Wie viel Visualisierung braucht der Datenjournalismus?

Alles so schön bunt hier! Aber wie schön darf und sollte Datenjournalismus sein? Datenvisualisierung von Lauren Manning/flickr

Alles so schön bunt hier! Aber wie schön darf und sollte Datenjournalismus sein? Datenvisualisierung von Lauren Manning/flickr

Von Anne Kliem

Das Artikelbild haben Sie vermutlich schon angeschaut, aber schaffen Sie es auch bis zum Ende dieses Beitrags? Der durchschnittliche Online-Leser verbringt 15 Sekunden auf einer Seite. Diese Zeit geht meist für Überschriften und Bilder drauf. Auch im Datenjournalismus werden die meisten Geschichten mithilfe von Visualisierungen erzählt. Ganz zum Unmut mancher Hardliner.

Wie schön muss Datenjournalismus sein? Welche Funktionen hat die Datenvisualisierung und wie viel davon braucht und verträgt der Datenjournalismus? Das diskutieren Till Nagel, Visualisierungs-Wissenschaftler und Designer an der FH Potsdam, und Sascha Venohr, Leiter Datenjournalismus bei Zeit Online.

Datenjournalismus braucht keine Visualisierung, keine Ästhetik. Das ist zumindest die Ansicht mancher Hardliner – funktioniert Datenjournalismus ganz ohne „Kosmetik“ für die Daten?

Venohr: Journalismus ist Geschichtenerzählen. Geschichten werden nur wahrgenommen, wenn sie spannend sind, wenn sie unterhalten. Das gilt für jede Geschichte, egal ob es ein Text oder eine Visualisierung ist. Bei einem Text kann ich mich nicht auf die spannenden Fakten verlassen und den Stil vernachlässigen. Übertragen auf eine datenjournalistisch erzählte Geschichte heißt das: Ästhetik darf nicht vernachlässigt werden, sie muss die Informationsvermittlung unterstützen, darf aber eben nicht zum Selbstzweck werden.

Wo liegt bei Visualisierungen denn die kritische Grenze zum Selbstzweck?

Venohr: Das Gegenteil zu sinnvollen Visualisierungen sind „Clicki-Bunti“, „Eye-Candy“, „Data Porn“ – und da ist eben Design zum Selbstzweck erhoben: die Visualisierung der Daten gibt keinen neuen Zugang zu einer Geschichte. Sie hätte vielleicht besser in einer Textform erzählt werden können, weil die Grafik von der Hauptaussage ablenkt. Da wird die Grenze überschritten.

Nagel: Oftmals wird die Visualisierung zum bloßen Hübsch-Machen verniedlicht. Ansprechendes Design soll für Aufmerksamkeit sorgen. Dabei steckt viel mehr hinter der Ästhetik: Viele Aspekte der Ästhetik sind fundamental, um Inhalte zu vermitteln. Die richtige Form, die richtige Abbildung zu finden, etwas Innovatives zu machen ist wichtig. Und wenn das in eine neue, ästhetische Form mündet, kann eben diese Attraktivität einen Leser erst aufmerksam machen. Aufmerksam machen für die Geschichte, die Aussagen, die dahinter stehen. Das ist ein wichtiges Ziel.

Diese Visualisierungen sind attraktiv, erhaschen auch in Konkurrenz zu vielen anderen, nicht zwangsweise journalistischen Produkten, Aufmerksamkeit – erleben wir deshalb einen datenjournalistischen Boom?

Venohr: Die Außenwahrnehmung ist vielleicht etwas verzerrt. Als Teil des Mediengeschehens muss ich sagen: Von Boom kann nicht die Rede sein. Ich habe den Eindruck, dass relativ wenig passiert.

Nagel: Aber Datenvisualisierungen allgemein erreichen momentan einen Massenmarkt. Das liegt auch an Datenjournalismus-Projekten, die eine immense Sichtbarkeit erreichen. Aber eben auch daran, dass wir in einer Zeit angekommen sind, in der es diese wahnsinnigen Datenmengen gibt. Nicht nur Big Data, sondern auch Personal Data und Quantified-Self. Wir haben jetzt sämtliche Daten, mit denen es zumindest theoretisch möglich ist, jegliche Aussagen zu quantifizieren und zu untermauern.

