am 23.12.2006 die Angriffe auf Journalisten verurteilt und alle Konfliktparteien aufgerufen, solche Angriffe zu beenden. amnesty international hat mit anderen Organisationen eine Kampagne für ein Protective Press Emblem (PEMBLEM) für Medienvertreter in Konfliktgebieten begonnen. Das alles reicht natürlich nicht. Wie alle Zivilisten müssen Journalisten im Krieg geschützt werden, so sieht es das Völkerrecht vor, und wie bei allen völker- und menschenrechtlichen Bestimmungen müssen wir unablässig daran arbeiten, das die Bestimmungen in substantiellen Schutz umgesetzt werden.

In vielen Ländern erlauben nationale Bestimmungen, dass Journalisten eingeschüchtert und verfolgt werden. In der Türkei gibt es ungeachtet zahlreicher substantieller Reformen weiterhin den Strafbestand der „Verunglimpfung des Türkentums“, nunmehr Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches. Diese Bestimmung dient seit Jahrzehnten dazu, kritische Journalisten zu verfolgen. Im Iran sind es Bestimmungen zur „Beleidigung“ der Religion wie Artikel 513 des iranischen Stragesetzbuches, die denselben Effekt haben. Dieser Artikel sieht sogar die Möglichkeit vor, die Todesstrafe zu verhängen. amnesty international fordert seit langem die ersatzlose Streichung des Artikels 301 in der Türkei und anderer vergleichbarer Bestimmungen.

Die Nachrichtentechnik verändert sich, die Verletzungen der Pressefreiheit auch. Wir haben es heute zunehmend mit dem Phänomen der Internetrepression zu tun. Derzeit hoch im Kurs ist das „Chinesische Modell“: ein regierungskontrolliertes Internet, das wirtschaftlichem Wachstum alle Freiheiten, der freien Meinung hingegen keine Chance einräumt. 25 Staaten sind es mindestens, die derzeit im Staatsauftrag inhaltliche Filter für das Internet einsetzen. In China selbst sind Hunderte von Webseiten gesperrt. Angeblich überwachen mehr als 30.000 Polizisten das Internet rund um die Uhr. Wer in China „Demokratie“, „Menschenrechte“ oder „amnesty international“ in eine Suchmaschine eingibt, erhält praktisch keine Treffer. Die Technologie für das Filtern von Suchbegriffen oder das Blocken von websites kommt von ausländischen Unternehmen wie Yahoo, Google, Microsoft oder Cisco. In der deutschen amnesty-Sektion läuft zur Zeit eine erfolgreiche Kampagne, die die Schicksale einiger verfolgter Journalisten herausstellt. Shi Tao ist einer von ihnen, ein 38-jähriger chinesischer Journalist und Dichter. Er bekam eine Redaktionssitzung mit, in der kurz vor dem Jahrestag des Massakers auf dem Tiananmen-Platz ein Richtlinie der Partei zur Kenntnis gegeben wurde. Sie sah strikte Verhaltensvorschriften für die Berichterstattung rund um den Jahrestag vor. Shi Tao mailte die Inhalte dieser Richtlinie unter Pseduonym an die Stiftung „Asia Democracy“ in New York. Monate später stand die Polizei vor seiner Tür. Yahoo hatte die IP-Adresse von Shi Taos Rechner weitergegeben und ihn damit an die Behörden ausgeliefert. Shi Tao erhielt 10 Jahre Haft. Man habe eine Selbstverpflichtung unterschreiben müssen, um in China tätig sein zu können, heißt es bei Yahoo. amnesty international hat im letzten Jahr die Kampagne „irrepressible dot info“ gestartet, die sich gegen die wachsende Zensur im Internet richtet. Auf http://irrepressible.info können Sie online dagegen protestieren.

Erlauben Sie mir zum Schluss ein anlassgemäßes Wort zu meiner Organisation. Wollte man es etwas überspitzen, könnte man sagen: der Embryo von amnesty international ist ein Zeitungsartikel. Jedenfalls setzen wir unser Geburtsdatum auf den 28. Mai 1961, auf den Tag also, an dem in der britischen Zeitung „The Observer“ ein ganzseitiger Artikel des Rechtsanwalts Peter Benenson erschien. Darin rief Benenson dazu auf, sich der Initiative „Appeal for Amnesty“ anzuschließen. Bei der Schilderung der Schicksale stützte sich Benenson wiederum auf Zeitungsberichte. Binnen weniger Wochen wurde Benensons Artikel ganz oder in Auszügen von rund 30 Zeitungen in Europa und den USA übernommen. In diesem Kreis sei noch darauf hingewiesen, dass zu den 14 Gründern der deutschen amnesty-Sektion, die sich noch im selben Jahr 1961 konstituierte, sieben Journalisten und Publizisten gehörten, darunter Carola Stern und Gerd Ruge.

Menschenrechte sind eine öffentliche Angelegenheit. Menschenrechtsarbeit – auch zum Schutz der Pressefreiheit – kann nicht nur den Weg der stillen Diplomatie gehen. Menschenrechtsarbeit ist deshalb notwendig Öffentlichkeitsarbeit. Es liegt in der Idee der Menschenrechte selbst, dass sie Gegenstand einer weltöffentlichen Debatte sind. Öffentlichkeit ist aber auch für die konkrete Arbeit zum Schutz von und Gerechtigkeit für Opfer unverzichtbar. Es ist banal, aber immer wert, sich ins Gedächtnis zu rufen: Der schlimmste Feind der Menschenrechtsverletzung ist Öffentlichkeit. Öffentlichkeit ist Prävention. Öffentlicher Druck ist oft das wichtigste, zu oft das einzige Mittel im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen. Doch die Öffentlichkeitsarbeit von Organisationen wie amnesty international, von Anwälten oder anderen Menschenrechtsverteidigern allein reicht nicht aus. Die Unterstützung durch die Medien ist unabdingbar. Deswegen ist unabhängiger Journalismus aus Sicht der Menschenrechtsarbeit so unverzichtbar, und deshalb gehören Journalisten zu den gesellschaftlichen Gruppen, die Menschenrechtsverletzer besonders im Visier haben. Kritische Journalisten sind für sie nämlich gleichsam existenzbedrohend.

Wir von amnesty international würden Sie nie auffordern, sich mit uns „gemein zu machen“, auch wenn es natürlich „eine gute Sache“ ist, für die wir eintreten. Sie merken, ich spiele auf Ihr Podium morgen Vormittag an. Im Gegenteil, wir wollen, dass Sie unser Material zum Anlass nehmen, selbst über Menschenrechtsverletzungen und Menschenrechtsthemen zu recherchieren um dann unabhängig darüber zu berichten. Wir sind bemüht, seriöse Informationen zu geben, die Ihre Arbeit unterstützen. Wir wünschen uns allerdings, dass Sie vielleicht ein bisschen öfter und prominenter die Themen aufgreifen, die wir „anzubieten“ haben. Denn in der Tat sind wir der Meinung, dass das Thema Menschenrechte nicht beliebig ist, sondern eines, das im Zentrum jeder Politik steht. Denn Menschenrechte sind, um noch einmal den Europäischen Gerichtshof aufzugreifen, „die wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Selbstbestimmung eines jeden Individuums“. Menschenrechte sind also Voraussetzung und Leitlinie für all das, was Politik sinnvollerweise erreichen soll. Und insofern ein Muss für den Journalismus, den Sie hier vertreten.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

1) Albert Engelmann-Gesellschaft vs. Österreich, Entscheidung vom 19. Januar 2006, der Vorfall – der Generalvikar der Erzdiözese Salzburg war 1996 in einer katholischen Zeitschrift u.a. als „Rebell“ bezeichnet worden und hatte auf Verleumdung geklagt und in zwei Instanzen Recht erhalten; die beklagte Zeitschrift wertete die Urteile als Verletzung der Presse- und Informationsfreiheit nach Art. 10 EMRK und bekam beim EGMR Recht.

 

Rede von Frank A. Meyer (2006)

Diese Rede hielt Frank A. Meyer, Chefpublizist des Ringier-Verlages, auf der Jahrestagung des Netzwerks Recherche am 20. Mai 2006

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Die Einladung von Netzwerk Recherche, vor Ihnen eine kurze Rede zu halten, findet ihre Begründung auch darin, dass ich von aussen komme: aus der Schweiz, die für Sie, die Deutschen, politisch zwar fremd, aber kulturell doch nahe ist, also vertraut.

Ich habe bei der Verfertigung dieser Rede gemerkt, dass ich nicht nur von aussen komme, weil ich Schweizer bin. Auch was meine journalistische Tradition und meine Vorstellungen von unserem Beruf betrifft, komme ich irgendwie von aussen.

Darf ich Ihnen dazu zwei Beispiele vortragen:

Das erste Beispiel: Im Hamburger Schauspielhaus wurde vor einer Woche der Henri- Nannen-Preis vergeben. Einen Journalistenpreis! Ein Preis für journalistische Leistung! Die Feier wurde, wie ich lesen durfte, inszeniert als glamouröses gesellschaftliches Ereignis, mit abgesperrten Strassen zur Vorfahrt der Limousinen, mit rotem Teppich, mit Hostessen, mit Showeffekten. Das Programm versprach übrigens, es werde Qualitätsjournalismus erlebbar gemacht.

Die geehrten Kollegen nahmen die Preise zum Teil im Smoking entgegen. Sie hatten über Sterbehilfe und Arbeitslosigkeit, über Kriegsversehrte und Mord und Globalisierungsopfer geschrieben. Sie strahlten, die Henri Nannen-Büste in den Händen.

Aus einem journalistischen Monument meiner Generation hat man ein Bambi gemacht. Die Auszeichnung von Journalismus als ballähnliche Veranstaltung? Eine Gala für Gala. Das irritiert mich. Das macht mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, doch irgendwie ratlos. Gehören wir jetzt alle dazu? Müssen wir dazugehören wollen? Zur Gesellschaft der Erfolgreichen und Reichen, der Schönen und Prominenten? Also zu einer Gesellschaft, der wir doch so lange Zeit skeptisch und mit ätzender Kritik gegenüberstanden? Ich frage ja nur.

Und nun das zweite Beispiel: In der Tageszeitung “Die Welt” las ich, ebenfalls vor einer Woche, wie sehr die Medien unzufrieden seien über die Grosse Koalition von CDU/CSU und SPD. Ich zitiere aus dem Artikel folgenden Satz: “Die Grosse Koalition stellt in der Tat für die Medien ein grosses Dilemma dar.”

Das Klagelied über die medial so unergiebige Grosse Koalition erklingt seit einiger Zeit auch in andern Zeitungen und Zeitschriften. Man ist ganz offensichtlich ungehalten unter den Kollegen über diese Regierung, die den Anforderungen und Wünschen der Medien so ganz und gar nicht gerecht wird.

Die Medien als selbstbezogene gesellschaftliche Kraft, die es zu befriedigen gilt, neben, ja sogar vor allen anderen Kräften wie Wirtschaft und Kultur – und Volk. Noch nie habe ich dieses neue journalistische Selbstverständnis so unverhüllt erlebt wie jetzt gerade in Deutschland.

Vierzig Jahre lang, liebe Kolleginnen und Kollegen, betrieb ich meinen Beruf im Bemühen, als politischer Journalist dem Begriff Medium gerecht zu werden. Das heisst: vermittelndes Element zu sein, also Vermittler zu sein von Meinungen und Stimmungen und Nöten und Freuden. Auch betrieb ich mein Metier im Bewusstsein, nur eine Stimme zu sein unter vielen Stimmen.

Schliesslich war ich stolz darauf, dass mein Berufsstand mit all den eigensinnigen und eigenständigen Kolleginnen und Kollegen die Vermittlerrolle wahrnahm zwischen den verschiedenen Kräften der Gesellschaft, zwischen den verschiedenen Strömungen der Gesellschaft, vor allem zwischen den Bürgern unterschiedlichster kultureller und sozialer Herkunft.

Auch hier bin ich irritiert, sogar befremdet: Die deutschen Medien betrachten sich offenbar als eigenständige Macht, noch vor dem Volk bestimmend für die Politik, insbesondere für die Regierungspolitik.

Da diese neu erwachte Medienmacht gegenwärtig ungehalten ist, überlegt sie sich – anders kann ich es nicht lesen -, ob sie der gewählten Regierung ihre Gunst entziehen will oder nicht. Wie ich es verstehe, kann sich die Regierung auch bessern, indem sie den Medien liefert, was diese fordern, nämlich Hauskrach und Spektakel.

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das neue Rollenverständnis der Medien bringt, wie könnte es anders sein, die Bild-Zeitung auf den Punkt. Im April habe ich dort die folgende Titelzeile gelesen: „Bild-Verhör mit dem früheren Arbeitsminister.“

Sie haben richtig gehört: „Bild-Verhör“ – Bild verhörte Norbert Blüm. Die Zeitung als Staatsanwaltschaft. Solch mediale Anmassung ist mir noch nicht vorgekommen. Hybris ist das. Bei der Auflage-Macht von Bild gefährliche Hybris.

Ich betrachtete die bizzare deutsche Szenerie allerdings bereits während des letzten Wahlkampfes ratlos von aussen. Ich war verwundert über die gleichförmig vorgetragene Entschlossenheit praktisch aller bedeutenden Medien, die damalige Regierung abzuwählen: abzuwählen gewissermassen durch die Medien selbst! Natürlich – leider – durch Mitwirkung der im Grundgesetz immer noch vorgesehenen Wählerinnen und Wähler.

Es hat mich erschreckt. Es hat mich mehr erschreckt, als Berlusconi mich erschreckt hat. In Italien missbrauchte ein Medienmogul seine politische Macht. In Deutschland spielten die Journalisten ganz von selbst konzertierte Macht aus, mit politisch subtiler Bildwahl, mit politisch gezielter Wortwahl, mit der ganzen Kunst des Handwerks. Es war eine Machtdemonstration sondergleichen. Sie stiess, gottlob, auf den demokratischen Widerstand der Bürger.

Lassen Sie mich einige Gedanken – wie gesagt, sehr persönliche Gedanken – vortragen über dieses neue Selbstgefühl der Medien. Und wenn ich Medien sage, meine ich Journalistinnen und Journalisten. Also uns hier:

Neben der Finanzwirtschaft bilden die Medien die einzige Branche, die tatsächlich vollständig globalisiert ist. Die Medien haben ihr Netz über den Erdball geworfen. Niemand entgeht ihnen. Sie sind immer schon da. Rund um den Globus und rund um die Uhr. Sie sind omnipräsent.

Oh, ich weiss! Wir sind nicht schuld daran, wir nutzen nur die Technik, und wir wären pflichtvergessen, täten wir es nicht. Auch sind wir zurückhaltend, geradezu kleinlaut, wenn man uns fragt, wie wir es denn mit dieser Omnipräsenz ethisch und moralisch halten. Wir tun unsern Job. Nach bestem Wissen und Gewissen. Was sollen wir sonst tun?

Für die Konsumenten, wie ja heute Leser, Zuhörer und Zuschauer genannt werden, wirkt unsere Omnipräsenz – glauben Sie mir! – wie Omnipotenz. Und es ist auch so, dass Quantität in eine neue Qualität umschlagen kann. In der Wahrnehmung der Menschen, die sich den Medien, die sich uns Journalistinnen und Journalisten ausgeliefert fühlen, ist dies bereits geschehen.

Ich möchte auch dazu ein Beispiel anführen: Die mächtige, die unbeirrbare, die dogmatisch immer noch so gefestigte katholische Kirche hat erfahren müssen, dass die Medien die grössere Macht sind als der Vatikan.

Sie erinnern sich an das quälend langsame Sterben des Papstes Johannes-Paul II. Sie haben das Bild noch vor Augen, wie er moribund am Fenster sitzt, einen Ölzweig hilflos in der zitternden Hand, den Mund aufgerissen, das Gesicht verzweifelt, der Stimme beraubt. Showtime mit einem Sterbenden.

Fanden wir diese Bilder unwürdig, schamlos, impertinent? Ich habe sie auch hingenommen als Magic moment im Fernsehen, in den Zeitungen und Zeitschriften. Wann hat man schon einen solch dramatischen Augenblick vor der Kamera?

Können wir uns darauf hinaus reden, dass der Vatikan diese Inszenierung seinerseits betrieben habe? Der Vatikan hat sich den Anforderungen des Medienzeitalters angepasst. Er hat sogar Rituale angepasst. Das Beispiel: Seit Jahrhunderten pflegt der Vatikan, die Tore zu schliessen, wenn der Papst tot ist. Auch diesmal wurde das Tor geschlossen. Doch durch die Hintertür bat die Kurie eilfertig das Fernsehen an den Sarg. Auch der tote Papst hatte dem Anspruch der medial total vernetzten Welt-Gesellschaft zu genügen. Darf ich zum Begriff “total” eine ganz böse Provokation hinzufügen: Total und totalitär liegen sehr nahe beieinander. Hat nicht das totale mediale Erfassen von allem und jedem, das totale Entblössen von allem und jedem, das totale Beschwatzen von allem und jedem – hat das nicht etwas Totalitäres?

Die Menschen zappeln in unserem Netz. Das beängstigt sie. Wir Journalisten waren einst die besten Verbündeten Machtloser im Kampf gegen Mächtige, gegen Mächte, vor allem gegen Herrschaftswissen, das die Mächtigen für sich nutzten.

Heute sind wir selbst Mächtige: Wir wissen, wie wir unsere Macht umsetzen und einsetzen. Und unsere Medienmacht ist dem einfachen Bürger ganz und gar nicht transparent. Wir verfügen über Herrschaftswissen. Wir sind zu Machtträgern von eigenen Gnaden geworden.

So hat sich der Beruf verändert, den ich in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts erlernte. Es war damals ein Laufberuf. Ich fuhr zu den Politikern, von denen ich etwas wissen wollte, zu den Beamten, Unternehmern, Künstlern, Forschern.

Ich lebte journalistisch von Begegnungen, von sinnlichen Eindrücken, von Gesichtern, die meine Recherchenarbeit begleiteten. Ich eilte zu Versammlungen und Protestmärschen. Es war ein ununterbrochenes Kennenlernen anderer Menschen.

Wie gestaltet sich der journalistische Alltag heute bei meinen jungen Kolleginnen und Kollegen? Ich sehe sie gebannt am Laptop sitzen. Sie rufen ab, was andere schon formuliert haben. Sie schreiben Geschichten, die sie aus anderen, vorgeformten Geschichten im Netz verfertigen.

Sie zeichnen Portraits aus biographischen Versatzstücken und Gerüchten, wie sie auf dem Internet in Unzahl vorzufinden sind. So werden Vorurteile und Falschurteile, Unwahrheiten und Unterstellungen über Menschen im System nicht nur konserviert, sondern auch regelmässig neu aufbereitet.

Oft sind es vernichtende Bilder, die so gezeichnet werden, in der Regel sind es Bilder voller Häme. Häme hat sich ja mittlerweile durchgesetzt als Stilersatz – Muckefuck statt Kaffee.

Am Bildschirm lässt es sich sehr bequem über Politiker oder Unternehmer journalistisch zu Gericht sitzen. Man begegnet den Opfern nur noch selten.

Richter sollten für einige Monate ins Gefängnis gesteckt werden, bevor sie richten dürfen. Dann wüssten sie, was sie tun. Auch Journalisten sollten einer Kampagne von Kollegen ausgesetzt werden. Dann wüssten sie, was sie anrichten können.

Mehr und mehr lebt unser Berufsstand vom Copy-&-Paste. Sie kopiert sich fortwährend selbst. Seit Jahren schon. Und wie es aussieht, auch in Zukunft.

Ja, so viele – allzuviele – Journalistinnen und Journalisten verlernen es, fiebernd vor Spannung hinauszugehen und nachzusehen, bevor sie schreiben.

Könnte es damit zu tun haben, dass – um ein deutsches Beispiel anzuführen – die Resultate der CDU/CSU und, vor allem, der SPD bei den letzten deutschen Wahlen so viele Kollegen so gewaltig überraschten?

Lasen sie womöglich, vom Laptop hypnotisiert, allzu ausschliesslich die Meinungsumfragen? Und die Meinungen der Kollegen?

Vergassen sie womöglich, an die Wahlveranstaltungen zu eilen, wo sie die Wählerinnen und Wähler hätten erleben können? Wo sie hätten spüren können, was die Menschen begeistert, wen sie mögen, zu wem sie hinstreben?

Auch das nur die Frage eines verwunderten und etwas ratlosen Schweizers.

Erfahren wir noch genügend sinnliches, wirkliches Leben in unserem Beruf?

Küssen Sie einmal einen Bildschirm, dann wissen Sie, woran uns mangelt.

Doch es gibt noch ein weiteres Netz, das uns gefangen hält. Ein intimeres: Wir bewegen uns mehr und mehr und am liebsten untereinander. Neben dem Arbeits-Bildschirm ist die Medienszene unsere engere, unsere enge Heimat geworden. Wir sind auf dem besten Weg, eine Kaste zu werden. Und die eherne Regel jeder Kaste heisst: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.

Ja, man kennt sich in unserem Beruf. Man verhilft sich zu Prominenz: Man interviewt sich gegenseitig, man lädt zu Talkshows ein, der eine den andern, der andere den einen, reihum, man lanciert die Bücher von guten Kollegen, man ignoriert die Bücher von Kollegen, die aus der Reihe tanzen.

Was ist gegen so wunderbare Kollegialität einzuwenden? Nichts. Nirgends eine Verschwörung.

Und dennoch ergeben sich ob so vieler verständlicher Gemeinsamkeiten auch fatale Gemeinsamkeiten: Zum Beispiel ganz plötzlich und ganz ohne böse Absicht ein Mainstream in der Einschätzung von Politik oder Wirtschaft, von Politikern und Unternehmern, von Parteien und Verbänden und Gewerkschaften.

Gesellschaftliche Entwicklungen werden plötzlich, ohne böse Absicht, von den führenden Medien, von den Stimmungs- und Meinungsmachern unter den Journalisten sehr, sehr ähnlich gesehen – fatal ähnlich.

Erliege ich einer Sinnestäuschung, wenn ich mich beim Lesen deutscher Zeitungen und Zeitschriften, beim Konsum deutscher Fernseh- und Radioprogramme des Eindrucks frappierender Gleichförmigkeit nicht erwehren kann?

Die Kanzlerin gestern hui, morgen pfui? Bereits zeichnet sich der neuste Mainstream ab. Wer wagt es noch auszubrechen, andersherum zu denken, neu zu denken? Wer wagt noch den Konflikt, den Schlagabtausch – mit Florett oder mit Schwert – von Blatt zu Blatt, von Journalist zu Journalist?

Und wer wagt noch Kritik an einem Kollegen?

Jüngst sah ich die ganzseitigen Annoncen, auf denen Gross-Talkmaster Kerner für die Aktien von Air Berlin warb. Ich will nicht davon reden, was aus diesen Aktien nach dem Börsengang wurde. Ich will auch nicht reden vom Schicksal der einfachen Kerner6 Zuschauer, die sich auf die Empfehlung ihres Idols eingelassen haben und Air Berlin- Aktien kauften.

Ich frage mich nur, wie ein Journalist – notabene des öffentlich-rechtlichen Programms – dazu kommt, sich für kommerzielle Werbung kaufen zu lassen. Eigentlich hätte ihn die Anfrage von Herrn Hunold in der journalistischen Ehre treffen müssen.

Er hätte das Angebot mit der Frage beantworten müssen: Wofür halten Sie mich, Herr Hunold, dass Sie es wagen, mir, einem Journalisten, ein solch sittenwidriges Angebot zu machen?

Nicht anders hätte Beckmann, der andere Gross-Talkmaster, reagieren müssen, als man ihn als Werbe-Model entdeckte. Als Journalist hätte er reagieren müssen!

Oder kollidieren solche Angebote gar nicht mehr mit den journalistischen Sitten, mit dem Ehrgefühl der Journalisten?

Jedenfalls gab es in der Kaste keinen Aufschrei, nur Nachfragen, ob so etwas denn nicht doch eventuell und überhaupt anrüchig sein könnte. Man wird ja noch fragen dürfen.

Was hätte der deutsche Journalismus mit der geballten Kraft des Mainstreams aus einem Politiker gemacht, der auf ähnliche Weise amts- und funktionsvergessen dem leichten Geldverdienen erlegen wäre? Ja, was macht der deutsche Journalismus mit Ministern, die nur mal auf offiziellem Papier einen Chip für Einkaufswagen empfehlen oder sich von einer PR-Agentur modisch ausstaffieren lassen?

