Wie viel Unsicherheit verträgt der Datenjournalismus?

Von Lilith Teusch

Wie wird die globale Durchschnitttemperatur im 21. Jahrhundert steigen? Weiß man nicht so genau. Bild: 2007 IPCC WG1 AR-4

Wie stark wird die globale Durchschnitttemperatur im 21. Jahrhundert steigen? Weiß man nicht so genau. Bild: 2007 IPCC WG1 AR-4

17.538.251 Menschen – exakt so viele lebten am 09.05.2011 in Nordrhein-Westfalen. Das sagt zumindest die amtliche Statistik. Und was die sagt, wird ja wohl stimmen. Exakte Zahlen und ihre Visualisierungen wirken immer so wunderbar vertrauenserweckend, mal in einem schlichten Balkendiagramm, mal als bunte und interaktive Karte. Doch der Schein trügt: Auf die einzelne Person genau lässt sich die Einwohnerzahl nie bestimmen. Jede Messreihe, jede Bevölkerungszählung enthält Fehler – etwa noch nicht registrierte Umzüge oder andere Messfehler. Ein Datensatz birgt immer eine gewisse Unsicherheit. Wie aber soll der Journalist diese Unsicherheiten grafisch darstellen? Eine verbindliche Norm dafür gibt es nicht, jedenfalls noch nicht – aber viele Vorschläge. 

Jochen Schiewe ist Professor für Geoinformatik und Geovisualisierung an der HafenCity Universität Hamburg. Das Ziel von Journalisten sollte seiner Meinung nach sein, dass unsichere Werte ohne große Legende und Erklärung intuitiv vom Leser als solche erkannt werden.

Sturmverlauf als Korridor der Wahrscheinlichkeiten

Die Entwicklung von Stürmen auf einer Karte lasse sich etwa durch Korridore veranschaulichen: Welchen Weg genau ein Sturm nimmt ist ungewiss. Statt einer genauen Route, wird bei dieser Darstellung daher ein größerer Bereich auf der Karte gekennzeichnet – ein Korridor, in dem der Sturm sich mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit bewegen wird. In anderen Fällen könne mit gestrichelten oder verwischten Bereichen gearbeitet werden, so der Geoinformatik-Professor. Zahlen könnten entweder gerundet oder in Intervallen dargestellt werden.

Die Wetterseite „Weather Underground“ markiert den voraussichtlichen Verlauf von Stürmen als Korridor. Screenshot: wunderground.com

Die Wetterseite „Weather Underground“ markiert den voraussichtlichen Verlauf von Stürmen als Korridor. Screenshot: wunderground.com

Es gibt also Vorschläge, wie Unsicherheiten dargestellt werden können. Die Meinungen gehen allerdings bei der Frage auseinander, in welchem Maße es überhaupt sinnvoll ist, sie im Journalismus kenntlich zu machen. Einige Wissenschaftler etwa sind der Ansicht, dass in der Berichterstattung gar nicht erst mit Zahlen gearbeitet werden sollte, die genauer scheinen als sie sind. Bei der eingangs erwähnten Bevölkerungsstatistik zum Beispiel solle dann eben gerundet werden. Doch dagegen wenden Journalisten ein: Wenn man anfängt vor jede Zahl ein „ungefähr“ oder „circa“ zu setzen, kann das beim Leser zu Irritation führen. Muss und darf der Journalist also stattdessen darauf vertrauen, dass der Nutzer sich der möglichen Ungenauigkeit der Zahlen bewusst ist?

Wollen Leser die Unsicherheiten überhaupt sehen?

Wie die Darstellung von Unsicherheiten visuell erfasst und verarbeitet wird, dazu gebe es kaum Studien, sagt Geoinformatiker Schiewe. Das sei ein großes Problem, denn die kognitive Verarbeitung von Unsicherheiten sei schwierig und es stelle sich die Frage, ob die Leser überhaupt wollten, dass Unsicherheiten in den Daten sichtbar gemacht werden.

Schiewe selbst hält es jedoch für unerlässlich, Unsicherheiten zu kennzeichnen. Für ihn ist das ein Qualitätsmerkmal, welches das Vertrauen in die Recherche des Journalisten steigert. In der Statistik habe man es eben immer mit Unsicherheiten zu tun, sagt er, deshalb dürften Journalisten auch keine falsche Genauigkeit suggerieren. Birgit Schneider, Vertretungsprofessorin für Medienökologie an der Universität Potsdam, beschäftigt sich intensiv damit, wie Ergebnisse der Klimaforschung in Wissenschaft und Medien bildlich dargestellt werden. Auch sie plädiert dafür, bei der Visualisierung auf Unsicherheiten hinzuweisen.

Ein Dialog von Wissenschaftlern und Journalisten

Dass Journalisten ein Gefühl für den Umgang mit Unsicherheiten entwickeln müssen, scheint unabdingbar: Die Arbeit mit Daten wird immer wichtiger, Journalisten werden in Zukunft vermehrt im Berufsalltag mit ihnen zu tun haben – und somit auch mit der Tatsache, dass Daten nur selten wirklich exakt sind. In welchen Fällen und auf welche Weise dies dargestellt werden sollte und wie viel Hilfestellung der Leser beim Verständnis braucht, bleibt vorerst umstritten. Vielleicht können Wissenschaftler und Journalisten sich dieser Frage gemeinsam nähern – auch wenn es dafür noch viele Diskussionen und einige Daten-Labor-Konferenzen braucht.