Mit Ihren Visualisierungen erreichen Sie in der Regel sehr viele Clicks. Verspüren Sie Druck aus der Chefredaktion, datenjournalistische Projekte immer auch als Visualisierung umzusetzen?

Venohr: Reichweite ist wichtig, Druck verspüre ich dennoch nicht. Die Leitung bei Zeit Online sieht nicht die einzelnen Projekte, sondern was das Gesamtpaket in die Marke als Innovationsmedium einzahlt. Und da hat die Chefredaktion zurecht die Erwartungshaltung an uns, dass wir innovativ, sind, das wir kreativ sind – und das funktioniert in unserem Fall über am besten über entsprechend neu gedachte, adäquate Datenvisualisierungen.

  • "Schöne, interaktive Gestaltung fällt ins Auge. Das ist verlockend. Im DDJ müssen Recherche und Datenauswertung im Mittelpunkt stehen und das muss nicht zwingend in einer üppigen Anwendung enden." MARCEL PAULY - Investigativ-Team Welt-Gruppe (Foto: Anne Kliem)

Wann sind Visualisierungen neu gedacht? Wann sind sie gut?

Nagel: Das ist die Mutter aller Fragen. Eine gute Datenvisualisierungen ist eine, die effektiv das vermittelt, was man aus den Daten rausholen wollte. Deshalb variiert die Definition von „gut“ von Projekt zu Projekt.

Venohr: Effektiv ist die Datenvisualisierung, in der sich der Mensch in der Geschichte wiederfindet. Zum Beispiel interaktiv über einen konkreten regionalen Bezug. Wenn eine persönliche Verbindung zur Geschichte entsteht. Durch dieses positive Erlebnis verspürt der Leser einen Vorwärtsdrang, dies weiter mitzuteilen. Dann kann eine Story viral werden.

Nagel: Bei uns in Ausstellungen kann es auch als Spaß empfunden werden, wenn eine komplexe Darstellung durchdrungen wird – das ist ein Erfolgserlebnis. Dann ist eine Visualisierung gut, wenn Sie den Weg zu diesem Erfolgserlebnis unterstützt. Das ist im Datenjournalismus so aber nicht möglich, oder?

Venohr: In unserem Medium ist die Aufmerksamkeitsspanne sehr gering. Es muss deshalb leicht zugänglich und zu verstehen sein. Der „Küchenzuruf“ muss auch alleinstehen von der Visualisierung getragen werden. Und nicht etwa nur in Kombination mit der Überschrift oder dem Text.

Noch einmal zum Punkt Aufmerksamkeit: Wie viele Leser bleiben an der Visualisierung hängen und nehmen den Rest der Geschichte gar nicht wahr?

Venohr: Das ist der Grundschmerz des Online-Journalisten. Wir müssen hinnehmen, dass sehr Wenige das Ende der Geschichte erreichen. Aber: Gute Datenvisualisierungen erzielen wesentlich bessere Werte als klassische Textstücke. Eine Visualisierung, die reinzieht, hält auch drin und motiviert, bis zum Ende zu konsumieren. Und in diesem Punkt muss ich denen widersprechen, die behaupten, dass Datenjournalismus vollständig ohne die visuelle Komponente auskommen kann.

Nagel: Das heißt nicht, dass Online weniger Text gelesen wird. Es kann sein, dass die gleichen Leute im Print auch ausgestiegen wären.

In Gesprächen haben einige Datenjournalisten geäußert, dass sie einen inhaltlichen Qualitätsverlust zu Gunsten der „hübschen“ Aufmachung beobachten. Nehmen Sie das auch wahr?

Venohr: Solange es Journalismus gibt, gibt es gute Geschichten und schlechte Geschichten – ich würde das nicht zu einem Problem heraufbeschwören. Wir bei Zeit Online haben das Glück, dass wir auf dem weißen Papier anfangen und uns eine Visualisierung komplett ausdenken können, wir müssen uns nicht von der Stange bedienen. Dieses Glück hat nicht jede Redaktion, deshalb sind manche Tools nicht immer punktgenau für die Inhalte. Das heißt aber auch nicht, dass das schlechtere Geschichten sind, die die Kollegen schreiben. Wir befinden uns noch auf einem Experimentierfeld, auf dem viele Regeln noch nicht geschrieben sind.