Doch Kerner und Beckmann sind die Szene. Unsere Szene. Kerner und Beckmann sind prominent, sind überaus erfolgreich. Mit Prominenten und Erfolgreichen ist gut dabei sein – und schlecht Kirschen essen.

Man möchte doch so gerne dabei sein, dazugehören, bei Wahlen zu den Siegern, am Wahlabend in der richtigen Parteizentrale. Wehe man steht in der falschen! Ich habe Ihnen gesagt, dass ich hier ganz persönliche Eindrücke vortrage. Hunderte von Artikeln, zahlreiche Sendungen der deutschen Medien haben mir diese Eindrücke vermittelt.

Ich habe noch die Zeit erlebt, da fochten Münchner Journalisten gegen Hamburger Journalisten gegen Berliner Journalisten. Da war der deutsche journalistische Pluralismus fester Bestandteil der demokratischen Kultur.

Es war die grosse Zeit der Krokodile im Tempelweiher der deutschen Medien: Bucerius, Nannen, Augstein, Springer. Ihre vielen Schreiber und Denker und sogar Pamphletisten dazugezählt: von Doenhoff bis Boenisch.

Sie haben sich durchaus immer mal wieder am Hamburger Leinpfad oder auf Sylt zum Butterbrot getroffen – aber sie schenkten sich nichts.

Wie steht es heute mit der gegenseitigen Kritik? Mit der kritischen Berichterstattung der Medien über die Medien? Wir bestehen doch sonst berufsstolz darauf, dass wir keine tabuisierten Bereiche der Gesellschaft kennen.

Das aber würde doch heissen, dass auch wir uns selbst kein Tabu sind. Gerade angesichts der anschwellenden Medien-Macht dürften wir uns selbst kein Tabu sein! Liebe Kolleginnen und Kollegen, während Monaten war der Versuch des Hauses Springer, ProSieben-Sat.1 zu übernehmen, das grosse, auch das spannende politische, wirtschaftliche und kulturelle Thema Deutschlands. Sogar im Ausland wurde darüber berichtet.

Weshalb fand dieses Thema im Spiegel – meinem Blatt, das ich seit 40 Jahren lese, dessen Gründer und Verleger ich verehrte! – warum fand dieses Thema im Spiegel keinen Niederschlag als Titelgeschichte? Natürlich wurde berichtet, gerade so, dass die wohltemperierte Tonalität dem mit journalistischen Usanzen unvertrauten Leser nicht auffiel – also ohne Biss, Dienst nach Vorschrift sozusagen.

Wie ist das zu erklären? Vielleicht wissen Sie mir die Antwort? Meine Ratlosigkeit ist gross.

Wenn die Journalisten sich zur Kaste formieren, wenn die Medienwelt eine in sich geschlossene Welt wird, wenn die journalistischen Chefs und ihre Ideologen sich informell immer stärker vernetzen, dann kommt jemand zu kurz: Der Bürger! Und damit die lebendige Demokratie!

Der Chefredaktor des Stern hat im vergangenen März über einen Kommentar den Titel gesetzt: “Eine kranke Gesellschaft.” Darauf haben sich die deutschen Medien offenbar geeinigt: Die deutsche Gesellschaft ist krank. Ist in der Krise: die Politik ganz grundsätzlich, die Parteien im besonderen, schlimm befallen natürlich die Wirtschaft, aber auch das Theater, der Fussball, die Familie, die Schule, die Universität – alles in kritischem Zustand, bettlägerig, auf der Notfallstation oder bereits im Koma.

Nur die Medien werden von den Medien nicht krank gemeldet, erfreuen sich also in den Augen der Journalisten allerbester Gesundheit! Kann das sein?

Vielleicht kann das sein. Aber ich glaub’s nicht.

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss noch auf eine Erscheinung zu sprechen, die viel zu tun hat mit der künftigen Entwicklung unseres Berufes, nicht nur in Deutschland, auch, zum Beispiel, in der Schweiz:

Welcher Weg führt junge Menschen heute in den Journalismus?

Einst führten ganz verschiedenartige Wege in den Journalismus: verschlungene, mühselige, sozusagen ungepflasterte. Junge und mitunter sogar ältere Menschen ganz und gar unterschiedlicher Herkunft fanden durch ihr Talent, ihre Intelligenz und ihr „feu sacré“ in unseren Beruf.

Es fanden sich darunter gescheiterte Dichter, erschöpfte Weltenbummler, engagierte Weltverbesserer, geläuterte Knastbrüder, bildungshungrige Autodidakten, Menschen mit Berufsabschluss und ohne Berufsabschluss.

Sie alle verkörperten mit ihren divergierenden und konträren Lebenserfahrungen in den Redaktionen den sozialen und kulturellen Pluralismus unserer Gesellschaft – Multikulti im bestem Sinne. Sie garantierten dadurch auch die ganz unterschiedliche Sicht auf das gesellschaftliche Leben, auf Politik und Wirtschaft und Kultur.

Sie hatten das wirkliche Leben schon einmal geschmeckt.

Wie ist das heute? Heute lautet die Herkunft in der Regel so: Studium, allenfalls abgebrochenes Studium, Journalistenschule – also Lebenserfahrung in Form von fünf Paar Markenjeans, die auf Schulbänken durchgescheuert wurden.

Oh ja, ich drücke mich drastisch aus. Aber das werden Sie mir ja wohl als Journalisten nicht ankreiden.

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden täglich und mit Lust über die Probleme, am liebsten über die Katastrophen anderer.

Es ist Zeit, dass wir über uns reden. Kritisch. Am besten sehr kritisch. Und schonungslos. So schonungslos und unpfleglich, wie wir mit den Andern umzugehen pflegen. Ich danke den Veranstaltern, dass sie mir hier vor Ihnen genau dazu eine Gelegenheit eingeräumt haben.

Es ist keine Gala, es gibt keinen Preis, schon gar nicht für meine böse Rede; nirgends liegt ein roter Teppich, ich sehe keine Smokings. Wunderbar. Ich atme Journalismus.

Ich bin glücklich, dass ich meine Sorgen kritischen Kollegen mitteilen durfte. Danke.

Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche (nr) am 19. und 20. Mai 2006 im NDR in Hamburg

Treffen von mehr als 600 Journalisten gilt als Seismograph der Medien-Szene

Unter dem Motto „Mehr Qualität durch Recherche – Von der Kür zur Pflicht“ veranstaltet die Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche (nr) am 19. und 20. Mai 2006 ihre große Medienkonferenz, die ehrenamtlich von Journalisten für Journalisten organisiert wird und bewusst die kontroversen Medienthemen aufgreift. Weiterlesen

Medien im Höhenrausch – von Jürgen Leinemann (2005)

Zum Spannungsverhältnis von Journalisten und Politikern

Rede von Jürgen Leinemann (DER SPIEGEL) auf der Jahrestagung des Netzwerk Recherche am 4. Juni 2005 beim NDR in Hamburg

 

“Wir jagen sie” – In ihrem spannungsgeladenen Verhältnis zu den Politikern geraten auch die Medien in Gefahr, die Bodenhaftung zu verlieren.

Vor zwei Wochen ist Carl Bernstein hier in Hamburg gewesen, der berühmte Kollege von der Washington Post, der zwischen 1972 und 1974 zusammen mit Bob Woodward die Watergate-Affäre aufdeckte, die den Präsidenten Richard Nixon schließlich sein Amt kostete. Ich war damals Korrespondent in Washington, zunächst bei der dpa, später beim SPIEGEL, und ich verfolgte geradezu fiebrig die Ergebnisse der beharrlichen Recherchen dieser beiden Kollegen, die noch jünger waren als ich.

Ja, so müsste eine freie Presse funktionieren, die sich als vierte Macht im Staat verstand. Mein Respekt, ach, meine Bewunderung für die investigative Leistung der beiden Reporter und die aufrechte Haltung der Washington Post hatte fast schwärmerisches Format.

Und nun kommt derselbe Carl Bernstein her und redet vom “Triumph der Idiotenkultur”, wenn er den Zustand der US-Medien beschreibt. Nicht mehr Wahrheitssuche sei häufig der Antrieb für die Berichterstattung im amerikanischen Journalismus, sagt er, sondern Gerüchte, Prominente und Sensationen. Viel zu oft berichte die Presse ohne gesellschaftlichen Kontext, setze auf Klatsch und Tratsch und widme sich aufgeblasenen Debatten. Bernstein wundert es nicht, dass 45 Prozent der Amerikaner nichts oder nur noch wenig von dem glauben, was in der Zeitung stehe.

Was sind wir doch fein raus. In Deutschland halten – Umfragen zufolge – immerhin noch 80 Prozent der Menschen wenigstens die Zeitungen für glaubwürdig. Und Stern-Chefredakteur Andreas Petzold wird mit dem triumpfierend klingenden Satz zitiert “Wir können hier in einer offeneren Atmosphäre arbeiten, und das deutsche Publikum goutiert die Wahrheitsfindung”.

Das mag so sein. Wer könnte auch was gegen Wahrheitsfindung haben? Allerdings bezweifele ich, dass tatsächlich noch allzu viele unserer geneigten Leser die Wahrheit ausgerechnet in den Medien zu finden hoffen.

Seit Monaten tingele ich nun mit meinem Buch “Höhenrausch” zu Lesungen und Diskussionen durch die Lande. Und ob in Trier oder Weimar, Lüneburg, Bottrop oder Regensburg – immer sind sich die Zuhörer ganz schnell darüber einig, dass es zwei Schurken gibt im politischen Spiel – die Politiker und die Medienmenschen. Die Bürger, die zu solchen Veranstaltungen kommen, ältere zumeist, sind politisch interessiert, informationshungrig, ziemlich gebildet – und absolut verunsichert

Nein, sie trauen uns nicht wirklich mehr, glaube ich.

Und haben sie nicht Gründe genug? Es ist ja nicht nur der Bundeskanzler, der auch im deutschen Journalismus “einen Trend in Richtung Boulevardisierung, Personalisierung und auch Skandalisierung” feststellt. Dass auch in der Bundesrepublik die Medien in der Krise stecken, wird seit Jahren überall beklagt und diskutiert, nicht zuletzt von uns selbst.

Über die strukturellen Ursachen – den technischen Wandel, die Abhängigkeit von Auflagen und Quoten, von Anzeigen und Werbespots und der daraus resultierende Kostendruck – will ich heute nicht reden. Darüber wissen andere hier besser Bescheid. Ich möchte mich stattdessen auf uns beschränken – auf uns Journalisten – und auf die Frage, wieviel wir wohlmöglich als Personen zum dramatischen Qualitätsverfall im Journalismus beitragen, über den sich beispielsweise die Politiker parteiübergreifend einig sind.

Und ich frage mich, ob es uns wirklich soviel anders ergeht als denen, über deren Gefährdung durch die Macht ich mich in meinem Buch ausgelassen habe.

Drei Gründe hat der ehemalige tschechische Staatspräsident Vaclav Havel einmal für die Sehnsucht eines Menschen nach politischer Macht aufgeführt: die Vorstellung von einer besseren Gesellschaftsordnung, Selbstbestätigung und Privilegien. Sollten diese Kategorien nicht auch in unserem beruflichen Selbstverständnis eine Rolle spielen?

Sind es denn wirklich nur die Politiker, die ihre enormen Möglichkeiten auskosten, sich selbst zu bestätigen , indem sie – wie Havel sagt – “weithin sichtbare Abdrücke der eigenen Existenz” hinterlassen? Und behaupten nur sie, dass die vielen Privilegien, die notwendiger- und erfreulicherweise ihr Berufsleben begleiten, nichts anderes seien, als quasi unvermeidliche Zugaben zur hehren Gemeinwohl-Aufgabe?

Es gehörte für mich zu den unerwünschten Folgen und Nebenwirkungen der Watergate- Affäre vor mehr als dreißig Jahren, dass Richard Nixons verzweifelter und erbarmungsloser Kampf um sein Amt mich zum ersten Mal auf solche Parallelen aufmerksam machte. O ja, ich vermochte mich so gut einzufühlen in die Lebenslügen des gehetzt wirkenden amerikanischen Präsidenten, dass ich sein Scheitern früh voraussagte. Aber warum? Heute weiß ich, was ich damals verdrängte – ich tickte wie er und die meisten politischen Karrieristen.

Ich teilte ihren unersättlichen Hunger nach Anerkennung und Bestätigung. Wie sie sah auch ich mich bald nicht nur auf der Erfolgsleiter, sondern zugleich auf der Flucht vor der immer unangenehmer werdenden Realität aus Selbstzweifeln, Furcht vor dem Scheitern und quälenden Fragen nach dem persönlichen Preis für die Karriere. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend war ich schnell weit gekommen. Mit 34 Jahren wurde ich Büroleiter des SPIEGEL in der amerikanischen Hauptstadt.

Da war damals zwar noch nicht viel zu leiten, aber zu viel für mich: ich begann zu ahnen, dass ich meinem Aufstieg nur unzureichend gewachsen war. Zwar hatte ich gelernt, die Erwartungen meiner Umwelt zu erkennen, und ich war auch talentiert und fleißig genug, sie zu erfüllen. Doch meinem äußeren Aufstieg fehlte das innere Gegengewicht. Ich brauchte Erfolg, um meine Selbstzweifel zu kompensieren. Ich war hungrig nach Lob und Zustimmung, um meine Ängste zu ersticken. Und ich arbeitete bis zur Bewusstlosigkeit, um meinen Aufstieg zu rechtfertigen und meinem Leben einen Sinn zu geben.

Dabei half mir zunächst, dass ich – ohne je ein Journalismusseminar besucht zu haben – eine ziemlich verlässliche Vorstellung von den Erfordernissen und Regeln meines Berufes zu haben glaubte. In meinen Phantasien sah ich mich auf der Tribüne des Weltgeschehens sitzen, aufmerksam und objektiv die Ereignisse protokollieren und diese Informationen an urteilsfähige, mündige Bürger weitergeben. Keiner sollte mich manipulieren können, strikt wollte ich der Wahrheit dienen – kurz, ich hatte ein so kitschig edles Selbstbild von mir und meinem Beruf, dass ich eigentlich nur scheitern konnte. Und das passierte ja auch.

Ich versackte in Depressionen, quälte mich beim Schreiben und versuchte, meine Ängste mit Alkohol zu betäuben. Erst nach einer intensiven und schmerzhaften Therapie, mit deren Hilfe ich mein Leben – und meine Arbeit – anders zu gestalten lernte, konnte ich neu anfangen.

Das ist jetzt fast drei Jahrzehnte her. Ich bin noch immer Journalist, aber die Medienlandschaft, zu der ich gehöre, ist eine völlig andere. Sie ist bunt geworden, vielfältig, voller Trallala und Albernheiten, der Werbung nahe und dem Showgeschäft und immer auf Rendite bedacht. Wenn ich heute Publizistikstudenten frage, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, sagt kaum noch einer, dass er Journalist werden möchte. Die meisten wollen “irgendwas mit Medien” machen. Und das reicht dann vom Sportmoderator bis zum Pressesprecher von Attac oder der Dresdner Bank, vom Filmemacher bis zum Werbetexter. Und viele schwärmen von Medienjobs im Internet, von denen ich noch nie gehört habe.

Gewiss, auch den guten alten klassischen Journalisten gibt es noch, sonst wären wir heute nicht hier. Aber in der Familie der Medienberufe stellen wir – die politisch interessierten, für öffentliche Angelegenheiten engagierten Kolleginnen und Kollegen, die melden, erklären, recherchieren und kommentieren, ob auf Papier , im Radio, im Fernsehen oder online – eine Minderheit dar.

Die coolen Smarties aus der Spasskultur-Branche des Feuilletons und der Frohsinns-Wellen halten uns – Sie werden es erfahren haben, meine Damen und Herren – für ziemlich angestaubt, obwohl es kaum noch ideologische Missionare und Menscheitsbeglücker unter uns gibt. Im Gegenteil, die Neigung , auch Politik vor allem nach ihrem Unterhaltungswert zu beurteilen, wächst auch in seriösen Redaktionen.

Und so ist es wohl kein Wunder, dass selbst die etwas altbackene Minderheit der klassischen Journalisten dort, wo sie Mehrheit ist und als “Meute” auftritt – in Berlin etwa, in den Landeshauptstädten und wo sonst noch Politik gemacht wird – im Vergleich zu früher ein ziemlich exotischer, bunter, modebewusster Haufen geworden ist. Stil wird nicht nur geschrieben sondern auch getragen.

Wir Journalisten verkaufen uns – nicht einmal immer bewußt – selbst als Ware im Medium, gegelte Frisuren und unübersehbare Dekolletee’s, Designer Anzüge und kunstvoll dekorierte Schlampigkeit sind Markenzeichen von Akteuren, die sich im Promi-Wettbewerb mit den Showstars der Politik erleben.

Sind wir ihnen nicht auch sonst bis zur Austauschbarkeit ähnlich? Ich habe in meinem Buch darzustellen versucht, wie die Wahrscheinlichkeit, dem Suchtsog des Politikbetriebs zu verfallen und damit die Wirklichkeit neben der Karriere aus den Augen zu verlieren, im Nachkriegsdeutschland von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewachsen ist. Hatten die Alten noch noch ein ereignisreiches Leben vor dem Eintritt in die Politik, kennen die Jungen nur noch ihren Weg nach oben.

Im Medienbetrieb ist es nicht sehr viel anders. Die derzeit in Regierung und Opposition tonangebende Politikergeneration von Erfolgs-Junkies hat es in den Führungsetagen der Redaktionen, Sendern und Fernsehanstalten mit Gleichaltrigen zu tun, die der Mode-Guru Wolfgang Joop – Jahrgang 44, so alt wie Gerhard Schröder und nur ein Jahr älter als Ex-Stern-Chefredakteur und Erfolgs-Buchautor Michael Jürgs – einmal so beschrieben hat: “Ohne Verankerung in Vergangenheit oder Zukunft passen wir uns der Chance des Augenblicks an. Unser Ego hat Priorität vor Parteien, Politik und den Parolen von gestern”.

Auch bei den Jüngeren sehe ich keine markanten Unterschiede zwischen Politikern und gleichaltrigen Journalisten. Noch haben die zwischen 1960 und 1980 geborenen Deutschen – ob Ost oder West – keine gemeinsame Physiognomie, allenfalls in ihrer ironisch-larmoyanten Selbstbespiegelung ähneln sie einander. Florian Illies machte diesen Mangel an generationeller Originalität, das fehlende Schicksal, selbst zum zentralen Merkmal der Beschreibung. “Wir sind”, schreibt er, “wahrscheinlich die erste Generation, die ihr Leben nicht mehr als authentisch empfindet, sondern als ein einziges Zitat“. Der Soziologe Heinz Bude äußerte sogar die Sorge, dass diese Generation am Ende einfach wegzudenken sein könnte. Ich zitiere: „Sie ist ganz geschickt, ganz reflexiv, gar nicht blöd – aber spurlos“.

Solche Generationsgemeinsamkeiten verstärken natürlich die Gefahr, dass Politiker und Journalisten einander ungebührlich nahe kommen. Bundeskanzler Schröder hat im vergangenen Jahr an dieser Stelle sein Verhältnis zu mir mit dem Satz beschrieben: “We had rocky times in our mariage”, und da kann ich ihm zustimmen, wenngleich der Ehebegriff mir als Bild nicht glücklich erscheint. Nicht, weil Gerd Schröder so oft verheiratet war, sondern weil er eine Intimität suggeriert, die wir beide – bei aller anfänglichen, fast noch jugendlichen Freundschaftlichkeit unserer Beziehung vor dreißig Jahren – nie empfunden haben. Wir haben uns einen vertrauensvollen Abstand erarbeitet.

Zwischen den beiden Flügeln der politischen Klasse hat immer schon ein symbiotisches Verhältnis bestanden, in Bonn wurde es durch die räumliche Nähe zusätzlich begünstigt. Der Kollege Peter Zudeick hat damals vor einem “Schmiergeld namens Nähe” gewarnt, wobei beide Seiten sowohl als Empfänger wie als Zahler auftreten können. Wer in dieser engen Beziehung wessen Parasit ist, entscheidet sich von Fall zu Fall. Für beide Seiten gilt die schöne amerikanische Faustregel: “If you can not beat them – join them”. Wobei es natürlich immer viel schöner ist, den anderen zu besiegen, als sich an ihn ranzuwanzen.

Nicht nur die Schröders, Fischers und Stoibers betrachten die Art ihrer Medienpräsenz als eine schiere Machtfrage. Auch Journalisten in verantwortlicher Position – und ich spreche jetzt natürlich über alle außer den SPIEGEL – bekennen sich heute ungenierter den je zu ihrem Anspruch, im politischen Geschäft als gleichberechtigter Macht-Mitstreiter agieren zu wollen, obwohl sie von niemanden gewählt und legitimiert sind.

Sie fühlen sich “im Zentrum der Macht”, wie der Leiter eines Berliner Zeitungsbüros einen Kollegen wissen ließ, der sich dessen Meinungsschelte verbat. Und sie leiten daraus Jagdrechte ab. Ein erfahrener Auslandskorrespondent, der seinen Bürochef um Genehmigung für ein Politiker-Porträt bat, erfuhr von dem herablassend, dass die Zeiten, in denen Reporter Politiker begleiteten, um sie beobachten, verstehen und beschreiben zu können, nun wirklich vorbei seien. Ach, sagte da der Berlin-Neuling, und was machen wir jetzt? Antwort: “Wir jagen sie”.

Der Herausgeber der New York Times, Arthur Sulzberger, hat als Rezept gegen solchen Hochmut vorgeschlagen, dass kein Nachwuchsjournalist das College verlassen sollte, ohne wenigstens einmal selbst von den Medien an den Pranger gestellt zu werden.

Politiker fürchten solche Treibjagd-Kampagnen nicht wirklich. Sechzehn Jahre lang hat uns Helmut Kohl ausgelacht, jetzt mopst sich Joschka Fischer: “Zwölfeinhalb Stunden Primetime-Fernsehen, der Traum jedes Politikers” .

Was ihnen die Stars der Medien inhaltlich entgegenzusetzen haben – detaillierte Kenntnisse von Sachverhalten und Personen, politische Urteilsfähigkeit und Erfahrung, schreckt die Schröders, Westerwelles , Pflügers und Co auch nicht. Ego-Gerangel sind sie gewohnt.

Aber dass die Medienfuzzis darüber hinaus mit Schlagzeilen, Bildschirmpräsenz und Sendezeiten locken, vergiftet das Klima. Denn damit sind sie nicht nur aufdringliche Konkurrenten beim Promi- Schaulaufen, sondern leider auch die Vertreiber der unverzichtbaren Wichtigkeitsdroge “öffentliche Aufmerksamkeit”. Dass sie davon abhängig sind, verzeihen die Politiprofis den Medienmenschen nie.

Nicht zuletzt deswegen ist in Berlin das Verhältnis zwischen den gewählten Amtsinhabern und der „plappernden Zunft“, wie Joschka Fischer die Journalisten abschätzig nennt, zunehmend gespannter geworden. Viele der eingespielten Selbstverständlichkeiten zwischen den beiden Flügeln der politischen Klasse haben sich verflüchtigt, der Ton wurde wechselseitig aggressiver, ja verächtlich.

Das unverkennbare Bedürfnis, es einander wenigstens einmal heimzahlen zu können, lässt nicht nur auf vergangene Kränkungen schließen. Es signalisiert einen Machtkampf. Denn die Medienleute verfügen einerseits über die Bühnen, die selbst Bundeskanzler zu ihrer öffentlichen Inszenierung brauchen. Sie inszenieren andererseits aber auch selbst politisches Geschehen, indem sie komplexe Sinnzusammenhänge in Mini-Dramen zerlegen, durch Personen verkörpern oder in symbolischen Schlüsselszenen gipfeln lassen. Damit geraten sie nahezu unausweichlich in Konflikte mit den Politikern um die Deutungshoheit. „So dürfen Sie das nicht sehen“ heißt deren Standart-Mahnung an Journalisten seit Genschers Zeiten.

Zunehmend wird die Kluft tiefer zwischen den Darstellungen, die Politiker – vor allem die jeweils verantwortlichen – von der Welt und den aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Problemen geben, und den Bildern, die Medienmenschen dagegensetzten. Es entstehen getrennte Welten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. „Die Langsamkeit der Politik liefert wenig sichtbare Gestaltungskraft“, sagt Wolfgang Thierse. Im hektischen Tempo der Medienwelt nehmen die Bürger das selbst dann als Unfähigkeit war, wenn ihre eigene Erwartung oder die von den Medien suggerierte ganz und gar absurd ist.

Auf die Bildersturzbäche, die täglich über sie hereinbrechen, hochgejazzt zu Sensationen oder eingesülzt als Beiträge zur unterhaltenden Wissensbereicherung, auf die Wortlawinen und Papiermassen, die Internet-Ströme und die Bücherstapel reagieren die Bürger offenkundig mit einer wachsenden inneren Müdigkeit. Viele schalten ab. Oder sie lassen den Informationsstrom durch sich hindurchrauschen.

Das idealisierte “Prinzip Öffentlichkeit” – seit der Aufklärung gedacht als eine Art übergreifende Gesamtvernunft – funktioniert nicht mehr. Längst hat es seine diskursfördernde und sinnstiftende Funktion für Staat und Gesellschaft verloren und sich aufgelöst in eine neue Unverbindlichkeit unterschiedlicher Teil-Öffentlichkeiten. Das Publikum macht davon nach Belieben seinen eigenständigen Gebrauch.

Dem einzelnen Journalisten, der es nach wie vor ernst meint mit der Funktionsfähigkeit einer demokratischen und sozial gerechten Ordnung, verlangt diese Lage immer aufs Neue den öffentlichen Nachweis seiner professionellen Kompetenz und seiner intellektuellen Redlichkeit ab. Er trägt als Person Verantwortung für das Bild der Welt, das er dem Publikum anbietet. Auf einen etablierten verbindlichen Überbau kann er nicht mehr zurückgreifen. Wenn er im öffentlichen Diskurs mit seinen Informationen und Meinungen gehört oder gesehen werden will, muss er sich und seine Wert- und Zielvorstellungen zu erkennen geben.

Ich selbst bin – davon habe ich in meinem Buch erzählt – bei dem Versuch, meine journalistische Zuschauerposition zu verlassen und mich auch als Zeitgenosse und Bürger zu verstehen, der gegenüber dem Vietnamkrieg, der Rassendiskriminierung und der Watergate -Affäre keineswegs neutral war, in eine lebensbedrohliche Krise geraten. Ich wollte kenntlich werden, aber ich hatte Zivilcourage nie geübt, nur gefordert.

Deshalb rede aus eigener Erfahrung, aber ich spreche nicht nur von mir. Denn ich habe die persönliche Krise durchaus auch zugleich als eine politische und eine journalistische Krise erlebt habe. Und während ich gezwungen war, mich intensiv mit mir selbst, meinen Prägungen, Gefühlen und Erfahrungen zu befassen, habe ich auch viel über andere gelernt. Das hat nicht nur mein Schreiben verändert, sondern auch meinen Blick auf die Politik und auf meine Profession.

In jedem Jahr sterben in vielen Teilen der Welt weit über hunderte Kollegen in Kriegen und Folterstätten, weil sie ernsthaft ihren Beruf ausüben, auch Deutsche. Viele werden getötet, weil sie irgendwelchen Machthabern kenntlich wurden als Beobachter der Weltöffentlichkeit. “Zensur durch Mord” hat Freimut Duve, der Medien-Ombudsmann der Osze, solche Verbrechen genannt – einer wird umgebracht, hunderte schweigen.

Hierzulande ist Kenntlichkeit eher ehrenvoll und einträglich für Journalisten als riskant oder gar lebensgefährlich. Der Medienstar gehört zu den Privilegierten der Gesellschaft.

Unbequem wird Kenntlichkeit bei uns weniger dann, wenn sich ein Journalist als Kritiker gegen die Mächtigen der Regierung hervortut als dann, wenn er den politischen und wirtschaftlichen Interessen seines Arbeitgebers und dessen Freunden schadet. Und unbequem kann es auch sein, die eigenen Freunde zu enttäuschen, von Gegnern Applaus zu bekommen, oder aus konkreten Gründen gegen allgemeine hehre Prinzipien zu verstoßen

Die Journalistische Freiheit wird in der Bundesrepublik heute – davon bin ich nach mehr als vierzig Jahren journalistischer Praxis überzeugt, auch wenn es immer Ausnahmen gibt – viel weniger durch obrigkeitsstaatliche Pressionen bedroht als durch die weiche Knechtschaft einer eitlen Selbstverliebtheit.

György Konrad, der vor dem Fall des Eisernen Vorhangs als ungarischer Dissident Jahrzehnte unter staatlicher Bevormundung gelitten hat und bis vor kurzem der Präsident der Akademie der Künste in Berlin war, behauptet: “Jetzt ist es nicht mehr die Geheimpolizei, die bei den Bürgern Gehirnwäsche betreibt, sondern die als Abfolgen von Moden dahinwogende Oberflächlichkeit”.

Es ist ja wahr, dass die Freiheit der Journalisten – wie der Kollege Siegfried von Kortzfleisch einmal geschrieben hat – “nicht schon dadurch angefochten ist, dass es Versuche gibt, auf sie Einfluss zu nehmen oder ihnen Informationen vorzuenthalten und so fort”. Solche Versuche sind sozusagen normal.

Angefochten wird die Freiheit erst wirklich, wenn Redaktionen oder Journalisten nicht den Anfängen wehren, wenn sie leichtfertig hinnehmen, was man mit ihnen macht oder wenn sie gar in vorauseilendem Gehorsam gegenüber irgendwem vorwegnehmen, was irgendwelche Mächtigen vielleicht tun könnten. Ist nicht die vielbeklagte “Schere im Kopf” oft eher ein Sofa im Kopf? Ausdruck von Bequemlichkeit und nicht von berechtigter Furcht vor Risiken ?

Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass ich nach 35 Jahren Festanstellung beim SPIEGEL leicht reden habe. Aber sie sollten mir auch abnehmen, dass ich nicht wie ein Blinder von der Farbe spreche. Dass Journalismus auch bei uns schon mal einfacher war, ist mir nicht verborgen geblieben. Die Angst um den Arbeitsplatz ermutigt nicht zu Mutproben.

Aber wie auch immer – ein bisschen Selbstbewusstsein sollte schon sein. Wenn wir unsere Arbeit als öffentlichen Auftrag verstehen – und davon gehe ich in diesem Kreis aus – dann kann eine aufrechte Haltung nicht schaden. Redlicher Journalismus ist auch eine Charakterfrage.

Wer sich den aufrechten Gang erhalten will, der braucht ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst und seinen Beruf, einen verantwortlichen, bewussten Umgang mit der eigenen Subjektivität. Sich dem Leben zu öffnen und Erfahrungen zu sammeln, wird nicht auf Universitäten und Journalistenschulen gelehrt, es wird aber auch nicht offiziell behindert.

Sachkenntnis, Wissen um Zusammenhänge und eine verlässliche Personen- und Institutionen-Kompetenz sind unverzichtbare Voraussetzung für eine gut recherchierte Geschichte. Um sie jedoch erzählerisch “rund” zu kriegen, sie richtig zu gewichten und einzuklinken in den Lebens- und Verständniskontext der Leser oder Zuschauer sollte noch eine ganz spezielle Fähigkeit zur Urteilskraft hinzukommen, wie sie der britische Philosoph Isaiah Berlin neben guten Reportern auch erfolgreichen Staatsmännern, Dompteuren, Dirigenten, Dichtern und Müttern zuschreibt. „Wirklichkeitssinn“ nennt er diese Gabe. Sie hat eher mit Verstehen zu tun als mit Wissen, und sie ist durch nichts zu ersetzen. Journalisten ermöglicht sie, bewusst oder halbbewusst die Grundmuster menschlicher oder historischer Situationen aufzunehmen und Fakten als Symptome vergangener und zukünftiger Möglichkeiten zu sehen.

Was er damit meint, beschreibt Berlin so: „Es handelt sich um eine gewisse Vertrautheit mit den relevanten Tatsachen, die sie erkennen lässt, was zu einander passt, was unter den gegeben Umständen getan werden könnte und was nicht, welche Mittel in welcher Situation und in welchem Umfang anzuwenden sind, ohne dass sie zwangsläufig erklären können, warum sie dies wissen, oder worin dieses Wissen überhaupt besteht.“ Diese Fähigkeit, die eher eine der Synthese als der Analyse ist, läßt sich nicht am Schreibtisch oder Computer erlernen, wohl aber im richtigen Leben ausbilden.

Und damit komme ich abschließend noch einmal zurück auf die Watergate-Affäre, die sich ja gerade wieder in unser aller Erinnerung zurückgemeldet hat, weil der geheimnisvolle Informant “Deep Throat” sich selbst enttarnt hat. Bei aller schon anfangs ausgedrückter Bewunderung für die Enthüller des Kriminal-Falls “Watergate” – dass es den amerikanischen Kollegen an Isaja Berlins Synthese-Fähigkeit gebrach, war mir schon damals aufgefallen. Denn den politischen Stellenwert der Affäre erkannten alle ausländischen Korrespondenten besser als die amerikanischen Kollegen. Die verzettelten sich in der Analyse von Analogien in Einzelaspekten zu früheren Präsidentschaften, alle Ausländer sahen Nixons kriminellen Verschleierungsversuch als eine Art verkappten Staatsstreich, als Versuch , von der Spitze aus die demokratischen Grundregeln außer Kraft zu setzen.

Ich nahm mir daher vor, in Bonn mit dem Abstand eines Auslandskorrespondenten auf das Geschehen zu blicken. Das misslang. Als einheimischer Beobachter muss man einfach dichter an die Akteure heranrücken, weil das Publikum mehr wissen will. Aber die Problematik von Nähe und Distanz habe ich seither verinnerlicht. Nur so konnte ich mich bei meinen Porträts emotional so dicht an die Akteure heranwagen, ohne Sorge zu haben, dass ich den Abstand völlig verlieren würde.

Das ist deshalb meine wichtigste Erfahrung, die ich zur Vervielfältigung anbiete; So wie jeder Mensch die Möglichkeit hat, so sollte es für jeden Journalisten selbst auferlegte Pflicht sein, sich durch reflektierte Erinnerung eine Haltung zu erwerben, eine für ihn ganz persönlich charakteristische bewegliche Beharrlichkeit im Umgang mit dem Leben.

In seiner Haltung hat die Freiheit des Journalisten ihren Rückhalt. Wie er auf Ereignisse und auf Menschen reagiert, wie er sich zur Macht und gegenüber Mächtigen verhält, das ist nicht nur individuell relevant, sondern das hat auch politische Folgen. Für mich sind dabei zwei Sätze leitmotivisch geworden. Der erste heisst: Wirklichkeit ist alles, wo man durch muss. Und der zweite ist eine Gedichtzeile von Peter Rühmkorff: “Bleib erschütterbar und widersteh”.

“Medien zwischen Anspruch und Realität” – Johannes Rau (2004)

Rede von Bundespräsident Johannes Rau beim Jahrestreffen des Netzwerk Recherche am 05. Juni 2004 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben mich eingeladen, über die Entwicklung der Medien in Deutschland zu sprechen. Ich habe spontan zugesagt – und will die Gelegenheit gerne nutzen, Ihnen einmal ausführlich darzustellen, welche Artikel mich in den vergangenen 46 Jahren, so lange habe ich jetzt politische Mandate inne, geärgert haben. Ich hoffe, Sie haben genug Zeit mitgebracht …

Nein, im Ernst: Ich habe zum einen zugesagt, weil mich dieses Thema seit langem bewegt, und weil es eine ganze Reihe von Entwicklungen gibt, die mir Sorgen machen. Zum anderen, weil ich viele Journalisten seit langem kenne und schätze, die hier im Netzwerk Recherche zusammengeschlossen sind.

Damit bin ich aber auch schon beim ersten Problem angekommen. Normalerweise freuen sich Menschen ja über Lob. Wenn aber Politiker Journalisten loben, dann fürchten die Gelobten nicht selten eine besonders perfide Form von Rufmord. Das liegt daran, dass Journalisten generell völlig uneitel sind und deshalb gut auf Lob verzichten können – da gleichen sie ja den Politikern.

Der andere Grund für dies Misstrauen liegt in der professionellen Distanz zwischen Politik und Journalismus. Erst diese Distanz macht ein unabhängiges und objektives Urteil möglich. Nichts belegt diese Distanz angeblich eindrucksvoller als harte Kritik. Wer also gelobt wird, war möglicherweise nicht kritisch und damit auch nicht distanziert genug. Wer will sich das schon – selbst in ein Lob verpackt – vorwerfen lassen?

Damit bin ich beim zweiten Problem. Wenn Politiker über Journalisten sprechen, werden sie schnell verdächtigt, Beschwerdeführer in eigener Sache zu sein. Politiker fühlen sich falsch verstanden, fehlinterpretiert oder – schlimmer noch – ignoriert. Schnell ist heute von Kampagnen die Rede. Auch die Debatte um die Autorisierung von Interviews hat gezeigt, wie aufgeladen die Atmosphäre ist. Ich kenne solche gegenseitigen Schuldzuweisungen seit vielen Jahren und auch ich selber hatte in fast fünf Jahrzehnten politischer Arbeit Anlass zu mancher Beschwerde.

Damit wären wir aber wieder in der klassischen Gesprächssituation: Journalisten schimpfen über Politiker, Politiker schimpfen über Journalisten. Das ist manchmal vielleicht ganz unterhaltsam, aber in der Sache bringt uns das nicht weiter.

Ich sehe reichlich Anlass zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme. Die Medienlandschaft hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert und mit ihr auch der Journalismus. Die Politik hat sich verändert, und das hat auch mit den Medien zu tun. Und schließlich hat sich unsere Gesellschaft verändert und das politische Klima in unserem Land. Das wiederum hat mit beidem zu tun.

Ich will hier also nicht lamentieren über die Frage, ob der Journalismus zu schlecht ist, um eine gute Politik zu vermitteln oder ob die Politik so schlecht ist, dass sie den hohen Anforderungen der Journalisten nicht genügt. Ich verzichte heute auch darauf, über manche Klischees und Etiketten zu sprechen, die mir Journalisten in all den Jahren so angehängt haben – und ich hoffe, dass Sie mir diesen Akt der Selbstzensur zugute halten!

Ich möchte Ihnen vielmehr sagen, was ich für guten Journalismus halte. Das mag ein wenig schlicht klingen, aber mir scheint es dringend notwendig zu sein, an das vermeintlich Selbstverständliche zu erinnern, bevor wir in der Diskussion nachher zu intellektuellen Höhenflügen aufbrechen. Um diese Diskussion zu erleichtern, habe ich einige Sätze formuliert, die ich näher erläutern will. Ich wollte nicht von “Thesen” sprechen, weil das doch sehr gewaltig klingt, und ich mir nicht anmaße, den Journalismus neu erfinden zu wollen. Zehn Sätze sind es aber trotzdem geworden.

Mein erster Satz lautet:
Gute Journalisten brauchen eine gute Ausbildung.

Im vergangenen November habe ich in Marbach die so genannte “Schiller-Rede” gehalten. Darin ging es unter anderem um die Entstehung von Kultfiguren und um die Wechselbeziehung von Medienwirkung und Wirklichkeit. “Bildung,” so habe ich damals gesagt “hat in dieser von den visuellen Medien geprägten Gesellschaft eine besondere, nämlich eine kritische Funktion. Und ich bin fest davon überzeugt, dass zu einem solchen Begriff von Bildung die Bildung des sprachlichen Vermögens und die literarische Bildung unverzichtbar sind.” So weit mein eigenes Zitat. Nach dieser Rede kam eine junge Reporterin auf mich zu, hielt mir das Mikrofon hin und fragt unvermittelt: “Herr Rau, was war das Wichtigste in Ihrer Rede?” Ich habe ihr geantwortet: “Die Einleitung, der Hauptteil und der Schluss.”

Man mag über die junge Frau schmunzeln. Sie ist aber leider kein Einzelfall. Sie kennen alle die Geschichte von dem jungen Kollegen, der ein kritisches Interview in der Bundestagslobby führt und sich anschließend nach dem Namen des befragten Politikers erkundigt. Selbst wenn sie nicht stimmt, ist sie zumindest gut erfunden und sie illustriert ein durchaus verbreitetes Problem. Ich halte es jedenfalls noch nicht für einen Ausdruck von emanzipiertem Journalismus, wenn das Selbstbewusstsein eines Journalisten seiner Kompetenz weit voraus ist. Auch Unhöflichkeit kann nur vorübergehend verbergen, dass man von einer Sache möglicherweise keine Ahnung hat. Forschheit und Kritikfähigkeit sind noch lange nicht dasselbe.

Deshalb plädiere ich für eine solide und umfassende Ausbildung von Journalisten. Dazu gehört zum einen das Handwerk: Das beginnt mit der Sprache und endet noch nicht mit der Kenntnis journalistischer Darstellungsformen. Es gibt eben einen Unterschied zwischen Nachricht und Kommentar, und nicht alles, was mit einem Witz endet, ist deshalb schon ein Feature.

Der Journalismus lebt – wie die Politik – von der Glaubwürdigkeit. Darum muss eine Information, die glaubwürdig sein will, auch einen sauberen handwerklichen Rahmen haben. Da mag man noch so modische Fachbegriffe benutzen: Wer Objektivität verspricht und die Fakten der Meinung unterordnet, der manipuliert. Und wer ein Interview erfindet, betreibt keinen Borderline-Journalismus, wie das neudeutsch heißt, sondern hat ein Interview erfunden. Das ist das eine: Junge Journalisten müssen ihr Handwerk beherrschen.

Das andere ist: Journalisten brauchen auch Bildung, jenseits der Berufsausbildung. Ich erwarte von politischen Journalisten, dass sie die Grundlagen unseres politischen Systems und die in ihm handelnden Hauptpersonen kennen. Der Bundespräsident heißt eben nicht Johannes Rau – SPD, weil der Bundespräsident nun mal keiner Partei angehört. Ich kann das verschmerzen. Blamabel wird es aber, wenn die Berichterstattung über zentrale politische Themen eklatante Wissensmängel über das Gesetzgebungsverfahren oder über die Zuständigkeit von Verfassungsorganen offenbart. Wie wollen Journalisten ihre Leser informieren, wenn sie selbst nicht verstehen, was passiert? Ich sage das aus Erfahrung: Als Leser, als Zuhörer und Zuschauer habe ich den Eindruck, dass sich die Kompetenz der Berichterstattung vielerorts deutlich verschlechtert hat.

Damit bin ich bei meinem zweiten Satz:
Guter Journalismus kostet Geld.

Wir wissen alle, wie sehr die schlechte Wirtschaftslage viele Verlage und Sender getroffen hat. Die Anzeigen- und Werbeerlöse sind erheblich zurückgegangen, die hohe Arbeitslosigkeit führt in vielen Städten zu sinkenden Auflagen. Zugleich ist mit dem Internet eine starke Konkurrenz vor allem im traditionellen Geschäft der Rubrikenmärkte entstanden. Die Folgen sind unübersehbar. In den Redaktionen wurden in den vergangenen Jahren massiv Stellen abgebaut, der Umfang von Zeitungen und Zeitschriften wurde reduziert, und wo es geht, arbeiten Verlage zusammen – mit gemeinsamen Korrespondenten oder mit gemeinsamen Beilagen.

Natürlich sind auch Medienunternehmen in erster Linie Unternehmen und müssen auf eine solide Ertragslage achten. Aber wir müssen uns klarmachen, wohin diese Entwicklung führt. Wenn immer weniger Journalisten immer mehr Themen bearbeiten müssen, nimmt das Fachwissen zwangsläufig ab. Flexibilität allein macht aber noch keinen guten Journalismus.

In einer globalisierten Welt werden auch die Sachverhalte immer komplexer. Wer im Lokalteil über Umweltschutz berichtet, wird sich zwangsläufig auch mit dem EU-Recht beschäftigen müssen. Wer über Gesundheits- oder Rentenreformen schreibt, hat mit einer hochkomplizierten Gesetzesmaterie zu tun. Journalisten brauchen Zeit, um sich solches Wissen anzueignen, und sie brauchen Platz, um ihre Erkenntnisse darstellen zu können. Wenn beides fehlt, sind Journalisten in einer schwachen Position – gegenüber ihren Gesprächspartnern, gegenüber den Einflüsterungen einer immer mächtiger werdenden PR-Industrie und damit letztlich auch gegenüber ihren Zuschauern und Lesern.

Das führt mich zu meinem dritten Satz:
Journalisten müssen unabhängig von ökonomischen Interessen sein

Ich spreche jetzt gar nicht von kriminellen Insider-Tips oder davon, dass Journalisten unbestechlich sein sollten – diesen Anspruch halte ich immer noch für selbstverständlich. Schwieriger wird es schon, wenn Motor- oder Reisejournalisten ihre Arbeit nur noch tun können, wenn sie von den Unternehmen dazu eingeladen werden. Es gibt heute aber andere Anfechtungen, die für das Publikum viel schwerer zu durchschauen sind.

Wenn Medien über neue Trends berichten, beeinflussen sie damit natürlich auch das Kaufverhalten ihrer Leser oder Zuschauer. Ich frage mich inzwischen immer öfter, an welchen Kriterien sich eine solche Berichterstattung orientiert. Ist ein Trend wirklich ein Trend? Oder stellt sich die Publizistik in den Dienst einer umfassenden Verwertungskette der beteiligten Medienkonzerne? Ist ein Superstar wirklich ein Talent? Oder werden Menschen aus ökonomischem Interesse mit journalistischen Mitteln zum Medienereignis gemacht?

Wie entstehen eigentlich Themen, die uns wochen-, manchmal auch monatelang beschäftigen? Natürlich durch aktuelle Ereignisse. Immer öfter aber stellt sich doch die Frage, was der eigentliche Anlass großer Debatten in unserem Land ist. Auch das hat mit Unabhängigkeit zu tun, allerdings nicht mit ökonomischer, sondern mit geistiger Unabhängigkeit.

Mein vierter Satz lautet deshalb:
Gute Journalisten brauchen einen eigenen Kopf.

Das sagt sich leicht dahin, und selbstverständlich ließe sich kein Journalist vorwerfen, er sei leicht zu beeinflussen. Aber wie kommt es dann, dass manche Themen wie aus dem Nichts auftauchen und nach einer Phase hektischer Betriebsamkeit ebenso plötzlich wieder im Nichts verschwinden? Hat das vielleicht nicht doch etwas zu tun mit dem neu entstandenen Berufsbild des Spin-Doctors, dessen Aufgabe ja darin besteht, im Sinne seines Auftraggebers Themen zu setzen und Meinung zu beeinflussen? Wenn spekulative Exklusivmeldungen zu harten Nachrichten gemacht werden – hat das vielleicht auch etwas mit fehlender Recherche zu tun?

Ich höre gelegentlich von Chefredakteuren, dass man an diesem oder jenem Thema nicht vorbeigekommen sei, obwohl es nicht wirklich relevant war oder gar den Tatsachen widersprach. Warum eigentlich? Weil eine große Zeitung es zu ihrem Thema gemacht hat? Natürlich gab es immer Medien, die Meinungsführer waren. Aber es ist schon bemerkenswert, wenn der “journalist”, die Zeitschrift des Deutschen Journalistenverbandes, schreibt: “,Bild’ gilt der erstaunten Branche inzwischen als ,Leitmedium’.” Ich habe nichts gegen den Boulevard. Aber kann es wirklich sein, dass ein Boulevardblatt zum “Leitmedium” der deutschen Presse wird?

Es gibt viele Möglichkeiten, ein Thema zu betrachten – unter politischen, weltanschaulichen oder auch nur unter regionalen Aspekten. Ich wünsche mir, dass Journalisten sich ihren eigenen Kopf darüber machen, dass sie Themen setzen, weil sie dies aus eigener Erkenntnis, geprüft durch eigene Recherche, für sinnvoll halten. Sie kennen die berühmte Antwort des Bergsteigers auf die Frage, warum er einen Berg besteigen will: “Weil er da ist”. Das gilt nach meiner Auffassung nicht zwangsläufig auch für Journalisten. Man muss nicht jeder Ente hinterherjagen, nur weil sie jemand in die Welt gesetzt hat.

Ich wünsche mir da manches Mal auch in den Chefredaktionen größeres Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit. Dabei sein ist nicht immer alles, und von Zeitungen, von Radio- und Fernsehprogrammen erwarte ich mehr als hohen Unterhaltungswert.

Das ist der Kern meines fünften Satzes:
Journalisten müssen Zusammenhänge erkennen.