Nagel: Es gab eine Studie, die das „Visual Embellishment“, das Ausschmücken von Darstellungen, untersucht hat. Mit dem Ergebnis, dass auch das einen Nutzen haben kann – nämlich den der Wiedererkennung. Bekanntes Beispiel dafür ist „Diamonds were a girl’s best friends“ (Nigel Holmes in “A Gem That Lost Its Luster,” Time 120, no. 9, 30. August 1982). Das ist fast schon zu verspielt. Ich halte solche Darstellungen allgemein für gefährlich. In diesem Fall ist der Wert für die Wiedererinnerung an die Information aber so groß, weil man sich das prägnante Bild vor Augen setzen kann. Das extreme Ausschmücken mit „Ornamenten“ kann also auch zum Zweck der Vermittlung sein.

Vieldiskutierter Punkt beim nr-Datenlabor war, inwiefern hinter einer Darstellung immer auch eine Haltung, eine Position steckt. Warum ist dann ausgerechnet die Visualisierung die Form der Wahl in einem Datenjournalismus, der für sich in Anspruch nimmt, sehr faktisch zu sein?

Venohr: Der Job von Journalisten ist es, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, und das passiert natürlich auch bei Visualisierungen. Der Datenjournalist sagt: Das ist die Geschichte, das ist die Geschichte nicht. Da wird natürlich indirekt Stellung bezogen. Gleichwohl bildet eine Datenvisualisierung ein viel weiteres Spektrum, in dem auch Randbereiche abgebildet werden können. In einem Text muss man viel krasser, viel pointierter schreiben.

In geschriebenen Texten ist der Autor mit seiner Positionierung offensichtlich. Visualisierungen hingegen haben auf den ersten Blick einen neutralen Anspruch, beziehen aber dennoch indirekt Position – wie reagieren Ihre Rezipienten darauf?

Venohr: Die Vehemenz der Kritik auf Visualisierungen ist wesentlich krasser als bei Texten. Sie sagen: Da muss irgendetwas gefälscht sein. Das ist nicht die Version, die ich erwartet habe. Der Verdacht der Manipulation wird hier eher gehegt.

Nagel: Vielleicht gerade weil die Visualisierungen die höhere Validität zu haben scheinen und weil die Leser die Situation leichter mit ihrer eigenen abgleichen können. Texte beleuchten meist einen sehr allgemeinen oder einen sehr fokussierten Kontext, der bildet das Leben der einzelnen Leser meist nicht direkt ab. Bei einer interaktiven Visualisierung kann ich einzelne Aspekte oft mit meiner direkten Lebensrealität abgleichen. Diese Nähe zur Lebensrealität bringt den Nutzer in die Position, dann umso schärfer kritisieren zu können.

Wo ist der nächste Bäcker mit eigener Backstube? Das verrät dieses Zeit Online Crowdsourcing-Projekt. Quelle: Zeit Online

Der Abgleich mit der eigenen Lebensrealität: Wo ist der nächste Bäcker mit eigener
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Online

Welche Rolle werden Datenjournalismus und Datenvisualisierungen in Zukunft in unserem Alltag spielen?

Nagel: In allen Aspekten des Lebens wird es datengetriebener werden. Und damit werden Visualisierungen wichtiger – einfach um dieser Masse Herr zu werden, aber auch im Alltag. Oder eben im Journalismus.

Venohr: Ich würde mich freuen, wenn wir irgendwann nicht mehr darüber diskutieren, dass es Datenjournalismus gibt, sondern dass er ein natürlicher Bestandteil von Journalismus ist. Guter Journalismus muss in der Lage sein, jede Art von Quellen zu nutzen, er muss aber auch Zugang dazu haben. Und jede Redaktion, die dieses Know-How nicht hat, wird in Zukunft einige Geschichten nicht erzählen können. Wenn man auf diesem Markt auffallen will, dann muss man auch auffallen können – da sind und bleiben Datenvisualisierungen vorerst kaum umgänglich.