Jürgen Leinemann hat das vor einigen Jahren einmal ziemlich polemisch formuliert. Er hat vorausgesagt, dass die ärgerliche Neigung der Journalisten abnehmen werde, Dinge aus dem Zusammenhang zu reißen – “denn Zusammenhänge, aus denen man etwas reißen könnte, sind den wenigsten Journalisten bekannt”. So weit will ich nun nicht gehen. Aber haben Sie nicht auch manchmal, in stillen Momenten, das Gefühl, dass es in der Politik eigentlich nicht nur und nicht ausschließlich um die Frage geht, ob nun Gerhard Schröder, Angela Merkel oder Edmund Stoiber im Politbarometer oben stehen?

Ich lese es doch auch regelmäßig in Leitartikeln und höre es in Kommentaren: Politik müsse sich den Sachproblemen zuwenden, der dauernde Streit verstelle den Blick aufs Wesentliche und die Bürger wollten konkrete Antworten und keine Wahlkampf-Slogans. Wenn ich dann aber weiterblättere oder weiterhöre, erfahre ich oft genug ausschließlich das: Wer streitet mit wem, und wer liegt vorn? Manchmal erfährt man auch noch, worüber gestritten wird. Aber den Kern der Auseinandersetzung erreicht die Berichterstattung immer seltener.

Ich räume sofort ein, dass die Politik selber einen großen Anteil an dieser Entwicklung hat.

Medien erwarten ja zu Recht, dass Politiker in verständlichen Worten erklären, was sie tun. Aber Politiker sind dabei auf die Vermittlung durch Medien angewiesen. Man kann die Probleme der Sozialversicherung nicht sinnvoll in einem Statement von einer Minute erklären. Und es ist inzwischen eher die Regel als die Ausnahme, wenn bei der Kürzung von Interviews in den Sachaussagen gestrichen wird und nicht bei den Aussagen über Personen.

Ich halte es für eine der wichtigsten Aufgaben von Journalismus, den Menschen komplexe Zusammenhänge verständlich zu vermitteln. Es mag zwar bequemer sein, Konflikte zu personalisieren und sie damit auf die Frage “Wer-gegen-wen?” zu reduzieren. Das Ergebnis ist aber auf Dauer verheerend für unsere Demokratie. Wenn Menschen Zusammenhänge nicht begreifen, wenn Transparenz fehlt, dann wird es umso schwieriger, Zustimmung für politische Lösungsvorschläge zu gewinnen. Das ist eines der Probleme, vor denen wir derzeit im Zusammenhang mit der Reformdebatte stehen. Ich habe gelegentlich den Eindruck, dass durch diesen Hang zur Boulevardisierung die Medien selbst zu der Reformblockade beitragen, die sie selber häufig in ihren Kommentaren beklagen.

Deshalb ist mein sechster Satz:
Journalisten sollten einen Standpunkt haben.

Ich meine das wahrlich nicht im parteipolitischen Sinne. Natürlich haben auch Journalisten ihre politischen Präferenzen und solange sie das nicht daran hindert, die Dinge nüchtern und unvoreingenommen einzuschätzen, ist dagegen nichts einzuwenden. Ich meine das vielmehr ganz wörtlich: Es wäre hilfreich, wenn mehr Journalisten in ihrer eigenen Arbeit so standfest wären, wie sie das von Politikern häufig fordern.

Ich glaube, es ist gibt einen Zusammenhang zwischen dem vielfach beklagten Populismus in der Politik und dem Populismus in manchen Medien. Beides wiederum hat gewiss mit zu der Situation geführt, die seit Jahren unter der Überschrift “Reformstau” beschrieben wird.

Es gehört fast schon zur Standardforderung in Leitartikeln und Kommentaren, dass die Politik angesichts der Haushaltsnöte sparen müsse. Werden aber konkrete Sparvorschläge vorgelegt, rollt eine publizistische “Wut-Welle” durchs Land. Überall ist vom notwendigen Subventionsabbau die Rede – darüber, was Subventionen sind, ließe sich übrigens trefflich streiten. Werden aber Subventionen gestrichen, erhebt sich auch in vielen Redaktionen genau darüber vielfach großes Klagen.

Ich höre und lese ständig, dass die Steuern sinken müssen, aber in der gleichen Sendung oder in der gleichen Zeitung wird mehr Geld vom Staat für dieses oder jenes gefordert. Neuerdings verteilt die “Bild”-Zeitung sogar Aufkleber, mit denen gegen den hohen Benzinpreis und die Ökosteuer protestiert werden soll. Nun will ich mich nicht zur Ökosteuer äußern. Aber wissen die Menschen, die solche Aufkleber tragen, dass ihre Ökosteuer in die Rentenkasse fließt? Und kommt dann auch konsequenterweise die nächste Aktion – Aufkleber für höhere Rentenbeiträge oder gar für Rentenkürzungen?

Jeder kennt die Wechselwirkung von Medienberichterstattung und Wahlentscheidungen. Wenn Journalisten also von Politikern unpopuläre Maßnahmen verlangen, können sie nicht am nächsten Tag die gleichen Politiker dafür kritisieren, dass sie Unpopuläres tun. Das ist zumindest gedankenlos. Meistens ist es populistisch. Beides schafft weder Glaubwürdigkeit noch Vertrauen.

Mein siebter Satz hängt damit eng zusammen:
Journalisten sind Beobachter, nicht Handelnde.

Ich habe diese Aufkleber-Aktion gerade erwähnt. Man mag das für eine Spielart des Boulevard halten und nicht weiter wichtig nehmen. Aber ich stelle doch fest, dass Medien und Journalisten immer häufiger selbst zu Handelnden werden wollen. Täuscht mein Eindruck, dass selbst in großen Magazinen die modische Trendgeschichte heute mehr gilt als die profunde Analyse? Dabei werden Fakten, die der Überschrift entgegenstünden, ganz bewusst ignoriert, um den Effekt der These zu verstärken und immer öfter kann man auch den Eindruck gewinnen, der Weltuntergang stehe unmittelbar bevor.

Ich spreche hier nicht über kritische Berichterstattung, die Missstände enthüllt und Skandale aufdeckt und damit natürlich auch Einfluss nimmt auf politische Entwicklungen. Das ist eine geradezu klassische Aufgabe des Journalismus und deshalb empfinden sich die Medien zu Recht auch als Kontrollinstanz im demokratischen System.

Gefährlich wird es da, wo Journalisten politische Prozesse oder gar Wahlentscheidungen durch aktives, von anderen Interessen geleitetes Handeln beeinflussen. Gefährlich wird es da, wo durch Zuspitzung oder Halbwahrheiten Stimmungen absichtlich verstärkt oder sogar erst gemacht werden.

In einem demokratischen System unterwerfen sich die gewählten Repräsentanten der Kontrolle durch den Bürger – sie übernehmen für eine begrenzte Zeit Verantwortung und sie können bei Wahlen abgewählt werden. Medien und Journalisten unterliegen einer solchen demokratischen Kontrolle nicht. Warum auch? Sie machen ja keine Gesetze, sie wählen keine Regierungen, sie berufen keine Minister. Was aber geschieht, wenn sie doch Einfluss nehmen? Wer kontrolliert, ob und auf welchem Wege sie das tun? Wer prüft, welche ökonomischen Interessen die beteiligten Medienunternehmen dabei möglicherweise haben? Wo verläuft die Grenze zwischen Aufklärung, Meinung und Manipulation?

Vor diesem Hintergrund muss man sehr vorsichtig umgehen mit Begriffen wie “Kampagne”. Wird dieser Vorwurf aber erhoben, dann muss man ihn umso ernster nehmen. Es geht dabei um mehr als nur um die Auseinandersetzung zwischen Politikern und Journalisten. Es geht letztlich um die Transparenz von politischen Entscheidungsprozessen und diese Transparenz ist ein Grundpfeiler unseres demokratischen Systems.

Manipulation kann auf unterschiedliche Weise stattfinden. Eine halbe Wahrheit ist oft schlimmer als eine ganze Lüge, habe ich in meiner letzten “Berliner Rede” gesagt.

Deshalb ist mir der nächste Satz so wichtig:
Journalisten sollen die Wirklichkeit abbilden.

Über die in Deutschland verbreitete Lust zur Schwarzmalerei habe ich ja vor einigen Wochen gesprochen. Es gibt aber noch ein anderes Phänomen, das mich beunruhigt. Es gehört ja inzwischen zum guten Ton, dass Medien ständig Exklusives melden und damit in eigener Sache werben. Daran ist nichts auszusetzen, wenn die Meldung denn auch stimmt. Inzwischen hat sich aber ein verhängnisvoller Medien-Mechanismus entwickelt, der die Politik und das Land in einen atemlosen Zustand Art permanenter Dauererregung versetzt.

Ich will versuchen, diesen Mechanismus an einem Beispiel ganz plastisch zu erläutern. Vor drei Wochen erklärte der Bundesverkehrsminister in einem Interview mit einer Sonntagszeitung, was seit Jahren die Rechtslage in Deutschland ist: Privatunternehmen, die ein neues Verkehrsprojekt privat finanzieren und betreiben, können eine Mautgebühr für dieses Projekt erheben. “Allerdings”, so sagte Manfred Stolpe, “ist diese Variante auf Grund europäischer Rahmenbedingungen beschränkt auf Tunnel, Brücken oder Gebirgspässe und einige wenige Bundesstrassen und Autobahnen.” So weit der Originalton.

Die Zeitung macht daraus die Überschrift “Stolpe will Maut für Pkw” und gibt eine Vorabmeldung an die Nachrichtenagenturen. Am Samstag meldet die erste Agentur: “Stolpe – Maut auch für Pkw denkbar”. Die nächste spitzt schon weiter zu: “Stolpe plant Maut auch für Pkw”. Am Abend, das Interview ist noch immer nicht erschienen, beliefert eine andere Zeitung die Agenturen vorab mit einer exklusiven Stellungnahme des ADAC, der “mit allen Mitteln gegen die Pkw-Maut kämpfen” wolle.

Am Sonntag, das Interview ist endlich erschienen, stellt das Ministerium klar, dass keine Maut geplant sei. Wenige Stunden später weist ein Grüner die Pläne Stolpes zurück, der CSU-Generalsekretär spricht von “hemmungsloser Abzockerei”, die CDU kritisiert die “neue Schröpfkur”.

Am Montag ist die offenbar unmittelbar bevorstehende Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland das Thema aller Kommentare, es gibt Sonderberichte im Fernsehen, Experten werden befragt, die Opposition beschimpft die Regierung und umgekehrt.

So geht das noch drei, vier Tage. Danach kehrt langsam wieder Ruhe ein. Der Nebel lichtet sich. Es gibt keine allgemeine Pkw-Maut, das hat auch niemand geplant. Der Verkehrsminister sei “lädiert”, schreibt eine Zeitung, und nicht nur die Bürger sind verunsichert und fragen sich: “Sind denn alle verrückt geworden?”

Es gibt inzwischen leider viele Beispiele dieser Art. Virtuelle Debatten, deren Ursprung keinerlei Aufregung rechtfertigen würde, beschäftigen Journalisten und Politiker tagelang, manchmal wochenlang. Aus Referentenentwürfen werden in den Nachrichten Gesetzesvorhaben, aus Interviewäußerungen werden in der flotten Moderation gleich Pläne. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Die Bürger verstehen immer weniger, was wirklich und was wirklich wichtig ist. Sie wenden sich ab und beschließen, vorsichtshalber gar nichts mehr zu glauben. Dafür tragen Journalisten eine erhebliche Mitverantwortung.

Das führt mich zu meinen beiden letzten Sätzen. Der eine lautet:
Journalisten tragen Verantwortung für das, was sie tun.

Es ist in den vergangenen Wochen viel von Ethik in Politik und Wirtschaft die Rede gewesen. Auch ich habe mich dazu ja häufig geäußert. Die Medien verweisen gern darauf, dass es solche Richtlinien dort längst gibt und auch Kontrollinstanzen wie den Presserat. Aber sind Sie sicher, dass das, was sich in Jahren bewährt hat, auch heute noch zuverlässig wirkt? Im Kampf um Quoten, und damit um den lukrativen Werbemarkt, geht es heute um viel Geld. Ich fürchte, dass immer mehr Verantwortliche in der Medienbranche bereit sind, dafür auch einen hohen Preis zu zahlen.

Ich finde es nicht akzeptabel, wenn Fotos von toten deutschen Polizeibeamten im Irak veröffentlicht werden. Ich finde es abstoßend, wenn Menschen zur Belustigung anderer im Dschungel oder in heimischen Talkshows in demütigenden Situationen vorgeführt werden. Auch der Einwand, dass dies doch freiwillig geschehe, überzeugt mich nicht. Ich bezweifle, dass die Betroffenen immer richtig einzuschätzen können, was mit ihnen geschieht.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, steht im Grundgesetz. Und dennoch wird die Menschenwürde in Medien immer öfter angetastet – nicht selten unter dem Vorwand journalistischer Kritik. Persönliche Angriffe auf Menschen sind aber etwas anderes als sachliche Kritik. Ich weiß, dass der Grat zwischen beidem manchmal schmal ist. Aber kein journalistisches Interesse kann die gezielte Verletzung von Menschen rechtfertigen. Übrigens: auch Politiker sind Menschen. Und eine Schlagzeile wie “Frau Minister, Sie machen uns krank”, ist kein Kommentar zur Gesundheitspolitik. Das ist schlicht und einfach eine Entgleisung.

Wer im Privatleben anderer Menschen wühlt, kann sich nicht einfach auf ein öffentliches Interesse berufen und die Tragödien ignorieren, die sich aus solchen Berichten nicht selten ergeben. Wer einem Menschen, der den Bundeskanzler tätlich angreift, über mehrere Seiten Raum zur unreflektierten Selbstdarstellung gibt, muss sich der Folgen einer solchen Berichterstattung bewusst sein. Wer grausame Gewaltverbrechen oder Kriegsgräuel um des Schockeffektes willen detailreich ausbreitet, muss wissen, was er damit anrichtet.

Das häufigste Argument zur Verteidigung solcher journalistischen Grenzverletzungen ist für mich zugleich das armseligste: Die Zuschauer oder die Leser, so heißt es, wollten das so. Selbst wenn es so wäre – was ich in vielen Fällen bezweifle: Ist es nicht ein Armutszeugnis, wenn sich Blattmacher oder Programmplaner damit aus der eigenen Verantwortung für ihr Blatt oder ihr Programm stehlen?

Mein letzter Satz ist letztlich nur eine Erweiterung dieses Themas:
Journalisten tragen Verantwortung für unser Gemeinwesen.

Ich weiß, dass da mancher zusammenzuckt, denn Journalisten wollen ja gerade nicht staatstragend daherkommen. Aber sollten Sie das nicht gelegentlich doch? Bei aller gebotenen Distanz: Es ist auch Ihr Staat, über den Sie berichten, dessen Bild Sie durch Ihre Arbeit prägen. Es kann Ihnen eigentlich nicht gleichgültig sein, wie es um diesen Staat bestellt ist.

Wenn Sie erlauben, will ich mich ein zweites mal selber zitieren: : “Vieles in unserer Gesellschaft, vieles in Politik und Wirtschaft gibt wahrlich Anlass zu Kritik. Die kritische Auseinandersetzung mit Fehlern und Mängeln kann das Vertrauen stärken. Es gibt aber auch in den Medien eine fatale Lust an Schwarzmalerei und klischeehafter Übertreibung. Diese Lust fördert die Entfremdung der Bürger von Politik und Staat.” Das habe ich vor wenigen Wochen in der “Berliner Rede” gesagt.

Noch einmal: Natürlich tragen Politiker eine erhebliche Verantwortung dafür, wenn durch Missmanagement oder das Fehlverhalten einzelner die Politik insgesamt in Misskredit gerät. Das habe ich ja vor kurzem nochmals sehr deutlich kritisiert.

Die häufig zu beobachtende Politikverdrossenheit wird aber auch durch ein undifferenziertes Bild gefördert, das Medien von Politik vermitteln. Häme und Zynismus können ein Gemeinwesen ebenfalls in Gefahr bringen.

Kritik an Politik darf sein, ja sie muss sein. Die Grenze verläuft aber da, wo Politik und Politiker insgesamt verächtlich gemacht werden. Das Bild vom Parlament als “Quasselbude” hat eine traurige Tradition in Deutschland.

Wer Politiker unter Pauschalverdacht stellt, zerstört ebenso Vertrauen wie jene Politiker, die den Verdacht im einzelnen Fall bestätigen. Übrigens: Auch Journalisten können gelegentlich irren. Allerdings erfahren die Leser und Zuschauer davon bemerkenswert selten. Dabei könnte die Glaubwürdigkeit der Medien sogar zunehmen, wenn sie falsche Meldungen bei besserem Wissen revidierten. Allzu häufig bleibt es aber bestenfalls bei einer verschämten Kurzmeldung, wenn sich ein zunächst groß aufgemachter Vorwurf hernach als falsch erweist.

Ich will hier gar nicht von eigenen Erfahrungen sprechen. Ich nenne Ihnen als Beispiel den früheren Bundeskanzler Helmut Kohl. Über lange Zeit hinweg wurde der ungeheuerliche Verdacht erhoben und immer wieder publiziert, er und seine Bundesregierung seien im Zusammenhang mit dem Thema Leuna bestochen worden. Dieser Verdacht hat sich als haltlos erwiesen. Ich habe nicht wahrgenommen, dass Helmut Kohl in dieser Frage mit großen Aufmachern rehabilitiert worden wäre – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Dafür ist beispielsweise Hans Leyendecker zu danken. Die Mehrheit ist dagegen irgendwann zur Tagesordnung übergegangen und die alte Weisheit könnte sich einmal mehr bestätigen: Irgendwas bleibt immer hängen.

Was da hängen bleibt, beschädigt nicht nur den Ruf von Personen. Es beschädigt den Ruf und die Glaubwürdigkeit von Institutionen und zerstört so Vertrauen. Wir brauchen aber dringend neues Vertrauen, gerade in schwierigen Zeiten. Wir brauchen aktive Bürger, die sich in ihre eigenen Angelegenheiten einmischen und Verantwortung übernehmen. Die Demokratie lebt nicht von Gesetzen, sondern von leidenschaftlichen Demokraten.

Meine Damen und Herren,

wir brauchen in dieser Demokratie auch leidenschaftliche Journalisten, die sich einmischen und Verantwortung übernehmen. Ich habe manche Sorge geäußert, aber ich sehe auch viel Positives. Wir haben noch immer eine bemerkenswert vielfältige Medienlandschaft. Es gibt viele Journalisten, bekannte und unbekannte, die in ihrem Beruf weit mehr leisten, als der Tarifvertrag von ihnen fordert. Sie leisten einen unverzichtbaren Beitrag zu unserem Gemeinwesen, auch indem sie Missstände aufdecken und Fehlentwicklungen aufzeigen. Viele von ihnen sind heute hier, und ich freue mich darüber, dass Sie bei dieser Jahrestagung des netzwerks recherche Ihre eigene Arbeit so kritisch hinterfragen.

Politiker, und seien sie Bundespräsidenten, sind nur bedingt als Medienkritiker geeignet – ich habe das am Anfang erwähnt. Unsere Gesellschaft braucht eine selbstkritische Debatte innerhalb der Medien. Wir brauchen eine Diskussion über die Rolle und über das Verhalten von Medien aber nicht nur bei Treffen wie diesem, bei Gewerkschaftsversammlungen, auf Medientagen oder im Rundfunkrat. Ich wünsche mir, dass im Alltag, in Redaktionskonferenzen, aber auch bei Vorstandstreffen, kritisch über die eigene Arbeit und ihre Folgen und Wirkungen gesprochen wird.

Deutschlands Presse hat noch immer einen guten Ruf. Aber das ist keine Selbstverständlichkeit, und das ist auch nicht für immer gesichert. Die Medien vermitteln ein Bild der Wirklichkeit, aber sie vermitteln damit gleichzeitig auch ein Bild von sich selbst. Beides erscheint mir reformbedürftig.

Rede von Erwin Bixler (2004)

Rede  – von Erwin Bixler

Rede von Erwin Bixler beim Jahrestreffen des Netzwerk Recherche am 05.06.2004 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg

Sehr geehrte Damen und Herren,

einer der heute stattfindenden Workshops wird das Thema “Whistleblower – Quellen ohne Schutz” bearbeiten. Deshalb wurde ich eingeladen.

Dafür danke ich dem “Netzwerk Recherche” ganz herzlich. Seiner Bitte, Ihnen über meine Entwicklung zum so genannten Whistleblower und meine einschlägigen Erfahrungen zu berichten, werde ich während der nächsten Minuten gerne nachkommen.

Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zur Vorgeschichte:

Seit 1986 arbeitete ich in verschiedenen Funktionen in der Abteilung Arbeitsvermittlung eines Arbeitsamtes. Dabei bekam ich mit, wie das Geld der Beitrags- und Steuerzahler auch für viele unsinnige Aktivitäten ausgegeben wurde: marktferne Umschulungen und Fortbildungen, ineffektive Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und dergleichen. An die Stelle von echten Erfolgen traten zunehmend mehr oder weniger systematisch geschönte Statistiken.
Anfang der 90er Jahre war ich es Leid geworden, meinen Lebensunterhalt überwiegend durch das Mitwirken am Bau und bei der Pflege der >Potemkinschen Dörfer< der Bundesanstalt für Arbeit und durch das weitgehend wirkungslose Ausgeben uns anvertrauten Geldes bestreiten zu sollen. Ich wollte mein Gehalt für eine sinnvolle Arbeit erhalten.

Damals verfasste ich gemeinsam mit einem damaligen Vorgesetzten für eine Fachzeitschrift einen Artikel über die Probleme der öffentlichen Arbeitsvermittlung.

Ich war schon so weit, mich damit abzufinden, dass das Schreiben von Artikeln und Leserbriefen zwar das eigene Gewissen zeitweise zu beruhigen vermag, aber ansonsten gar nichts bringt. Da bot sich mir 1997 die Chance, mein Anliegen intensiver verfolgen zu können:

Der Gesetzgeber hatte der Bundesanstalt nach bald 50 Jahren ihres Bestehens eine Innenrevision verordnet. Aus meiner Führungsposition in einem Arbeitsamt bewarb ich mich als Prüfer in der gerade im Aufbau befindlichen Innenrevision der BA, obwohl das für mich finanzielle Einbußen und wesentlich längere Fahrtzeiten bedeutete.

Dafür durfte ich fortan von Amts wegen tun, was ich bis dato gewissermaßen nebenbei getan hatte: recherchieren, analysieren, bewerten, Verbesserungen vorschlagen … Aber vor allem musste – und durfte – ich meinen Vorgesetzten jetzt ganz offiziell berichten, was wir von der Innenrevision bei unseren sehr gründlichen Recherchen vorgefunden und entdeckt hatten.

Aber auch diese ganz offizielle Kritik wurde systematisch ignoriert. (Dasselbe Schicksal erlitt übrigens ein “Panorama”-Bericht, der im September 98 gesendet wurde. Dieser Beitrag beschäftigte sich – völlig unabhängig von meinen unmittelbar zuvor durchgeführten Untersuchungen – ebenfalls mit der Erzeugung >virtueller Arbeitsvermittlungen<. – Als es allerdings gut zwei Jahre später darum ging, bestimmte Leute von der Substanz meiner Vorhaltungen zu überzeugen, sollte sich dieser “Panorama”-Bericht doch noch als sehr hilfreich erweisen. Deshalb an dieser Stelle: Herzlichen Dank an die Redaktion von “Panorama”!)

Nachdem die oberste Anstaltsleitung meine Berichte “so nicht” hinnehmen wollte, war ich zeitweise gewillt, diesen aussichtslos erscheinenden Kampf aufgeben.
Als es mir dann aber doch wieder zu bunt wurde, raffte ich mich noch mal auf: Am 5. Oktober 2000 schrieb ich meinem damaligen Referatsleiter einen Vermerk. In diesem Schriftstück wies ich darauf hin, dass unser Controlling “auf die Beteiligung am Bau ‚Potemkinscher Dörfer’ hinaus” laufe.

Wieder keine für mich erkennbare Reaktion.

Als nächstes veröffentlichte ich in der Mai/Juni-Ausgabe 2001 der Mitarbeiterzeitschrift “DIALOG” einen weiteren Leserbrief. Darin stellte ich geschäftspolitische Schwerpunkte, Praktiken und Zahlen in Frage, die vom damaligen Präsidenten hoch geschätzt und eingefordert wurden.

Erneut keine erkennbare Reaktion.
(Ein gutes Jahr später, genau am 11. Juli 2002, erfuhr ich aber, dass mein letzter Vermerk und mein letzter Leserbrief wenigstens nicht ganz folgenlos geblieben waren: Am 29. Oktober 2001 unterschrieben nämlich die damalige Präsidentin meiner Dienststelle und mein Referatsleiter eine neue Beurteilung meiner dienstlichen Leistungen und meines Potenzials. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass diese Beurteilung wesentlich schlechter ausfiel, als alle Beurteilungen in den davor liegenden 25 Jahren.)

In diesen Monaten nach meinem Vermerk und der Veröffentlichung meines Leserbriefes war mir aber auch ohne das Wissen um diese insgeheim erfolgte neue Beurteilung völlig klar geworden, dass es mir demnächst an den Kragen gehen wird. Dafür hatte ich mehrere Anzeichen.

Als ich dann Mitte Dezember 2001 davon hörte, dass der Bundesrechnungshof auf einem von ihm untersuchten Teilgebiet ähnliche Feststellungen getroffen haben soll wie ich drei Jahre zuvor, wagte ich endlich den mir bis dahin unvorstellbar großen Schritt. Es war eine Mischung aus Verzweiflung, Trotz, Hoffnung und >fatalistischen Anwandlungen<, die mich etwa folgendes denken ließ: Wenn schon, denn schon! Jetzt gilt’s! Kaltstellen und versenken werden sie dich ohnehin – also muss ich auch diese Gelegenheit noch nutzen!

Wenige Tage später, nämlich am frühen Morgen des Heiligen Abends 2001, schrieb ich dem damaligen Staatsminister beim Bundeskanzler Hans Martin Bury einen eineinhalbseitigen Brief. In diesem Schreiben teilte ich Bury unter anderem mit, dass ich über eine “durchaus skandalträchtige Sache” informiert bin, dass der Bundesrechnungshof in der gleichen Sache auch schon unterwegs sei und so weiter. Ich bat um ein Gespräch.
Trotz mehrmaligen Nachfragens reagierte weder Bury noch einer seiner Mitarbeiter. Deshalb schrieb ich vier Wochen später an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, aber direkt an den damaligen Arbeitsminister Walter Riester. Dieser Brief an Riester fiel wesentlich ausführlicher aus als das Schreiben an Bury.
(Am Vormittag des 23. Januar 2002, ich saß noch am Schreiben an den Arbeitsminister, erhielt ich einen Anruf. Man unterrichtete mich darüber, dass in der Hauptstelle in Nürnberg eine heillose Aufregung herrsche. Vor ein, zwei Wochen sei dort eine Prüfungsbeanstandung des Bundesrechnungshofes eingetroffen, in der die Validität der Vermittlungszahlen erheblich in Zweifel gezogen werde. Nun habe der Präsident die Innenrevision beauftragt, die Beanstandung des Rechnungshofes durch eigene Untersuchungen zu entkräften.
Ach, du meine Güte! dachte ich, in Nürnberg bereitet man bereits die Widerlegung des Bundesrechnungshofes vor – und ich schreib’ hier noch rum. Dann rief ich kurzerhand im Ministerium in Berlin an, ließ mich mit dem Ministerbüro verbinden, erklärte einer Dame den Grund meines Anrufes, bat sie um Ihre E-Mail-Adresse und avisierte ihr bereits für die nächsten Minuten eine E-Mail mit dem noch nicht ganz fertigen Schreiben an den Minister.
Am nächsten Tag, dem 24. Januar 2002, gab ich dann mein – um eine Passage zu dem einen Tag zuvor erhaltenen Anruf ergänztes und mit etlichen Anlagen versehenes – Schreiben zur Post.)

Plötzlich ging alles rasend schnell: Bereits am 28. Januar wurde ich telefonisch für den 30. Januar nach Berlin ins Ministerium eingeladen.

(In diesen für mich unvergesslichen Tagen erwies sich ein weiterer Fernseh-Beitrag als hilfreich. Er hieß “Die sinnlose Milliarden-Schlacht” und wurde an eben diesem Montag, dem 28. Januar 2002, gesendet. Sein Gegenstand war die >Sinnhaftigkeit< von Umschulungsmaßnahmen. Auch zu dieser Thematik hatte ich dem Schreiben an den Arbeitsminister als Anlage einen umfangreichen Revisionsbericht beigelegt. Der Fernseh-Beitrag erschien mir dermaßen authentisch, dass mir schon peinlich zumute wurde. Ich dachte, die im Ministerium werden wohl denken, dass ich … Aber ich hatte mit dem Beitrag nichts zu tun. Gleichwohl ein Kompliment und ebenfalls ein herzliches Dankeschön an die Redaktion von “Report Mainz” für “Die sinnlose Milliarden-Schlacht”!)

Am Mittwoch, dem 30. Januar 2002, saß ich einigen leitenden Beamten des Arbeitsministeriums sechs Stunden lang Rede und Antwort. Man gab sich wider Erwarten freundlich.

Nach diesem Gespräch war “Feuer unterm Dach”. So ein Vertrauter Riesters laut “Spiegel”.

Noch am selben Tag wurden der ebenfalls einbestellte Präsident Jagoda und sein Tross mit meiner Eingabe konfrontiert und aufgefordert, dazu bis zum nächsten Tag Stellung zu nehmen. Diese Stellungnahme fiel, so Riester in verschiedenen Interviews, nicht befriedigend aus.

Am 4. Februar rief mich dann doch noch ein leitender Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes an und bedankte sich für das Schreiben an Bury. Später erfuhr ich aus der “Tagesschau”, dass die “Süddeutsche Zeitung” am selben Tag gemeldet hatte, dass der Bundesrechnungshof die Vermittlungszahlen der Bundesanstalt beanstandet habe. Die “Süddeutsche” verfügte plötzlich über eine Kopie der bereits Wochen zuvor bei der BA und im Ministerium eingetroffenen Prüfungsbeanstandung des Bundesrechnungshofs.

Jetzt überschlugen sich die Ereignisse: Mittwochs, 6. Februar, gab Riester eine Pressekonferenz. Dabei erwähnte er, dass nicht nur der Bundesrechnungshof Beanstandungen getroffen habe, sondern auch ein Revisor der BA bei ihm vorstellig geworden sei, der viel weiter gehende Vorwürfe mache.

Einer der Arbeitsmarktexperten aus seinem Ministerium teilte mir das noch am frühen Nachmittag desselben Tages telefonisch mit. Der Anrufer gab deutlich zu erkennen, dass ihm das Vorpreschen des Ministers gar nicht gelegen kam. Ich müsse nun damit rechnen, dass mich Journalisten ausfindig machen würden. Die “Journaille” sei in diesen Dingen sehr hartnäckig. Ich solle gar nichts sagen. “Notfalls”, stellte er mir in Aussicht, würde man mich für einige Tage “aus dem Verkehr ziehen.”
Da ich mich ungern aus dem Verkehr ziehen lasse, versuchte ich, ihn mit dem Hinweis zu besänftigen, dass es wohl nicht so einfach sein dürfte, einen einzelnen Mitarbeiter der Anstalt ausfindig zu machen.

Tags darauf rief die erste Journalistin an. Freitags stand mein Name im Berliner “Tagesspiegel” und das Telefon nicht mehr still. Das “Handelsblatt” und die “Financel Times Deutschland” zitierten bereits aus meinem Schreiben an Riester. Das Kanzleramt geriet unter Beschuss, und ich in die “Tagesschau”.
Zu alledem meldete sich noch die saarländische Kripo bei mir. Man hatte ihr gesteckt, dass der an diesem Freitag verübte Selbstmord eines Arbeitsamtsdirektors mit meiner Aktion zusammenhängen könne.
Inzwischen war ein Hausbesuch meines Arztes dringend angesagt. Dass mich der “Bericht aus Berlin” an diesem Abend schließlich noch als den “Mann” vorstellte, “der heute die Regierung ins Wanken brachte”, nahm ich dann schon relativ gleichmütig hin.
Samstags fand ich auch mein Schreiben an Bury in der Bild-Zeitung abgedruckt.

Diese Indiskretionen brachten mir zwar einige anstrengende Tage und eine beträchtliche Gewichtsreduzierung ein. Aber die Veröffentlichung meines Namens und meiner Schreiben hat mir darüber hinaus nicht geschadet. Ganz im Gegenteil: Zuerst war ich ja einigermaßen sauer auf die unbekannten Informanten der Journalisten, die meinen Namen und meine Schreiben veröffentlichten.
Aber schon wenig später sah ich mich diesen Informanten und den Journalisten zu großem Dank veranlasst. Was hätte man später mit mir angestellt, wenn meine Rolle in dieser Sache und meine Identität allein einigen Führungskräften des ehemaligen Arbeitsministeriums und der Bundesanstalt für Arbeit bekannt geblieben wären?

Mit der Öffentlichkeit und mit Journalisten hatte ich in diesen Wochen also keine nachhaltigen Probleme. Sorgen bereiteten mir weiterhin ausschließlich einige Leute in der Bundesanstalt:
Auf regionaler Ebene überzog man mich mit einem öffentlich geführten Streit um die Frage, ob ich berechtigt gewesen sei, den Dienstweg abzukürzen. Während die Hauptstelle nach anfänglichem Abstreiten einräumte, 1998 aus Saarbrücken einschlägige Hinweise erhalten zu haben, wollte in Saarbrücken niemand etwas von meinen Revisionsberichten, Artikeln, Leserbriefen und Vermerken gewusst haben.
Indessen versuchte die Hauptstelle, sich unter anderem mit der selbst gestrickten Kompliziertheit der Weisungen zur Statistik herauszureden. Und zu allem Elend traten auch noch die beharrlichen Verteidiger des >Sozialstaates< auf den Plan, um die BA, diese Säule der sozialen Sicherung, gegen >widerliche Vorwürfe< in Schutz zu nehmen.

Dennoch: Keine drei Wochen nach dem plötzlichen Ausbruch des “Arbeitsamt-Skandals” mussten Präsident Jagoda und der für die Bundesanstalt über Jahrzehnte hinweg verantwortliche Staatssekretär ihren Hut nehmen. Einen Tag später, am 22. Februar 2002, verkündeten der Bundeskanzler und sein damaliger Arbeitsminister vor der Bundespressekonferenz die vollständige Erneuerung der Bundesanstalt für Arbeit.

Bei mir war inzwischen wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt. Aber die Anstrengungen und Anfeindungen der zurückliegenden Wochen und Monate hatten deutliche Spuren hinterlassen. Trotzdem meinte ich nach zweieinhalbmonatiger Erkrankung, dass ich für den vorzeitigen Ruhestand noch zu jung sei. Deshalb begab ich mich im April 2002 wieder unter die Fittiche der angeblich bereits in der Erneuerung begriffenen Anstalt.

Es folgten 18 Monate, in denen ich mich einem eher subtilen Mobbing ausgesetzt sah:
Am Tag meiner Rückkehr wurde ich zu meiner Überraschung in ein “Back-Office” versetzt. Die personelle Konstellation war unverkennbar so angelegt worden, dass ich Probleme mit den dortigen Kollegen bekommen sollte. Aber diese miese Rechnung der Strategen ging nicht auf. In meinem neuen Referat begegneten mir ausgezeichnete Kolleginnen und Kollegen. Wir arbeiteten bis zuletzt gut und messbar erfolgreich zusammen.
Wenig später ließ man sich etwas ganz Neues einfallen: Unter dem Vorwand, etwas für mich tun zu wollen, wollte mich der damalige Personalchef dazu bewegen, mich auf eine höher dotierte Stelle im 700 Kilometer entfernten Chemnitz zu bewerben. Angeblich sollte ich schon bald wieder heimatnäher eingesetzt werden. Ich lehnte ab, und einige Monate später wurde das “Vorprüfungsamt” der Bundesanstalt, in dessen Dienst ich treten sollte, gänzlich abgeschafft …
Von der Welt außerhalb der Anstalt wurde ich so gut das ging abgeschottet. Dazu verfüge ich über einen aufschlussreichen Schriftwechsel.
Schließlich vollstreckte man die bereits erwähnte Beurteilung meiner dienstlichen Leistungen und meines Potenzials. Damit schuf man sich eine formal-juristisch schwerlich angreifbare Grundlage für weitere Formen subtilen und weniger subtilen Mobbings.

Nach drei erfolglosen Versuchen, gegen diese Beurteilung vorzugehen und einigen weiteren Blicken in eine trostlose Zukunft, fühlte ich mich endlich alt genug. Ich folgte dem dringenden Rat meines Arztes, mich dieser auf Dauer enervierenden Situation keinesfalls länger auszusetzen. Seit dem 1. Juni befinde ich mich im vorzeitigen Ruhestand.

Sehr geehrte Damen und Herren,

vielleicht wurde es nicht deutlich – aber ich habe Ihnen gerade die Geschichte eines grandiosen Erfolges erzählt.

Sehen Sie: Manche Menschen sollen ja davon träumen, einmal in ihrem Leben einen bestimmten Berg zu erklimmen und auf seinem Gipfel zu stehen. Diese Menschen sind unter Umständen bereit, für die Verwirklichung ihres Traumes ihre Gesundheit und manchmal sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Mein >Gipfeltraum< war, es eines Tages zu erreichen, dass sich genügend einflussreiche Kreise bestimmter Probleme und Verhältnisse annehmen.

Mein Traum ging in Erfüllung! Ich stand auf dem Gipfel >meines Berges Der Erfolg ist mir auch und gerade aus heutiger Sicht den gezahlten Preis wert. Ich hoffe, dass er sich eines Tages dergestalt auszahlen wird, dass es mehr und mehr Menschen wagen können, politische und sonstige Entscheidungsträger über gravierende Fehlentwicklungen zu informieren. Denn Reformen können am besten gelingen, wenn man mit dem Reformieren an den Stellen beginnt, an denen es wirklich brennt. Aber eben diese Stellen sollten den Entscheidungsträgern unseres Landes benannt werden dürfen, ohne dass der >Bote< Gefahr läuft, sich anschließend ziemlich schutzlos dem Zorn bloßgestellter Bürokraten ausgesetzt zu sehen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Grußwort von Maria von Welser (2004)

Grußwort  – von Maria von Welser

Dieses Grußwort hielt Maria von Welser, NDR-Landesfunkhausdirektorin, auf der Jahrestagung des netzwerks recherche am 05.06.2004 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg:

Meine Damen, meine Herren, liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen…ich möchte Sie sehr herzlich hier im Fernsehzentrum des NDR in Hamburg Lokstedt zu Ihrem Jahrestreffen im Namen des gastgebenden NDR begrüssen. Unser Intendant wäre gerne bei uns, es ist etwas dringendes dazwischen gekommen. So widerfährt mit die Ehre….

Wenn Sie sich seit gestern in dieser enormen Zahl hier im Norden der Republik einfinden, um sich dem Luxusgut Recherche zu nähern. Denn sind wir auch ein wenig Stolz, hier beim NDR. Denn Sie wären nicht hier, würden Sie nicht zu recht vermuten, dass Recherche und klassisch guter Journalismus auch hier zuhause sind.

Dass dies aber Ihrer aller Thema ist, liegt sicher auch an der schwierigen wirtschaftlichen Situation bei den Print-Medien und in den privaten Sendern. Kann man sich die Wahrheit noch leisten? Lange genug recherchieren, richtig men- oder womenpower einsetzen, den Dingen und Sachverhalten auf die Spur zu kommen?

Kein ganz neues Thema, hat doch der im vergangenen Jahr verstorbene und oft zitierte Neil Postman beim Thema Wahrheit schon einiges pessimistische zur Papier gebracht:

„Das Fernsehen, so schreibt er, verändert die Bedeutung von Informiertsein, indem es eine neue Spielart von Information hervorbringt, die man richtiger als Desinformation bezeichnen sollte. Desinformation aber bedeutet irreführende Information- unangebrachte, irrelevante, bruchstückhafte oder oberflächliche Information, die vortäuscht, man wisse etwas während sie einen in Wirklichkeit vom Wissen weglockt.
Neil Postman kommt zu dem Schluss:„ ich will damit sagen, dass dies, wenn die Nachrichten als Unterhaltung präsentiert werden, das unvermeidliche Ergebnis ist….„

Das würde bedeuten, dass sich zwischen Fernsehen und so etwas wie Wahrheit kaum noch eine Brücke bauen lässt. Was wir hier alle vehement verneinen würden, das sehe ich doch richtig.? Aber: natürlich müssen wir uns nicht erst seit dem Debakel bei der BBC nach dem Irakkrieg und dem Selbstmord des Waffenkontrolleurs Kelly fragen: wie halten wir es wirklich mit der Wahrheit? Denn die Affäre in Großbritannien wurde ausgelöst durch einen nicht in jeder Hinsicht wahrhaftigen Bericht eines Reporters. Wie es ausging wissen Sie: der Reporter musste gehen, die BBC-Spitze auch, ein Lord leitete einen Untersuchungsausschuss zur Frage: ob hier ein Parlamentsbericht aufgebläht worden sei, to sexy it up, heißt es seitdem, wenn an der Wahrheit vorbei geschrieben wird. Und der Premierminister Tony Blair kam mit mehr als einem blauen Auge, nein mit einem fast weißen Hemd davon.

Was verführt einen Journalisten, eine Journalistin, nicht die Wahrheit zu schreiben, zu sagen, zu zeigen? Drei Gründe können es sein:

  • Die Medien wollen die Wahrheit nicht zeigen, weil die Realität ihnen zu grausam, zu brutal erscheint, weil die Bilder zu furchtbar sind.
  • Die Medien können die Wahrheit nicht zeigen, weil sie die Wahrheit nicht kennen- oder aber gezielt getäuscht werden.
  • Oder die Medien zeigen die Wahrheit nicht, obwohl sie es gekonnt hätten….

Was sind die Gründe, wenn die Wahrheit zuerst stirbt? Einen Satz , den wir immer zu Beginn von Kriegen und Krisen besonders oft lesen und hören.

  • Das Problem ist da zum Beispiel mangelndes handwerkliches Können.
  • Oder: fehlender Mut oder der klare Wille, die Unwahrheit zu beschreiben, auch das sollten wir hier nicht außen vor lassen
  • Oder: mangelnde Recherche, und darum geht es Ihnen, meine Damen und Herren, heute vor allem.

Über die wirtschaftlich schwierigen Zeiten berichten, schreiben Sie, wir alle fast täglich. Wir müssen allesamt sparen. Aber: Recherche kostet Geld. Und Zeit. Arbeitszeit von Journalistinnen und Journalisten. Die Anzeigenerlöse sinken dramatisch, es wir immer mehr gespart. Dies zeitigt Folgen. Für die „Wahrhaftigkeit„.
Ich spreche hier jetzt über Tendenzen, nicht über schwarz und weiß sondern über eine Grauzone.

  1. Interviews sind billiger zu produzieren, als aufwändige Beiträge. Sie kosten oft nur einen Telefonanruf. Bei chronisch unterfinanzierten Programmen also eine beliebte Art Programm zu machen. Diese O-Töne füllen dann auch leicht die Nachrichten. Die Prüfung ihrer Relevanz allerdings bleibt häufig aus. Die Folge sind Worthülsen, gestanzte Sprache und Debatten in ausgetretenen Pfaden. Vom wahrhaftigen Bild der Realität weit entfernt. Interviews sind schnell verfügbar, und leichter finanzierbar.
  2. Einige wenige Medien, die sich Recherche leisten können, dominieren die Themen in unserem Land. Andere, aus Mangel an selbst recherchierten Themen , springen auf. Ganze Kampagnen durchziehen das Land. Ich erinnere nur an die Flugmeilenaffäre. Dann die Debatte um die Beraterverträge der Bundesagentur für Arbeit, und nicht nur dort. Die Beraterverträge des Leo Kirch haben es bisher dagegen kaum über Spiegel und Panorama hinaus geschafft. Da fehlt wohl an einigen Stellen der Mut, oder der Wille den Finger drauf zu legen.

Dabei geht es nicht um das Versagen einzelner Journalistinnen und Journalisten. Wir wissen, dass sie stark abhängen von den sozialen Bezugsrahmen ihrer Redaktionen und den Erwartungen ihrer Arbeitgeber. In der Krise spürt man das dann ganz besonders. Wahrhaftigkeit ist damit nicht nur eine Frage individueller Moral. Wahrhaftigkeit ist auch eine Frage der Qualität diese Systems. Das bedeutet: ein Mediensystem muss sich Wahrhaftigkeit leisten.Wenn Neil Postman sagt: das Fernsehen fördere die Desinformation, dann erscheint dies in der aktuellen Krise in einem noch anderen Licht. Zeitungen entlassen zu Hunderten Journalisten, in vielen Landkreisen berichtet nur noch eine einzige Zeitung, ein Monopol – und die Bundesregierung denkt über eine Reform der Pressefusionsgesetze nach — die, so fürchten viele, weitere Konzentrationen nach sich ziehen könnte.
In solchen Zeiten ist es sicher nicht schlecht, wenn Magazine wie Panorama, Monitor oder Report heute mehr denn je zur „Wahrheitsfindung„ beitragen. Krisensicherer Journalismus muss also einen hohen Stellenwert besitzen in einer funktionierenden Demokratie.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, meine Damen und Herren.
Wenn sich ein Mediensystem „Wahrhaftigkeit„ leisten muss, dann hat dies natürlich auch etwas mit Finanzierung zu tun. In unserem Fall bei den öffentlich-rechtlichen mit der Rundfunkgebühr. Sie ist eben auch ein Garant für krisensicheren Journalismus, eine Qualitätssicherung für das gesamte System.

Lassen sie mich nochmals auf die Vorgänge um die britische BBC zurückkommen. Die übrigens Vorbild war für den Aufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland, ganz besonders hier im Norden bei der Gründung von „Radio Hamburg„ und später des NWDR.

Die Kelly-Affäre ist auch durch handwerkliche Fehler des BBC-Journalisten Andrew Gilligan verursacht worden. Am Ende hat jedoch sogar der Generaldirektor Greg Dyke seinen Hut nehmen müssen. Ihm waren weniger die Fehler seines Mitarbeiters vorgeworfen worden, sondern vor allem mangelnde Aufarbeitung nach der Eskalation des Skandals und Kellys Selbstmord.
Seinen Rücktritt aber nur auf diese Fragen allein zu reduzieren ist nicht die Wahrheit. Es ging und geht immer um mehr – um politischen Druck und um Abhängigkeiten. Aber es ging und geht auch um die Glaubwürdigkeit der BBC. Obwohl bis zum heutigen Tage die meisten Briten vor allem Tony Blair misstrauen und nicht der guten Tante Auntie The Beep…..

Ich denke, wir sind uns alle einig: Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit sind zentrale Unternehmenswerte für ein Medienhaus. Wir sehen das jedenfalls so für den NDR und für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland.

Wenn es nach den Umfragen geht, dann steht das ERSTE bei den Bürgern in diesem Lande auf Platz eins, in Punkto Glaubwürdigkeit. Und Wahrhaftigkeit.

Wir alle, davon bin ich überzeugt, fühlen uns diesen Werten verpflichtet. Ich wünsche Ihnen spannende Diskussionen und Gespräche.
Vielen Dank.

Luxusgut Recherche – wie teuer darf Wahrheit sein?

Bundespräsident Johannes Rau spricht zum Auftakt des Jahrestreffens von Netzwerk Recherche am 5. Juni 2004 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg

Luxusgut Recherche – wie teuer darf Wahrheit sein?“. Diese Frage steht im Zenturm der diesjährigen Medienkonferenz der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche am 5. Juni in Hamburg. Im NDR-Konferenzzentrum werden rund 500 Vertreter aus den Medien, der Politik und anderen gesellschaftlichen Gruppen kontroverse Medien-Themen mit prominenten Referenten diskutieren. Ein Höhepunkt der Veranstaltung ist die Rede von Bundespräsident Johannes Rau, der eine kritische Bilanz seiner Erfahrungen im Umgang mit den Medien ziehen wird. Weiterlesen

Podiumsdiskussion „Die Rolle der Medien“

24. Mai 2003 beim Jahrestreffen des Netzwerk Recherche im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg

Podiumsteilnehmer:
Gerhard Schröder, Bundeskanzler
Jürgen Leinemann, Der Spiegel
Michael Jürgs, Ex-Stern-Chefredakteur

Leinemann: Herr Bundeskanzler, lassen Sie uns gleich anfangen, Sie heißen allgemein der Medienkanzler. Was sagt Ihnen dieser Begriff und was glauben Sie, was die, die Sie so nennen, damit verbinden?

Schröder: Also zunächst ist das so, ich habe den Begriff nicht geprägt, aber er wird ja benutzt als eine abträgliche Bezeichnung, ein bisschen seltsam für Journalisten, denn was er eigentlich ausdrückt, ist eine gewisse Offenheit gegenüber denen, die beobachten und das Beobachtete zu beschreiben haben oder zu senden, darüber sollten Sie eigentlich nicht enttäuscht sein, sondern eher im Gegenteil. Aber ganz offenkundig gebären solche Begriffe so ganz eigene Eigentümlichkeiten. Und das ist ja so, ich habe einfach versucht, auch als ich in dieses Amt gewählt worden bin, mein Informationsverhalten nicht zu verändern. Und die Tatsache, dass da Medienkanzler gesagt worden ist, mit so einem leicht abträglichen Nebengeschmack, hat mich immer wirklich überrascht, muss ich sagen. Was dann dazu geführt hat, ich weiß nicht, was die einzelnen damit verbunden haben, aber jedenfalls nicht nur den Respekt vor einer Offenheit, was Informationen angeht, sondern auch das Gegenteil dessen. Und die Konsequenz dessen ist, dass man darüber nachdenkt, ob man sich richtig verhält und vielleicht verschlossener wird, das kann schon sein.

Jürgs: Hat sich das geändert in den letzten fünf Jahren? Hat sich geändert, dass die Nähe zur Medienmacht zur Distanz geworden ist in letzter Zeit?

Schröder: Ich glaube das Verhalten der Öffentlichkeit gegenüber – und Öffentlichkeit wird ja hergestellt nicht nur durch den politischen Prozess – nicht nur durch Entscheidungen derer, die unmittelbar am politischen Prozess beteiligt sind, sondern Öffentlichkeit wird ja nicht zuletzt durch Sie hergestellt. Klar ändert sich das. Und zwar kann man sehr viel unbefangener mit Öffentlichkeit umgehen, wenn man beispielsweise Vorsitzender der Jungsozialisten in Deutschland ist oder einer Arbeitsgemeinschaft der SPD angehört oder auch „einfacher Bundestagsabgeordneter“, weil die Wirkungen dessen, was man sagt, begrenzter sind als die Wirkungen dessen, was ich so sage. Das hat weniger mit der Person als mit dem Amt zu tun und insofern verändert sich das Informationsverhalten und natürlich auch die Beziehungen zum Journalismus insgesamt, aber auch zu Journalisten als einzelne, je nachdem welche Wirkung eine mitgeteilte Information hat oder nicht. Das versucht man natürlich abzuschätzen, fällt häufiger dabei rein, aber aus diesem Reinfallen lernt man eine Menge, kann ich Ihnen sagen.

Jürgs: Von wem könnte dann der Satz sein: „Es ist mir egal, wer unter mir Bundeskanzler ist?“ Welcher Medienmächtige könnte diesen Satz gesagt haben? Was glauben Sie wohl? Stefan Aust, Kai Dieckmann?

Schröder: Ich will hier niemanden in Schwierigkeiten bringen, aber ich würde sagen, diejenigen, die das behaupten, die überschätzen die Wirkung ihres Berufes und meistens auch sich selbst und soweit würde ich jedenfalls nicht gehen, das ist mir egal, wer unter mir Chefredakteur ist.

Leinemann: Sie haben gesagt, das Amt hat den Begriff verändert oder die Bedeutung dieses Begriffes und den Stellenwert. Was ist eigentlich anders geworden in Bonn als es in Hannover war? Sie hatten ja auch ein öffentliches Amt und das, was Sie Informationspolitik und Umgang mit Journalisten nennen, das haben Sie ja alles schon vorgedruckt.

Schröder: Also sagen wir mal, was sich geändert hat, ist zunächst einmal die eigene Sichtweise. Damals hatte ich noch jemanden, den ich kritisieren konnte, heute ist das fast überhaupt nicht mehr so.

Leinemann: Sie haben doch ihre Partei! (Gelächter)

Schröder: Da haben Sie ja ganz Recht (wieder Gelächter), nur die Frage ist ja, in welcher Funktion? Aber jetzt mal ganz im Ernst. Es ist natürlich anders, wenn man als jemand, der sicher als Ministerpräsident auch gehört wird, auch ein Stück politische Verantwortung mit hat, wenn da immer noch eine Instanz ist oder eine Institution, die man gelegentlich auch mal kritisieren kann, und sagen, das haben die aber vielleicht doch etwas besser hätten machen können. In dem Stil habe ich das ja getan, wie man weiß, also immer positiv (Gelächter).

Leinemann: Das ist rübergekommen.

Schröder: Aber das ist wirklich ein Unterschied, und jetzt sind Sie fast ausschließlich Kritik ausgesetzt. Das ist eine andere Befindlichkeit, in der man dann ist. Und was hat sich geändert? Das hat sich geändert. Aber es hat sich noch mehr geändert, weil, sagen wir mal, die politischen Fragen, mit denen man konfrontiert ist und über die oder die dann, also wenn sie in Entscheidungen umgesetzt werden, kritisiert werden, die sind natürlich vielfältiger in Bonn bzw. in Berlin. Und dann ist da etwas, das wissen sie besser als ich, ich glaube, dass sich in den Medien eine ganze Menge verändert hat. Das ist alles sehr viel wettbewerbsorientierter geworden und deswegen vermutlich auch schnelllebiger, mehr orientiert auf kurze Quotes, die, zu geben sind und weniger auf ein Gespräch, das aufklärt über Hintergründe des eigenen Denkens und man wird jeden Tag konfrontiert mit Fragen, wie eben auch „Was sagen Sie zu dem, was sagen Sie zu jenem?“

Jürgs: Dahin kommen wir noch!

Schröder: Das ist wirklich ein Unterschied verglichen zu früher. Die klarsten Vertreter dieser neuen Art, in den Medien zu arbeiten, sind diejenigen, die morgens kommen, wenn man irgendwo hingeht, es ist auch am einfachsten und die halten einem das Mikrofon vor die Nase und sagen: „Herr Bundeskanzler und ….?“. Dann können Sie gleichermaßen zu wichtigen Fragen der Außenpolitik wie zu der Tatsache antworten, dass Hannover 96 natürlich nicht abgestiegen ist, alles ist möglich.

Leinemann: Ist das eigentlich in Berlin anders geworden oder schlimmer geworden oder war das etwas, was Sie in Bonn auch schon erlebt hatten?

Schröder: In Berlin ist das, glaube ich, auf die Spitze getrieben worden bzw. hat sich so entwickelt. Es ist einfach viel viel schneller. In Berlin ist das deshalb noch ein bisschen anders, weil in Bonn war man so eng aufeinander geworfen, sozusagen, wo immer man hinging, in welches Restaurant, in welche Kneipe auch immer, irgendwann stieß man auf Journalisten und umgekehrt und ich glaube, in Berlin verläuft sich das natürlich mehr, obwohl es auch da Orte gibt, wo man immer sicher sein kann, dass man was abgenommen kriegt. Ich natürlich nicht mehr, weil ich ja diese Orte inzwischen meiden muss. Früher bin ich da auch hingegangen, das gebe ich zu.

Jürgs: Wo ist eigentlich inzwischen die Grenze, wann attackieren Sie, wann schweigen Sie einfach, wann sagen Sie, ach lasst sie kritisieren, ich kenn die auch lang genug und weiß woher das kommt und wann schlagen Sie dann zurück? Oder hat man dazu inzwischen eine zu dicke Haut gekriegt?

Schröder: Dicke Haut ist falsch. Aber ich glaube niemand, dass würde ich auch von den Kollegen behaupten, aber ich soll ja über mich reden. Ich habe keine dicke Haut in dem Sinne, dass ich mich über schlechte Berichterstattung, nach meiner Meinung schlechte Berichterstattung, nicht ärgerte. Und wenn sie besonders verletzend ist, dann tut das auch noch weh, so ist das ja nicht, man soll ja nicht glauben, dass Politiker und Politikerinnen so Leute wären, die, wenn es gelegentlich weit in die Bewertung intellektueller Qualitäten geht, dass nicht auch für ungerecht hielten auch für schmerzlich ansehen. Dann kuckt man, und dann werd’ ich mal wieder als nicht ganz zureichend qualifiziert bezeichnet und überlegt dann, wenn man festgestellt hat, wer es war, ob man es so ganz ernst nimmt. Aber es ist immer, dass muss man sagen, immer noch ein Stück Empfindsamkeit da, auch gegenüber einer als ungerechtfertigt begriffenen Kritik und erst Recht, wenn sie weit ins Persönliche geht und vor Fragen dann, die die Familie betreffen, auch keinen Halt macht. Das ist dann besonders misslich. Ansonsten will ich nicht sagen dickes Fell, aber diese Schnelllebigkeit, von der ich geredet habe, hat natürlich eine Kehrseite, dass man das, was an einem Tag oder in wenigen Stunden gesendet, gesagt wird, auch nicht mehr als Ehernes und für die Ewigkeit gleichsam in Stein Gemeißeltes Gesetz nimmt. Und dann sagt man ja morgen kommen die ja schon mal wieder auf was anderes.

Leinemann: Also das finde ich jetzt schon interessant, denn da bekomme ich so ein neues Mediengefühl, als wenn wir immer hinter Ihnen her sind und Sie treiben, während Sie so das Opfer sind, das sich dem ausgeliefert fühlt.

Schröder: Nein, das wäre ja ganz falsch. Was ist ein politischer Prozess? Ein politischer Prozess definiert sich durch Entscheidungen, die ich zu treffen habe, die das Parlament zu treffen hat, die die Opposition zu treffen hat. Aber Teil des politischen Prozesses ist doch auch die Vermittlung dessen, und Vermittlung heißt ja nicht einfach, Leuten zu sagen, das ist ja alles prima was die machen, sondern intendiert Kritik ja auch. Insofern fühl ich mich nicht als Opfer, aber ich bin ja gefragt worden, ob die nicht geringe Kritik sozusagen abprallt oder nicht abprallt. Ich will einfach sagen, ohne dass ich mich als Opfer begriffe, prallt es nicht ab, das will ich nur deutlich machen. Aber das hat nichts mit Jammern zu tun. Ich habe immer nach dem Prinzip gearbeitet: „Wem es in der Küche zu heiß ist, der soll nicht Koch werden.“

Jürgs: Dann nehme ich ja gleich diesen Zusammenhang auf, denn in der letzten Woche stand in der Newsweek eine wunderbare kleine Meldung, … schreibt, den Sie ja auch ganz gut kennen, dass der Kanzler Schröder, so lange er Kanzler ist, auf diesem Stuhl im Weißen Haus nicht mehr erwünscht ist. Wie reagiert man auf solche Meldungen oder nimmt man die gar nicht zur Kenntnis?

Schröder: Die habe ich gar nicht gelesen. Jetzt haben Sie mir’s erzählt und wie soll ich darauf reagieren? Gar nicht. Weil, wenn ich da begänne, darauf zu reagieren, da wird jetzt ja viel geheimnist. Da werden Offizielle zitiert und alles so etwas, da habe ich mir wirklich zu Prinzip gemacht, gar nicht darauf zu reagieren.

Jürgs: Was lesen Sie eigentlich selbst, was wird Ihnen vorgelegt? Gibt es einen Pressespiegel oder lesen Sie selbst ganz bewusst?

Schröder: Ich lese einen Packen Zeitungen jeden Morgen. Ich sollte jetzt nicht die einzelnen Titel nennen, weil diejenigen, die nicht genannt sind, sich dann vielleicht beleidigt fühlen, aber das sind so 6 oder 8 Zeitungen. Und dann gibt es natürlich jeden Morgen so eine Auswahl von Presseberichterstattungen gedruckter Medien. Was gesendet wird, wird sicher auch mitgeschrieben, aber das ist so wenig direkt dann, dass, wenn man es ließt, man sich überhaupt fragt, warum es gesendet worden ist (Gelächter). Das ist wirklich ein Unterschied. Wenn Sie ein Hörfunkinterview oder ein Fernsehstatement nachlesen, ist das völlig anders, als wenn Sie es selber hören oder gar selber sprechen. Insofern, das wollte ich damit sagen, lese ich nicht Interviews, es sei denn, da ist ein Bolzen drin, den ich zur Kenntnis nehmen muss, den krieg ich dann vorgelegt.

Leinemann: Ergibt sich die Reihenfolge ihrer Lektüre aus der Größe der Buchstaben?

Schröder: Nee, soll ich mal sagen, was oben liegt? Das ist Financial Times Deutschland (Gelächter). Jetzt gibt es schon eine Schlagzeile.

Jürgs: Davon lebt die eine Woche jetzt.

Schröder: Darum habe ich das ja gesagt.

Jürgs: Und die berühmte Zeitung, die Sie früher nannten, das ist wichtig, Bildung, BAMS und Glotze. Ist die BILD-Zeitung etwas, was Sie täglich ärgert, ist die BILD-Zeitung etwas …

Leinemann: Lassen Sie ihn ruhig konkret werden!

Jürgs: … was Sie montags besonders ärgert, wenn dort bestimmte Kolumnisten schreiben?

Schröder: Nein, das wäre ganz falsch. Ich lese das, ich überfliege das. Das muss man ja auch nicht lesen. Wenn man das überfliegt, dann weiß man ja, welche Tendenz das hat und mit einzelnen Formulierungen muss man sich ja nicht auseinandersetzen. Natürlich lese ich dieses Blatt, das ist doch gar keine Frage. Muss man lesen. Was heißt lesen? Zur Kenntnis nehmen. Und das gehört zu dem selbstverständlichen Packen, den man sich da jeden Morgen auflädt.

Jürgs: Kann eine Kampagne in BILD etwas ändern an Machtverhältnissen oder muss man das hinnehmen?

Schröder: Also jetzt, ich glaube, dass diese Art von Journalismus Einstellungen verstärken kann. Aber ich glaube, es ist ein Irrtum, wenn man dort glaubt, dass man welche schaffen könnte. Wann immer man das versucht, muss man ganz besonders auf die Auflagenkurven kucken.

Leinemann: Ist denn für Sie die Lektüre von Zeitungen oder das Gewicht von Pressemeldungen wichtiger als das Fernsehen oder kann man das überhaupt nicht vergleichen?

Schröder: Das kann man nicht sagen. Also zunächst einmal ist ja klar, das Fernsehen ist ein Medium, das gut ist und gefährlich in gleicher Weise. Gut deswegen, weil man sehr direkt und sehr als individuelle Person faktisch ins Wohnzimmer der Menschen kommt. Diese Chance haben Sie ja sonst überhaupt nicht und Sie sind im Fernsehen kaum zu manipulieren, wenn Sie sozusagen direkt interviewt werden. Weil die Direktheit, mit der Sie zu den Menschen kommen, ist ja kaum zu überbieten. Das ist ja bei gedruckten Medien anders, das ist ja viel vermittelter als im Fernsehen. Die Gefahr beim Fernsehen ist, dass Sie sich natürlich auch sehr viel schneller vergaloppieren können, Falsches sagen können. Sie werden im Fernsehen ja nicht nur nach dem, was Sie sagen, bewertet, sondern vielleicht sogar noch mehr, wie Sie’s sagen und wie das Erscheinungsbild ist, das Sie abgeben. Und das hat ein Problem im Fernsehen, das, glaube ich, ist so eine Leitlinie, wenn ich bei einer Politikerinnen- oder einer Politikerschule zu referieren hätte, wenn es so etwas gäbe, es gibt ja Journalistenschulen bei uns, bei uns gibt es ja so was nicht.

Leinemann: Das merkt man übrigens. (Gelächter)

Schröder: Die unterschiedliche Qualität von Journalistenschulen auch, Herr Leinemann. Ins Fernsehen können Sie eigentlich nur gehen, wenn Sie einer Sache völlig sicher sind. Wenn Sie nicht so ganz sicher wissen, was Sie da eigentlich rüberbringen wollen, empfiehlt es sich, das nicht zu tun, weil, das ist das direkteste und deswegen in diesem Sinne unbestechlichste Medium, das es gibt. Sie können nichts zurückholen, jedenfalls nicht in Live-Sendungen und wenn sie kommen und sagen: „Lassen Sie uns die Aufzeichnungen noch mal machen“, wirkt das auch komisch. Das ist sicher der schwierigste Weg.

Jürgs: Wenn Sie nun dieses Spiel durchschaut haben, Journalismus und Politik und Symbiose, und mehr und mehr dazu gelernt haben, dann benutzt man es ja auch. Also ich erinnere mich an einen „Spiegel“-Titel „Blauhelme“, das kam im richtigen Moment zur richtigen Zeit.

Schröder: Das ist unterschiedlich wahrgenommen worden.

Jürgs: Ich nehme mal an, ich würde es so wahrnehmen, dass man den „Spiegel“ benutzt hat, um am Montag eine Geschichte zu haben, die man sonst nicht gehabt hätte, um von anderen Dingen abzulenken. Das müssen Sie jetzt weder dementieren noch bestätigen, aber ich wollte nur hinaus darauf, das Spiel ist ein wechselseitiges Spiel.

Schröder: Ich will jetzt nicht über den konkreten Fall reden, der hat viele Facetten. Wirklich wahr. (Gelächter)

Leinemann: Glaube ich auch. (Gelächter)

Schröder: Aber gut. Dahinter steht ja die Frage, versucht man als politischer Mensch, als jemand der ein Amt hat, die Medien zu instrumentalisieren, für was auch immer? Das will ich nicht ausschließen, dass das geschieht, nur das geht nicht lange gut. Darüber muss man sich im Klaren sein.

Jürgs: Das geht nicht immer gut.

Schröder: Ja, es geht nicht immer gut und es geht nicht lange gut, wenn man es macht. So etwas spricht sich rum. Man kann ein Ergebnis erzielen wollen, das ist, glaube ich, auch zulässig mit einer bestimmten Information. Aber die Information muss richtig sein. Manipulation ist weniger, eine Berichterstattung hervorzurufen mit einer richtigen Information. Das ist ja eher Pflicht von Ihnen, wenn Sie sie kriegen umso besser. Ich halte es für erlaubt, mit einer Information die richtig ist, so umzugehen, dass man sie zur richtigen Zeit gibt, und zwar zu der Zeit, wie es einem selber vernünftig erscheint. Aber den Versuch zu machen, eine Berichterstattung mit einer falschen Information zu erzielen, das macht man einmal, glaube ich, oder auch zweimal, aber dann ist Schluss, weil das spricht sich rum, bei Ihnen, bei Ihren Kollegen. Zu Recht im Übrigen und das beendet dann das, was Sie Spiel nennen, was ich nicht als Spiel begreife. Da gibt es auf beiden Seiten eine gewisse Verantwortung für das, was wir demokratischen politischen Prozess nennen, und den muss ich genau so im Auge haben wie Sie übrigens auch.

Leinemann: Spiel ist doch nur so ein Begriff, um einen geregelten Ablauf zu beschreiben. Wie würden Sie denn die Beziehung zwischen Politikern und Journalisten bezeichnen?

Schröder: Es gibt ja weder den Journalisten noch den Politiker. Insofern glaube ich, gibt es keine allgemeinen Grundsätze. Aber ich habe Zweifel. Ich glaube, das Tempo, das heute so extrem zugenommen hat, legt nahe, dass man mehr an Informationen zu verarbeiten hat und mehr mitbekommt. Aber es hat auch zu allen Zeiten, glaube ich, sehr enge Beziehungen zwischen handelnden Politikern und einzelnen Journalisten gegeben. Und wenn mal die Geschichte, in Teilen ist ja geschrieben, des Entstehens der Ostverträge sozusagen unter diesem Aspekt berichtet würde, dann würde man sicher, und zwar speziell unter diesem Aspekt, dann würde man sicher feststellen, dass ein Teil der seinerzeit so klaren und auch so historisch notwendigen Unterstützung von Spiegel und Stern beispielsweise, auch was mit Nähe der handelnden Personen zu tun gehabt hat, ich glaube das kann man nicht ernsthaft bestreiten, wenn man sich mal überlegt, wie diese gesellschaftliche Unterstützung, die so notwendig und richtig war, zustande gekommen ist. Also das gibt es glaube ich immer wieder, und ich würde mein Verhältnis zu Journalismus als ein Arbeitsverhältnis beschreiben, bei dem jede Seite weiß, dass man aufeinander angewiesen ist. Gleichwohl entwickeln sich in einem langen politischen Leben zwischen Politikern und Journalisten auch Freundschaften, das ist doch ganz klar. Man soll doch jetzt nicht so tun, als sei das Amt unabhängig zu sehen vom Menschen, und zwar auf beiden Seiten. Es kann so etwas sich entwickeln, und dann soll man das auch zulassen. Nur muss man dann eine Konsequenz daraus ziehen. Also wenn man über einen gewissen Zeitraum enger miteinander ist, als es dieses Arbeitsverhältnis ausdrücken kann und soll, dann kann man immer noch Informationen verwerten. Man muss besonders sensibel sein, wenn man sie aus Freundschaft und wegen der Freundschaft erlangt. Es muss klare Verhältnisse zwischen denen geben, um die es da geht, aber man sollte nicht mehr schreiben müssen oder senden müssen, oder Porträts machen müssen über denjenigen, dem man besonders freundschaftlich verbunden ist. Das geht schief, und zwar immer zu Lasten des Politikers. Weil derjenige, der das als Freund schreibt, natürlich besonders kritisch schreibt, weil er sich von den Kollegen ja nicht dem Verdacht aussetzen will, er sei sozusagen vereinnahmt. Und deswegen geht es immer schief, wenn Leute, die man seit langem kennt, denen man freundschaftlich verbunden ist, womöglich noch psychologisierend über einen schreiben.

Leinemann: Ich denke, wir sollten dieses ein bisschen konkretisieren. (Gelächter)

Leinemann: Wir kennen uns jetzt 25 Jahre und in den Anfangszeiten sind wir uns in der Tat ziemlich nahe gewesen, die Folge ist davon genau, das haben Sie so erkannt wie ich das auch erkannt habe, dass ich 10 Jahre über Sie überhaupt nicht geschrieben habe.

Jürgs: Das heißt aber, wenn ich das aufnehmen darf, als einer, der ein bisschen weiter außen steht und Sie nicht so lange kennt (Gelächter), dass man von zwei Seiten angegriffen werden könnte: a) die, die gegen Sie politisch sind in der Presse und b) die anderen, die zeigen müssen, dass Sie ganz kritisch sind.

Schröder: Ja, das erlebe ich ja gerade.

Jürgs: Aber jetzt ernsthaft zurück. Kampagnenjournalismus hieß ja auch früher die Kampagne gegen die Ostpolitik, die ja von der BILD-Zeitung gefahren wurde, und die Kampagne, die heute gefahren wird, von anderen Blättern. Wo ist eigentlich nach Ihrer Wahrnehmung der Unterschied? Wird die SPD in Kampagnen genau so behandelt wie die Konservativen, oder gibt es da gewisse Tabus, die man bei der SPD eher verletzt als bei den Konservativen. Was fiel Ihnen da so auf in letzter Zeit?

Schröder: Also wenn ich mir das so anschaue, dann gibt es Unterschiede. Die haben sicher auch was mit einer Grundausrichtung der jeweiligen Medien zu tun. Die sind sehr deutlich und ich glaube, dass die SPD in alldem, was sie tut – auch die Grünen im Übrigen – kritischer beobachtet werden als konservative Parteien und Politiker, das könnte ich an vielen Beispielen der jüngsten Vergangenheit festmachen. Also ich glaube zum Beispiel, dass die Berichterstattung über bestimmtes persönliches Verhalten im einen wie im anderen Fall anders ist. Wenn Sie mal sehen, beispielsweise über die Frage, was ist da eigentlich gewesen, beim Untergang und bei dem, was sich mit dem Kirchmedium verbindet. Ich denke mir mal, wenn die Zahlungen, die offenbar, ich muss ja zurückhaltend sein, an Sozialdemokraten geleistet worden wären, die an konservative Politiker geleistet worden sind, hätte das eine andere Rolle gespielt in den Blättern, über die wir hier geredet haben. Ich bin da ganz sicher, dass das so gewesen wäre, aber das bringt ja nichts, wir müssen ja mit dem Umfeld umgehen, das es gibt und nicht das, das Sie sich wünschen, und in insofern habe ich nicht zu denen gehört, die sozusagen gegreint haben deswegen. Ich weiß das und ich stell mich darauf ein. Aber es ist nicht so, dass man sagen könnte, dass es eine Gleichbehandlung gäbe, das, glaube ich, wäre wirklich beschönend, wenn man das so sehen würde.

Jürgs: Ist es auch ein Reiz zu sagen, jetzt erst recht, auch wenn sozusagen „Viel Feind viel Ehr“, nun kämpfe ich erst richtig.

Schröder: Man hätte ja manchmal lieber weniger Feind und dann, wenn das ein Zusammenhang ist, der kausal ist, dann auch meinetwegen weniger Ehr. Es ist schon so, dass die, die glauben, mit einer bestimmten Qualität von Berichterstattung, die bis weit ins persönliche hineingeht, könnten sie sozusagen destabilisierende Wirkungen erzielen bei der Person, gar bei mir, die irren gründlich, das ist nicht zu machen. Das hat man natürlich auch gelernt in langen Jahren politischer Arbeit, so eine gewisse innere Stabilität gegenüber Angriffen, zumal auch dann, wenn man sie als nicht gerechtfertigt empfindet. Die braucht man schon, die muss vorhanden sein. Wenn die nicht vorhanden ist, sollte man sich besser nicht um Ämter in dieser Qualität mit dem, was dranhängt an Beobachtung und auch an Kritik bewerben.

Leinemann: Hat eigentlich die Tatsache, dass Sie mit einer ehemaligen Kollegin von uns verheiratet sind, Ihr Bild vom Journalismus und Journalisten verändert?

Jürgs: Oder nur von einer?

Schröder: Also das ist, nee, das hat mein Bild nicht verändert, glaub ich. Aber natürlich ist es hilfreich, wenn jemand, der 16 Jahre in ihrem Beruf gearbeitet hat, in unterschiedlichsten Bereichen der Kommunalpolitik, einer Regionalzeitung ebenso wie in Boulevard und Magazinjournalismus, wie Sie wissen. Darüber redet man, das ist doch klar. Und das erschließt einem auch neue Erkenntnisse und Möglichkeiten, das ist doch gar keine Frage.

Jürgs: Ist es denn so, dass die Politiker manchmal nicht selbst dran Schuld sind, wenn sie sich als Popstars gerieren in Wahlkämpfen und sich dann wundern, dass plötzlich alles, was sie selbst machen …

Schröder: Das stimmt. Wer zulässt – und ich bin auch nicht frei davon gewesen, muss man auch sagen, daraus habe ich gelernt – wer zulässt, dass es Homestories gibt, wer zulässt, dass Privatleben sozusagen feilgeboten wird zur Berichterstattung, der darf sich nicht beschweren, wenn das genutzt wird, das ist wahr. Aber wer genau hinschaut, der wird finden, dass es das bei uns nicht gibt, zu uns kommt niemand ins Haus, nicht weil keiner will, sondern weil wir keinen reinlassen. Und da ist wieder so ein Punkt. Diejenigen, die Journalisten sind und als Gäste eingeladen werden, die sind da als Freunde und nicht als Journalisten und halten sich auch daran. Da bin ich auch noch nie enttäuscht worden. Der Punkt ist richtig, aber genau umgekehrt muss gelten, wenn man das nicht tut, erwirbt man auch ein bestimmtes Recht, geschützt zu bleiben in dem Bereich. Ich würde sogar weiter gehen, was die Rechte der Presse angeht. Wer öffentliche Ämter ab einer gewissen Stufe bekleidet, der muss damit rechnen, dass nicht nur das, was er in seinem Berufstag tut, beobachtet wird, sondern natürlich auch sein Umfeld, das muss er akzeptieren. Aber je mehr die Berichterstattung weggeht von den beruflichen Dingen, also von den politischen Entscheidungen, desto sorgfältiger muss sie sein. Und ein Recht, Lügen zu verbreiten, das kann niemand für sich in Anspruch nehmen. Ich hoffe, dass das auch hier so gesehen wird, denn dann muss man sich mal fragen, was mit einem selber passiert, wenn solche erfundenen Geschichten, die das Persönliche betreffen und die ja dann nicht immer die eine Figur betreffen, sondern das ganze Umfeld, das sich überhaupt nicht wehren kann, das familiäre Umfeld, ich glaube, das ist die Grenze, die muss eingehalten werden. Ist manchmal schwierig. Das hat auch ein bisschen was zu tun mit dem Beruf, mit dem was man Intus seines Berufes nennt, was heute gelegentlich weniger ernst genommen wird. Das sind meine Beobachtungen, also in der Vergangenheit, aber vielleicht kriegt man ja wieder was …

Leinemann: Können Sie was mit dem Begriff „Herdenjournalismus“ anfangen?

Schröder: Ja gut, das hat ja nun ein Journalist geschrieben oder ein Herausgeber, wenn ich das richtig sehe. Ich nehme an, dass er sich da auf Erfahrungen stützt. Aber sagen wir mal so. Dass bestimmte Trends gesetzt werden, die man dann nachvollzieht, denen man dann die eine oder andere Arabeske hinzufügt, ich glaube das ist eine Beobachtung, die man nicht völlig von der Hand weisen kann. Ob man das mit dem Begriff belegen sollte, das würde ich auch erst tun, wenn ich das Amt hinter mir hätte. (Gelächter)

Jürgs: Wie gezielt setzen Sie denn Trends? Gibt es da richtige Strategien, dass man sagt, dieses wollen wir jetzt rüberbringen?

Schröder: Es gibt die mehr oder minder geglückten Versuche einer politischen Entscheidung, zumal wenn sie wichtig ist, einen Kommunikationsprozess vorausgehen zu lassen und natürlich die Entscheidung, selber geeignet zu kommunizieren. Also nehmen Sie mal so eine Rede wie am 14.3. mit der Agenda 2010. Da kam es darauf an, deutlich zu machen, von diesem Zeitpunkt an ändert sich was. Dann gibt es aber immer eine Gefahr. Wenn sich der Zeitpunkt zu sehr ins Auge fassen lässt und dabei auch noch hilfreich ist, wird man leicht überfordert mit dem

Leinemann: Sie produzieren Enttäuschung.

Schröder: Ja, produzieren Enttäuschung, aber ich bin ja nicht Herrscher der Kommunikation allein. Ich kann Anlass setzen und dann geht das ganze ja los, ohne das ich das noch in der Hand hätte. Aber das ist ja dann Ihre Geschichte, das ist die eine Gefahr und die andere Gefahr ist natürlich, dass etwas, was Sie tun und nicht tun wollen, nicht hinreichend wahrgenommen wird. Einmal Sie produzieren Überforderung mit einer Kommunikationsstrategie, wenn die ernst genommen wird und richtig dann noch weiter getrieben wird und das ist ja Sache von Journalisten. Und die andere Gefahr ist, es verpufft. Weil Sie eine solche Kommunikationsstrategie nicht hatten und im nachhinein, etwas, was nicht richtig zur Kenntnis genommen worden ist, zur Kenntnis zu bringen. Das ist ein sehr schwieriges Stück von Kommunikation, glaube ich überhaupt, was es gibt, gelingt fast nie, es sei denn, Sie kriegen es hin, eine solche Entscheidung zum zweiten Mal zu dramatisieren, über irgendwelche Personalquerelen, die damit verbunden wären, über bestimmte andere Ereignisse, auf die man kommen könnte, aber das ist das schwierigste. Was vergessen ist, wieder vorzuholen, ist, glaube ich, der schwierigste Teil einer Kommunikationsstrategie. Leichter ist es, zu einem Punkt Aufmerksamkeit zu lenken, an dem Sie das wollen.

Leinemann: Sie haben gesagt, es muss eine Situation wirklich für alle ganz katastrophal sein, bevor sich in diesem Lande etwas ändern lässt, so sinngemäß.

Schröder: Ja, sehr sinngemäß.

Leinemann: Also ich habe das so verstanden.

Schröder: Darf ich mal sagen, Herr Leinemann, genau das ist auch einer der Geschichten, über die man mal reden muss (Gelächter). Also da gibt es ein Zitat, das so, wie er es jetzt gesagt hat, nie gefallen ist. Wenn ich das unwidersprochen ließe, dann wäre es eins.

Leinemann: Ich habe das aber nicht als Zitat gesagt.

Schröder: Verstehen Sie, was ich damit ausdrücken will, ist Folgendes. Man sagt, was den Reformprozess in Deutschland angeht und das halte ich für richtig, wir sind unbeweglicher als wir sein dürften, weil wir ein reiches Land und nicht ein armes Land sind. Wir sind, und das hat damit zu tun, dass die Menschen in einem reichen Land – natürlich abgestufte Formen von Möglichkeiten wirtschaftlicher Art da sind und das soll ja auch so bleiben -, dass dort viel mehr als in anderen Ländern etwas zu verlieren haben. Und also jeder meint, das halte ich jetzt fest, was wir vielleicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte machen, Wohlstand dieser Art gibt, will jeder das, was erreicht worden ist, festhalten, muss man verstehen, muss nur das argumentieren, muss es nur behalten können, wenn du dich der Veränderung, die notwendig ist, nicht entgegenstellst. Das ist aber ein anderes Thema, bezogen ist hier drauf, ich hab das immer so gesagt, wie hier, so wie Sie’s jetzt wiedergegeben haben, sehr verkürzt, ich halte das für zulässig, habe ich sozusagen gesagt, es muss erst eine Katastrophe kommen, bevor wir Politik machen können. Das ist aber gar nicht meine Auffassung, übrigens erst recht nicht meine Aufgabe.

Leinemann: Das war Strauß. Das war Franz Josef Strauß, der hat das so gemacht.

Jürgs: Aber es heißt doch, dass in solchen Momenten eine Presse hilfreich wäre die sagt, ja es ist Zeit für eine Reform.

Schröder: Nein, nein, das geschieht ja auch. Und sagen wir mal, das, was dort an teilweise auch zu weitgehender Unterstützung sehr abstrakt häufig ausgedrückt worden ist und deswegen für die konkreten politischen Entscheidungen nicht immer hilfreich ist, ist aber generell nicht zu beklagen, weil eingefordert worden ist, von den Journalisten, also von einer der geliebten dieser Gesellschaft in Übereinstimmung

Jürgs: Das gilt aber auch für Politiker.

Schröder: Das gilt auch für Politiker, in der Tat. Und wenn dann so ein Veränderungsprozess eingefordert wird, ist dagegen nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil, das kann man als kommunikative Unterstützung begreifen, wenn man es hinbekommt, das, was sozusagen dort so radikal ohne konkret zu sagen, wo und wer denn betroffen worden ist, eingefordert wird, wenn man es schafft, sozusagen, die konkreten Einscheidungen, die nötig und möglich und unter den Machtstrukturen dieser Republik durchsetzbar sind, in etwa in einem Kontext zu halten, mit dem, was abstrakt an Veränderung eingefordert wird, das ist ja dann die Kunst, die wir zu leisten haben. Das man das, was es an Stimmung für einen Veränderungsprozess gibt, auffängt in den konkreten Entscheidungen, hier in Agenda 2010, ohne dass der Veränderungswille, der abstrakt sichtbar geworden ist, Enttäuschung findet, in den konkreten Umsetzungen die man macht. Denn dann kriegt man wieder das Problem, dass man eine allgemeine Unterstützung hat, aber an konkreten Dingen rumgenörgelt wird.

Jürgs: Dazu wäre es natürlich sinnvoll, wenn man jeden Tag eine Regel abschafft und die der BILD-Zeitung exklusiv gibt, dass man immer dieses Echo hat.

Schröder: Irgendwie, Herr Jürgs, müssen Sie ein gebrochenes Verhältnis zur BILD-Zeitung haben.

Jürgs: Wir hatten, Herr Schröder, um wieder ganz ernsthaft zu werden, davon gesprochen, dass natürlich früher es andere Tabu-Grenzen gab, dass manches einfach nicht berichtet worden ist, und zwar diese Symbiose von Journalisten und Politik, die sich gemeinsam an gewisse Grenzen hielt, die nicht überschritten worden sind. Wann hat sich das eigentlich geändert nach Ihrer Wahl?

Schröder: Ich glaube, das hat sich in Deutschland langsam geändert. Ich erinnere an Berichterstattung, die ins Persönliche ging, die mich nicht betroffen hat, die ich aber amüsiert zur Kenntnis genommen habe seinerzeit. Da gab es die einen, die schon länger, meistens Boulevard-Presse – es ist auch schwieriger für die, was zu verschweigen, weil sie sehr stark von solchen Ereignissen natürlich auch leben, auch wirtschaftlich leben – da gab es die, die das berichteten und dann gab es die anderen, die schrieben Artikel, „was wir nie wieder lesen wollen“. Und dann wurde die ganze Chose in dem Artikel berichtet, das war nur eine andere Überschrift, und das hat sich inzwischen bedauerlicherweise angeglichen, aber nicht in Richtung, was wir nie wieder lesen wollen, sondern in die andere Richtung. Das muss zu tun haben – aber das können Sie besser beurteilen als ich – mit der doch härter gewordenen Konkurrenz. Was mir jedenfalls riesige Sorgen macht, ist die wirtschaftliche Situation von Zeitungen, und zwar allen Zeitungen, unabhängig davon, ob mir die Leitartikel passen oder nicht. Ich denke, man wird in der nächsten Zeit, wir haben ja in Deutschland eine Zeitungslandschaft, die so vielfältig ist, wie es sie in keinem europäischen und auch in keinem außereuropäischen Land gibt. Ich halte das für ein Stück Kultur in Deutschland, wir werden drüber reden müssen, wie kriegen wir hin, dass angesichts des Entzugs von Einnahmemöglichkeiten, etwa in der Werbung, die strukturellen Veränderungen von Anzeigen in Zeitungen und der Weg zum Internet sind sichtbar und werden wahrscheinlich vollständig auch nie wieder sich ändern und wir müssen uns einfach darüber unterhalten, welche politischen Rahmenbedingungen müssen gesetzt werden, um das Überleben einer möglichst vielfältigen Zeitungslandschaft, auch wirtschaftliches Überleben – daran müssen auch Journalisten Interesse haben – zu ermöglichen. Ich hoffe, dass wir eine solche Diskussion, mit denen, die nicht nur Zeitung machen, also mit Ihnen, sondern auch mit denen, die sie verlegen, in Gang setzen. Wir sind jedenfalls dazu bereit. Wenn man sich mal die Schwierigkeiten in den Zeitungen unterschiedlichster Couleur anschaut, dann ist das ein strukturelles Problem. Es mag bei dem einen oder anderen Fall auch Missmanagement dazukommen, das kann man nicht bestreiten, soll man auch nicht, aber ich glaube die strukturellen Probleme überwiegen und da müssen wir dann ran, ohne dass wir Subventionstöpfe aufmachen könnten und wollten. Dass wollen ja auch diejenigen, die unabhängig bleiben, sicher nicht. Aber ich glaube, wir haben in Deutschland einen Nachholbedarf, was die Klärung dieser Frage angeht und ich hoffe, dass wir möglichst bald, mit denen, die da verantwortlich sind, ins Gespräch kommen. Und so ein Gespräch sollte auch nicht zwischen Politik und Verlegern allein geführt werden, sondern es sollten die Journalisten genauso beteiligt sein. Ich habe jedenfalls ein großes Interesse daran, dass das möglichst schnell in Gang kommt. Ich will jetzt keine weitergehenden Ankündigungen machen, man wird auch überprüfen müssen, ob die spezifischen Rechtsvorschriften, die wir zum Schutze einzelner Titel gemacht haben, der gewandelten Wirklichkeit, was die wirtschaftlichen Fragen angeht, noch standhalten. Ich hab da meine Zweifel, aber wie gesagt, dass wäre zu klären im Rahmen einer solchen Diskussion, zu der wir einladen werden.

Leinemann: Haben wir jetzt so Undercover über die Situation in Berlin geredet?

Schröder: Nein, überhaupt nicht. Das wäre auch wirklich töricht, wenn ich darüber redete. Dass ist einer jener Fälle, wo es eine politische Richtlinienkompetenz nicht gibt und von daher ich auch aus guten Gründen nicht darüber reden muss und auch nicht darf. Denn Entscheidungen, die beantragt sind, sind Entscheidungen des Wirtschaftsministers als Behörde und nicht Entscheidungen etwa, die im Kabinett zu erörtern oder zu treffen wären oder wo ich eine Richtlinienkompetenz in Anspruch nehmen könnte. Täte ich das, würde ich den Anwälten auf allen Seiten wunderbare Munition liefern. Deswegen haben wir heute über alles geredet, nur darüber nicht.

Leinemann: Sehen Sie eigentlich eine ähnlich Besorgnis erregende Entwicklung auf dem Fernsehmarkt?

Schröder: Nein, dass kann ich nicht finden. Ich denke, dass wir in Deutschland ganz gut dran sind mit der Tatsache, dass wir zwei öffentlich-rechtliche Programme haben. Ich überschaue nicht die betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten dort, ich will jetzt keine Gebührendebatten führen oder so, dafür bin ich auch völlig ungeeignet, weil ich überhaupt nicht zuständig für den ganzen Bereich bin, aber ich finde die Situation ist ganz glücklich. Und dann gibt’s zwei private Programme, die sind zufrieden. Dem einen geht’s ja wirklich gut, wenn ich die Zahlen zur Kenntnis nehme. Also RTL, denen geht’s ja glänzend. Das zeigt, dass neben dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen in zwei Programmen Privates über Werbung finanziert möglich und erfolgreich sein kann und meine Hoffnung ist, dass die andere sog. Senderfamilie unter den neuen Eignern ähnlich erfolgreich ist . Prinzipiell muss das möglich sein. Ich glaube auch nicht, dass diese Art von Wettbewerb dem öffentlich-rechtlichen Bereich schadet. Im Gegenteil.

Jürgs: Gehen wir mal zurück zu Macht und Medien. Was glauben Sie eigentlich, welche Macht Medienmächtige haben. Natürlich eine verlierende, weil Chefredakteure fliegen etwa so raus wie Bundesliga-Trainer oder verlieren ihr Amt wie Politiker. Welche Macht haben die? Wo ist die Macht für Sie so spürbar, dass Sie praktisch sagen, bei allem was ich glaube, machen zu müssen, ich glaube, ich muss das und das ändern, weil die sind zu starr. Gibt es da konkrete Beispiele?

Schröder: Also das mag es geben, dass, wenn man bestimmte Widerstände, die aufgebaut werden, sich so anschaut, dass man unterbewusst darauf reagiert. Aber ich würde keinem raten, eine Entscheidung zu korrigieren, die er innerlich für richtig hält zu korrigieren, nur weil sie uno sono oder in Berlin auf ein schlechtes Echo trifft. Wenn das angefangen wird, dass man sagt, also da macht einer eine Mut- oder Wutkampagne, was auch immer gerade da ist, und man sagt, oh, dass kann aber schief gehen und da streich ich die Segel, das macht keinen Sinn, es sei denn, man kommt durch einen öffentlichen Diskurs zu der Auffassung, die Entscheidung, die man getroffen hat, ist deswegen zu korrigieren, weil sie falsch ist, also das muss möglich sein. Aber dann ist es nicht ein Ergebnis einer Kampagne, sondern Ergebnis eines Prozesses des Nachdenkens in einem öffentlichen Diskurs und das hat dann was mit diesem Begriff zu tun, der so ein bisschen höhnisch wie zynisch benutzt wurde, den der Nachbesserung. Ich selber glaube ja, dass man noch sehen wird, dass Gesetze, die zu tun haben mir der Reaktion von Politik auf eine sich rasant verändernde ökonomische Basis unserer Gesellschaft, dass solche Gesetze kürzere Lebensdauer haben und haben müssen, als das in der Vergangenheit der Fall war. Insofern glaube ich übrigens auch, dass dieser Prozess, dass Politik sehr viel mehr Prozesscharakter auch sichtbar haben wird in Zukunft als jemals zuvor. Denn wenn die Zyklen an der ökonomischen Basis einer Gesellschaft Produktzyklen, Entwicklungszyklen, sich sehr viel schneller verändern als je zuvor in unserer Geschichte und das eher zunehmen als abnehmen wird, dann besteht die Aufgabe, die politischen Subsysteme entlang dieser Veränderung jedenfalls zu überprüfen, permanent. Und dann kann es sein, muss nicht sein, aber dann kann es sein, dass die Anpassungsvorgänge auch schneller ablaufen müssen, als das je zuvor notwendig gewesen ist. Und dann wird man natürlich mehr und mehr Gesetze machen mit Verfallsfristen, weil man sie einfach auslaufen lassen muss, wenn sie diese Funktion nicht mehr haben oder die Nachbesserung von Gesetzen kriegt dann eine neue und dann positive Qualität, weil das objektiv notwendig ist, nicht nachzubessern, aber auf immer rascher eintretende neue Konstellationen zu reagieren.

Jürgs: Das würde aber bedeuten, dass Sie unentwegt tätig sein müssten, um Aufklärung in diese Richtung zu leisten.

Schröder: Ja, das bedeutet zunächst einmal, dass es die Sicherheiten, die man früher als selbstverständlich angesehen hat, über Jahre und Jahrzehnte, dass es die nicht mehr gibt. Das ist ja auch das Problem, das wir gegenwärtig haben, dass die Menschen in Deutschland spüren, die Gewissheiten kommen ins Wanken und man spürt, dass sich was verändern muss. Man will sich auf der anderen Seite auf den Prozess der Veränderung deshalb nicht einlassen, weil man genau nicht weiß, ob es besser oder schlechter wird, und das was gut ist, gern festhalten möchte. Insofern, Herr Leinemann, ist dieser Prozess der Veränderung in der Tat dauerhafter und damit der Prozess der Aufklärung.

Leinemann: Also mir scheint im Augenblick ja eine Hauptschwierigkeit auch im Umgang zwischen Medien und Politik darin zu bestehen, dass die Wahrnehmungen der Wirklichkeit ganz weit auseinandergehen, dass die Medien in allen Medien eigentlich ist es immer fünf vor zwölf. Bei ihnen ist es zwar schlimm, aber das kriegen die schon hin. Und bei den Leuten ist die Tatsache, dass sich überhaupt was bewegt, schon Besorgnis erregend. Und zwischen diesen drei Ebenen – alle reagieren auf ihrer Ebene – kommt es immer mehr zur Diskrepanz.

Schröder: Das würde ich als zutreffende Beschreibung ansehen. Aber die Frage ist ja, man kann ja nicht bei der Beschreibung stehen bleiben. Es ist richtig, was Sie kritisieren, dass in der Berichterstattung all zu sehr dramatisiert wird. Das ist natürlich auch eine, wie soll ich sagen, Zuspitzung, ist Teil des Berufes denke ich, während bei uns Zuspitzung gelegentlich Teil des Berufes ist, aber natürlich nicht immer, das ist auch ein Stück Vertrauen und Hoffnung in die Lösbarkeit von Problemen deutlich werden lassen. Und sie sind ja auch lösbar, und das Dritte ist, ich glaube, es gibt die Menschen, die Informationen bekommen und denen Sie bei der Verarbeitung helfen, wissen schon genauer zu unterscheiden, sonst würden ja alle Kampagnen „erfolgreich“ sein. Sie sind es ja nicht, insofern gibt es schon ein Differenzierungsgebot. Aber das Grundproblem ist in der Tat, dass wir zumal in Deutschland die Neigung haben, eine Veränderung nicht nachdrücklich und klar einzufordern, sondern sie zu verbinden mit einer Weltuntergangsstimmung und da finde ich im Moment die Kritik an dieser Kritik berechtigt. Das war sehr hilfreich, dass mal gesagt worden ist, verdammt noch mal, in welchem Land leben wir eigentlich. Wir beklagen Wachstumsraten zu Recht, wir beklagen hohe Arbeitslosigkeit noch mehr zu Recht. Aber verglichen mit dem, was dem zugrunde liegt, z. B. dass wir seit zwölf Jahren, ohne zu murren vier Prozent unseren Bruttoinlandproduktes von West nach Ost transferieren, dabei parallel ein Viertel des europäischen Haushaltes zu finanzieren, ohne dass die deutsche Wirtschaft auf den Märkten der Welt etwa Terrain verloren hätte, im Gegenteil, alle haben ja damit gerechnet, dass das der Fall sein würde. Das Gegenteil ist eingetreten, das zeigt eine ungeheure Kraft, und gelegentlich wäre es natürlich hilfreich, wenn in der Kritik auf diese Kraft hingewiesen würde. Dann kann man ja immer noch sagen, das habt ihr nicht schnell genug und nicht entschieden genug gemacht. Also dieses Wechselspiel zwischen der Vermittlung, Lösbarkeit der Probleme und der Beschreibung der Probleme, das klappt noch nicht so bei uns.

Jürgs: Hätten Sie manchmal Lust, die Maßstäbe, die Journalisten, also wir, anlegen, an Politiker umgekehrt anzulegen?

Schröder: Ja, das werde ich machen, wenn ich, ja wann, kann ich Ihnen ja nicht sagen (Gelächter), das werde ich machen, wenn ich aufgehört habe, aktiv politisch zu arbeiten und dann so mit großer Freude.

Jürgs: Eine ganz persönliche Frage zum Schluss. Sie wirkten auf mich in manchen Monaten der letzten Zeit ausgebrannt. Nun habe ich nicht erst seit 14. März, seit der Agenda 2010, das Gefühl von Lust auf Kämpfen. Kann es also sein, dass Sie entweder sagen, ich ziehe die Karre nun aus dem Dreck und Ihr macht mit oder wenn Ihr nicht mit macht, mach ich mir einen schönen Sommer und bin weg.

Schröder: Das ist eine schöne Fangfrage.

Jürgs: So war das gedacht.

Schröder: Also erstens, was heißt ausgebrannt? Das Problem des letzten Wahlkampfes war, dass er in einer Weise personalisiert worden ist, und zwar mit allen Konsequenzen, wie wahrscheinlich nie einer zuvor.

Leinemann: Und zwar auch von Ihnen.

Schröder: Ja klar, was sollte ich aber auch machen? (Gelächter) Ich will das begründen. Wir hatten, und entgegen dem, was ich gelegentlich gelesen habe, wir hatten diese Wahl auf der Ebene der Parteienkonkurrenz faktisch verloren. So. Und wir haben sie dann auf der Ebene der Personenkonkurrenz gewonnen. Das war allerdings seit April, Mai im letzten Jahr ziemlich klar, dass man das auf der Ebene der Parteienkonkurrenz nur noch schwer würde drehen können. Aber auf der Ebene der Personenkonkurrenz schon. Und so ist es uns sehr häufig ergangen. Was bedeutet das? Das bedeutet natürlich, dass Sie nicht nur sich quälen müssen wie selten zuvor, dass müssen Sie in jedem Wahlkampf, dass Sie nicht nur im Fokus eine erhöhte Aufmerksamkeit als Person haben. Aber wer genau hinkuckt, der wird mitbekommen haben, dass die ganze Zeit über auch die Dinge begangen wurden, gegen die ich mich dann zu wehren hatte. Aus den Gründen, die ich Ihnen eingangs genannt habe. Das war eine neue Qualität, die sehr bewusst gesetzt worden ist, um auf der Ebene der Personenkonkurrenz eben nicht verlieren zu müssen. Das war schon sehr politisch gemacht und sehr infam. Dass kann man gar nicht bestreiten. Und dann kam etwas hinzu, was so früher auch nicht da war, es wurde immer auf meinen Zylinder gekuckt, den ich gar nicht habe.

Leinemann: Aber das ist kein Mittel.

Schröder: Das war auch nie so personalisiert. Ich habe immer verzweifelt nach Zylinder und Kaninchen gesucht.

Leinemann: Sie haben zu oft Hokuspokus gesagt (Gelächter).

Schröder: Wir reden ja über die Frage, wenn Sie so einen Wahlkampf hinter sich haben, dann möchte ich den mal sehen, der nicht – ausgebrannt ist das falsche Wort – aber der nicht auch erschöpft ist. Ist doch klar, wir sind doch auch keine Leute, die solchen ganz normalen Abnutzungserscheinungen nicht erlägen. Und dann war eigentlich der Rat, der mir da immer öffentlich gegeben wurde, machen Sie doch erst einmal zwei Wochen Urlaub statt Koalitionsgespräche, eigentlich ein richtiger Rat, im nachhinein ein ganz richtiger. Denn ich behaupte, wenn ich zwei Wochen weggewesen wäre, wäre das auch nicht schlechter geworden als die Koalitionsgespräche abgelaufen sind. Aber das wusste ich natürlich nicht, also konnte ich das auch nicht machen, gleichzeitig gab es, das können Sie nicht übersehen, diese sehr spannungsreiche internationale Situation, wo das Festhalten an einer bestimmten Position auch Kraft kostet, auch sehr sehr stark persönlich. Das hat sicher dazu beigetragen, dass bei dem einen oder anderen so ein Eindruck entstehen konnte, die Sache war nicht richtig, was mich persönlich angeht, aber richtig bleibt natürlich, dass der alte schöne Satz „Viel Feind viel Ehr“ schon eine Herausforderung im Grunde formuliert. Eine Herausforderung, die dazu führt, dass man sagt, das wollen wir doch mal sehen.

Jürgs: Also doch noch einmal zugespitzt, Karren aus dem Dreck ziehen gemeinsam oder macht Euren Dreck alleine, ich bleib dabei bei der Frage.

Schröder: Und ich bleib dabei, dass alles richtig war, was ich bisher geantwortet habe.

Ende der Podiumsdiskussion

Ein Reporter vom NDR (X) fragt den Bundeskanzler im Anschluss der Podimsdiskussion:

X: Herr Bundeskanzler, ein Heimspiel beim Norddeutschen Rundfunk, wie fanden Sie denn die Veranstaltung?

Schröder: Ich fand sie munter, und was die beiden Moderatoren angeht, auch auf den Punkt hin gefragt, ich hoffe, Sie waren mit den Antworten einigermaßen zufrieden.

X: Wie kann es passieren, dass Journalisten wie in diesen schwierigen Zeiten sich beschränken auf das Thema Kanzler und Medien und nicht das diskutieren, was die Bevölkerung interessiert?

Schröder: Also ich denke, dass war eine lange vorbereitete Debatte über ein bestimmtes Thema, das muss möglich sein. Die gleichen Journalisten fragen ja jeden Tag zu aktuellen Themen. Und ich glaube, wir kommen auch, so weit es geht, dem Informationsbedürfnis nach, so dass sich jeder, wie das ja sein soll, über Journalismus, aber auch über Politik ein eigenes Bild machen kann.

Eröffnungsrede von Hans Leyendecker auf der nr02

Eröffnungsrede von Hans Leyendecker

von Hans Leyendecker, zweiter Vorsitzender Netzwerk Recherche

Diese Rede hielt Hans Leyendecker zur Eröffnung der Jahrestagung des netzwerks recherche am 26.04.2002 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg:

Meine Damen und Herren,

Edgar Allan Poe hat einmal gesagt, man könne einen wirklich schlechten Redner daran erkennen, dass er jede Gelegenheit zu einem Exkurs ausnutzt. Ich beginne also mit einem Exkurs.

Journalismus ist, ein paar Langeweiler ausgenommen, ein Biotop für Rechthaber. Am häufigsten haben die Leitartikler recht. Besonders in Kriegzeiten.

Dann tragen sie ihre alten Schlachten mit besonderer Verve aus und tun, als ginge es um wirklich alles oder nichts. Schon aus Friedenszeiten all zu gut bekannte Argumente werden recycelt, frisch angestrichen und mit großer Geste als neu ausgegeben.

Selbst die Drohung eines Großpublizisten vom Format eines Karl Kraus – “Mein Herr, wenn Sie nicht schweigen, werde ich Sie zitieren”, könnte diese Streithähne nicht stoppen.

Polemiken der kommentierenden Klasse sind besonders erquickend, weil sie mit besonderer Bosheit ausgetragen werden. In einem “Leitfaden für Polemiken” hat ein anderer Wiener Großpublizist mal beschrieben, um was es bei den Kampfspielen dieser Branche geht. “Um den Kampf” gehe es, “nicht um den Sieg”, welcher ohnehin von beiden Parteien in Anspruch genommen werde. Die Gemeinde des A sage bei solchen Gelegenheiten: “Du hast den B in der Luft zerrissen”. Die Gemeinde des B sage: “Soll uns wundern, wenn sich der A überhaupt noch unter die Leute traut.” Wenn Sie wollen, können Sie bei dem gegebenen Anlass A durch den Namen Roger Willemsen und B durch den Namen Henryk M. Broder ersetzen.

Beide haben die Gabe des inszenierten Pathos und tun so, als würde der rechtschaffene Zorn sie übermannen, wenn sie losschlagen. Willemsen nennt Broder einen “Kriegsapologeten”, Broder schimpft Willemsen einen Friedensfreund, der wahrscheinlich aus der Rippe eines Gartenzwerges erschaffen wurde.

Zum Team A gehörten noch: Der Verschwörungsjunkie Andreas von Bülow, der taz- Humorist Wiglaf Droste, Gregor Gysi, Günter Gaus, sowie Peter Sloterdijk, der, die Katastrophenlandschaft des 20. Jahrhunderts überblickend, den 11. September unter der Bezeichnung “schwer wahrnehmbare Kleinzwischenfälle” abtat.

Die Gruppe A stellte früh Überlegungen an, ob es sich bei den Anschlägen um eine kriegerische Aktion oder ein Verbrechen handelte und wollte auf keinen Fall Vergeltung, sondern forderte, die Ursachen des Terrorismus wie Armut und Unterdrückung abzuschaffen und die Israelis zu bremsen. Interkulturelle Dialoge als Antwort auf den Massenmord. “Terror ist die Waffe der Ohnmächtigen” erklärte der Moraltheologe Eugen Drewermann, auch einer aus dem A-Team gleich am Abend des 11. September im Rundfunk.

Auch wurde ernsthaft darüber diskutiert, ob Hochhäuser die Arroganz der Macht verkörperten und ob folglich irgendwie die Anschläge von den Hochhausbauern und vielleicht sogar von den Hochhausbewohnern provoziert worden seien. Terrorismus sei die Waffe der Schwachen.

Broders B-Team bestritt heftig, dass die menschliche Armut oder die globale Ungerechtigkeit die wirklichen Gründe für den Terror sind. Terrorismus sei nicht der letzte Ausweg, sondern die erste Wahl. Dieses Team, das für einen Krieg zur Prävention, manchmal auch zur Vergeltung, plädierte war den A-Leuten zahlenmäßig zumindest überlegen. Vorneweg die Springer-Journalisten, die das Bekenntnis zur Solidarität mit den USA in ihre Verträge aufnahmen und auch die FAZ-Mannschaft war, bis aufs Feuilleton, gut vertreten. Tapfer verteidigten sie die freie Welt gegen ein paar “mittelalterliche Fundamentalisten” und machten den Marschbefehl zur Losung des Tages. Immer feste druff. Die Amerikatreue B.Z. mit dem Journalisten-Darsteller Georg Gafron an der Spitze, äußerte, Ausgabe 8. Dezember 2001, auf der Titelseite den schlimmen Verdacht, dass Bin Laden möglicherweise Lady Di ermordet hat. Das war keine Parodie, vielleicht aber eine Antwort auf Droste, der in der taz über den Amerika-Freund Peter Struck räsonierte, der sich aufführe, “als sei die Friseuse Diana Spencer in Paris ein zweites Mal getunnelt worden”.

Weder A noch B hielten es später für nötig, sich in irgendeinem Punkt zu korrigieren. Dabei hatten die von A gleich in langen Kommentaren davor gewarnt, die US-Regierung werde Weltpolizist spielen und allerorten wild zuschlagen. “Die Schläge gegen das World Trade Center, das Pentagon und das Weiße Haus verhelfen Bush zur Gelegenheit seines Lebens” schrieb Droste, der bei der taz die Abteilung “finaler Humor” betreut. B zeigte einen Osama bin Laden, der mindestens 3.40 Meter groß war und erklärte den Terroristenchef zum Feind des Arbeitsamtes in Neumünster, das er mit Anthrax vernichten wollte. Bei den Berichten über mögliche Verstecke des Oberterroristen und seiner Glaubenskämpfer wurde verschwiegen, dass viele dieser Angaben auf falschen Informationen von korrupten Warlords beruhten, die nur an Geld interessiert sind. “Es ist ein Spiel, die Afghanen spielen es blendend”, hat Ahmed Rashid diese Woche in einem Interview mit der “Weltwoche” gesagt.

Wenn alles Frieden ist, ist nichts Frieden. Wenn alles Terror ist, ist nichts Terror.

In der Bilanz der Toten standen 3000 pulverisierte Amerikaner gegen 2000 bis 8000 tote Afghanen, die nach dem Exitus zumindest noch identifizierbar waren. Ich erinnere mich, dass Sonia Mikich auf einer Veranstaltung in Berlin erklärte, Monitor wolle herausfinden, wie viele Zivilisten in Afghanistan ums Leben gekommen seien und die Nachricht werde Furore machen. Bei Monitor vielleicht. Dabei wissen doch wir übrigen Journalisten, dass manche Tote anders zählen als andere Tote. Oder interessiert es Sie wirklich ernsthaft, wenn in Ruanda hunderttausende Tutsi umgebracht werden?

A gegen B – ein altes Spiel. “Fünfundneunzig Prozent aller solcher Händel sind persönlicher Natur” hat Alfred Polgar mal geschrieben. “Die übrigen fünf Prozent sind hingegen sind es auch” hat er hinzugefügt. Wir wollen uns aber aus dem Geistesgemenge, das all zu oft nur ein Handgemenge ist, für einen Augenblick abwenden und uns um mehr um empirische Erkenntnisse bemühen.

Denn wenn die Kriegstrommeln dröhnen, sind auch die Spezialisten für das tägliche Allerlei gefragt, die dann prompt, mit der Schere bewaffnet, unerhört Neues zu Papier oder auf den Sender bringen. Wer fix ist, schreibt mit Hilfe des Archivs auch noch rasch bis zum Ende des Krieges ein Büchlein über die Bösen und die Guten. Hilfreich kann es in jedem Fall sein, den Begriff Netzwerke im Titel vorkommen zu lassen. In der Regel müssen die alten Erkenntnisse, die man früher irgendwie (mit der Schere vielleicht?) gewonnen hat, nicht noch einmal überprüft werden. Man macht sich doch keine Geschichte kaputt.

In jedem Fall empfiehlt es sich, auch aus belanglosen Papieren zu zitieren, vorausgesetzt, sie sind von irgendjemand für vertraulich erklärt worden. Mit dem Etikett vertraulich lässt sich übrigens zu allen Zeiten alles verkaufen.

Wenn eine Geschichte wenig Neues zu bieten hat, kann einer Nachrichtenagentur eine Meldung über das Exklusive Nichts angeboten werden. Die übliche Standardformel lautet dann, dass sich die Geschichte ausweitet. Immer weitet sich alles aus, bis es dann wieder platzt. Das Wunderbare ist das Wahre und sogar der Zufall wird zur Erscheinungsweise des Sinnvollen heißt es dazu in Grimms Märchen.

In Kriegszeiten sind im Fernsehen vorzugsweise vielgereiste Männer mit verwitterten Gesichtszügen zu bestaunen, die zu allem was wichtiges zu sagen haben. Ihre Berufsbezeichnung lautet zumeist Experte und in der Regel werden sie Peter Scholl- Latour gerufen. Manchmal, wenn die Scholl-Latours angeblich verhindert sind, werden sie Udo Steinbach genannt, aber das kann auch ein Tarnname sein. Unsereins wundert sich ja schon, wenn die Bäume jenseits der Grenze genauso aussehen wie diesseits der Grenze.

Ende des Exkurses.

Ich soll heute ein paar Worte über den Krieg in Afghanistan und die entsprechenden Kollateralschäden sagen, aber eigentlich war es so wie immer. Diejenigen, die nur Fragen und keine Antworten kennen, stritten mit denjenigen, die auf alles eine Antwort haben. Warum soll man sich die alten Schlachtordnungen und Gewohnheiten durch einen Krieg kaputtmachen lassen.

Am Dienstag voriger Woche begann in Frankfurt der erste angebliche Al Kaida-Prozeß. Fünf mutmaßliche Terroristen aus Algerien sollen geplant haben, zur Jahreswende 2000/2001 eine Bombe in Straßburg hochgehen zu lassen. Den Männern wird Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Laut Anklageschrift gehörten sie einer „abgeschotteten, konspirativ arbeitenden Organisationseinheit“ an. Es soll sich um so genannte Schläfer gehandelt haben.

Der Begriff stammt eigentlich aus der Geheimdienstwelt und er trifft auf die Terroristen dieses Schlages überhaupt nicht zu, doch darauf kommt es manchem Beobachter längst nicht mehr an.

An dieser Stelle zunächst ein paar Worte über die Schläfer-Theorien der vergangenen Monate. Minister, die bekannten, über die Zellen der mutmaßlichen Terroristen nichts zu wissen, wussten plötzlich ganz genau, dass mindestens einhundert Schläfer hierzulande auf den Weckruf warteten. Dabei beriefen sie sich auf Berichte von Medien, die auch nichts wussten.

Im Niemandsland zwischen Wahrheit und Dichtung gedieh eine neue Form des Borderline-Journalismus mit Falschmeldungen und Wichtigtuerei. Die gleich am Anfang, im September 2001 kolportierte Geschichte über einen anonymen Geheimdienst, der einen anonymen libanesischen Autohändler in Frankfurt verdächtigte, Spinne im deutschen Netz des bin Laden zu sein, war eine Geschichte aus Absurdistan, auf die eigentlich niemand hätte hereinfallen dürfen. Gleichwohl wurde der Beitrag zur besten Fernsehzeit in den Tagesthemen gesendet.

Oder ist Ihnen noch die Frankfurter Kiosk-Besitzerin (B.K.) erinnerlich, die angeblich einen der Todespiloten wiedererkannt haben will, als dieser Mudschaheddin-Freunde in der Mainstadt besuchte? Ganz sicher hat sie Moammed al Schahi erkannt, ganz genau. Ein Fernsehmann hatte ihr ja Fotos vorgelegt. Auch das wurde in der ARD gesendet.

Interessanterweise wurde zu allen Zeiten in den Medien vor den Medien gewarnt. Das “die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist”, dieser Klassiker des Schriftstellers Ruydard Kipling wurde so häufig zitiert, als handele es sich um einen unerhört mutigen Spruch. Gern bemüht wurde von diversen Berichterstattern der Satz des früheren britischen Premiers Winston Churchill, dass die Wahrheit im Krieg “immer von einer Leibwache der Lüge umgeben sein sollte”. Lügen für den Sieg?

In Afghanistan war das Fernsehen zunächst eine Weile himmelweit weg von der Schlacht. Und das war eigentlich gar nicht so schlecht. Fast alle deutschen Reporter, die im Lager der Nordallianz oder sonst wo waren, konnten dem Publikum erklären, dass sie den Wahrheitsgehalt irgendwelcher Nachrichten nicht überprüfen könnten und sie versuchten später, auch die hässlichen Seiten des Krieges zu zeigen. Offenkundig hatten die Akteure aus den Erfahrungen des Golfkrieges und des Waffengangs im Kosovo gelernt.

Der Golfkrieg, nur noch einmal zur Erinnerung, ist ein Videokrieg gewesen. Lasergesteuerte Bomben schienen die Ziele immer punktgenau zu treffen. Verstümmelte Menschen passten nicht in die Bilderwelt. Das Militär zensierte und fast 1800 Journalisten rangelten um knapp zweihundert so genannte Pool-Plätze.

Wer nicht spurte, konnte seine Akkreditierung verlieren. Wer die falschen Fragen stellte, war draußen. Erst nach dem Krieg wurde bekannt, dass die Amerikaner knapp 90 000 Tonnen Bomben abgeworfen hatten, von denen mehr als 60 000 Tonnen andere Ziele trafen als beabsichtigt.

Für amerikanische Medien allerdings, ging der Golfkrieg in Afghanistan weiter. Die Macher von CNN nannten es “pervers, sich zu sehr auf die Opfer und Härtefälle in Afghanistan zu konzentrieren”. Auf den Effekt der Bilder komme es an. Ans Ende der Nachrichten gehöre ein “proamerikanisches Siegel”.

Ich hatte immer einen Kinderglauben in die Unabhängigkeit und die Tüchtigkeit der amerikanischen Kollegen. Der Glauben ist erschüttert worden.

Heute weiß ich, dass selbst journalistische Heroen wie Bob Woodward oder Seymoun Hersh nur mit Wasser kochen. Woodward hing am Rockzipfel der Geheimdienste und konnte den Nachrichtendienstlern hier und da über die Schulter schauen. Hersh kam zu dem überraschenden Befund, dass die Attentäter die vier Anschläge entweder perfekt vorbereitet oder nur großes Glück gehabt hätten. Also, da war nicht viel – wie man auch bei Besuchen durch amerikanische Kollegen erfahren konnte.

Vorher habe ich gedacht, dass der amerikanische Journalismus, wenn es darauf ankommt, in Teilen kritisch ist. Heute weiss ich, dass amerikanische Journalisten in solchen lagen schon mal die Nationalflagge am Revers tragen. Wer es wagte, gegen den Strom zu schwimmen, musste mit Konsequenzen rechnen. Journalisten, die zu kritisch waren, wurden gefeuert. Die Fernsehsender predigten Patriotismus. Ein Ex- Senator fragte allen Ernstes die Journalisten, ob sie zuerst Amerikaner oder zuerst Journalisten seien.

Nun kommen wir wieder zurück nach Deutschland. Wo die Öffentlichkeit aufhöre, hat Hannah Arendt mal geschrieben, werde Macht gefährlich. Wie soll aber eine Öffentlichkeit funktionieren, wenn es längst eine zweite Öffentlichkeit gibt, wenn vor allem das Konspirative den Ton angibt?

Die meisten Berichte über das Netzwerk des Terrors stammten von amerikanischen oder sonstigen Geheimdiensten. Was aber die Kanalarbeiter im Reich des Bösen an Erkenntnissen liefern, das kann sehr schmutzig sein. Die Spielregeln des Metiers sind kompliziert.

Es gibt Amtswahrheiten, private Ansichten und auch Schwindeleien für die Kundschaft. Geheimdienstberichte müssen nicht falsch sein, aber sie sind auf keinen Fall das Orakel von Delphi. Desinformation ist Teil des Geschäfts.

Was ist wahr, was ist unwahr? Was kann man glauben, was nicht? Besonders im Krieg sind der Manipulation Tür und Tor geöffnet und journalistische Distanz sowie Skepsis sind noch wichtiger als ohnehin schon.

Dennoch wurden Leser und Zuschauer mit angeblichen Enthüllungen bombardiert. Es gab ein Rennen um die Platzierung exklusiver Nichtigkeiten mit Hilfe der Nachrichtenagenturen.

Schreckensszenarien sollten Aufmerksamkeit erzeugen: Angst vor der Angst verkauft sich gut.

Beobachtern der Szene war das vertraut. Immer häufiger beziehen sich Medien auf Medien, die auch nichts wissen. Es wird etwas als Tatsache präsentiert, was allenfalls eine Vermutung sein könnte. Längst gibt es den Mainstream, den Kommunikationswissenschaftler gern Selbstreferenz nennen. Medien beziehen sich immer stärker auf Medien und daraus wird dann wieder eine Nachricht.

Wir leben heute in einer aufgeregten Zeit, in einer permanenten Gegenwart, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Ständig wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben, es sind ganze Herden von Schweinen unterwegs und es gibt immer mehr.

Der 11. September und der Krieg in Afghanistan war nicht die ganz große Zeit der Enthüller. Kein Blatt in Europa und Übersee konnte Fakten präsentieren, die einen neuen Blick auf die Ereignisse ermöglichet hätten. Die wichtigsten Fragen sind noch unbeantwortet: Wer war der Mastermind, der die Anschlagsvorbereitungen in Europa koordinierte oder gab es gar keinen solchen Mastermind? Wer hatte ursprünglich die Idee zum Massenmord? In einigen Blättern kursierten umgeschriebene Zwischenberichte der westlichen Geheimdienste, aber solche Erkenntnisse sind nur schwer zu überprüfen.

Wie war es also? Ein großes Ja mit einem kleinen Nein oder umgekehrt? Alles in allem, so ist mein Eindruck, haben die Medien nicht versagt und auch nicht triumphiert. Es gab exzellente Reportagen wie die zwischen Buchdeckel gebrachte Spiegel-Serie über den 11. September und die Folgen, es gab Passables, es gab Durchschnittliches und es gab den üblichen Krawall.

A gegen B – Sie wissen schon.

Vielen Dank für Ihre Geduld. Ich freue mich auf die nächste Runde.

 

Eröffnungsrede zum Jahrestreffen 2002 des Netzwerk Recherche von Hans Leyendecker als PDF-Datei: Eröffnungsvortrag Leyendecker_2002 [PDF; 5S.,45KB]