Bruch der Ampel-Koalition, Erdgas-Greenwashing, Europas drohende Opioidkrise und #Metoo an deutschen Unis

von Sarah Ulrich, Global Investigative Journalism Network/Netzwerk Recherche
 

Der Originalbeitrag auf Englisch findet sich hier.

Das Jahr 2024 war in vielerlei Hinsicht turbulent und eine Herausforderung für Journalist:innen auf der ganzen Welt, insbesondere in den unter Krieg leidenden Regionen.

Auch in Deutschland wurde viel über die Rolle der Medien diskutiert. Schon zu Beginn des Jahres zog die sogenannte „Geheimplan”- Recherche von GIJN-Mitglied CORRECTIV Aufmerksamkeit auf sich. Darin legten die Reporter:innen die Verbindungen zwischen rechtsextremen Gruppen und der AfD offen. Die Recherchen deckten auf, wie Neonazis, hochrangige AfD-Mitglieder und prominente Akteure aus der Wirtschaft Pläne diskutierten, Millionen von Menschen aus Deutschland abzuschieben. Wie das Team dabei vorgegangen ist, lest ihr hier.

Die Recherchen lösten zwar Massenproteste gegen die AfD und die extreme Rechte aus, doch konnten auch diese nicht verhindern, dass die AfD bei Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen Erfolge verzeichnete. Für Journalist:innen erschwert dieses gesellschaftliche Klima zunehmend die Arbeitsbedingungen, fördert Desinformation im Netz und führt zu steigenden physischen Bedrohungen sowie wachsendem Misstrauen gegenüber der Presse bis hin zu Angriffen auf Reporter:innen.

Trotz der angespannten Lage war auch 2024 ein starkes Jahr für investigativen Journalismus im deutschsprachigen Raum. Reporter:innen recherchierten zu vielfältigen Themen – vom Bruch der Ampel, über die sich ausbreitende Opioidkrise, Menschenhandel im Netz oder #Metoo an deutschen Hochschulen. Im Folgenden lest ihr unsere Auswahl der besten deutschsprachigen Recherchen im Jahr 2024.

Das liberale Drehbuch für den Regierungssturz

Quelle: Screenshot Zeit Online

Monatelang gab es Streit um den Haushalt in der Ampelregierung, bis der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang November schließlich die Entlassung des Finanzministers Christian Lindner ankündigte. Lindners FDP zog sich daraufhin aus der Regierungskoalition zurück, was deren Zusammenbruch auslöste und zu vorgezogenen Neuwahlen im Februar 2025 führte. Obwohl die „Ampel“-Koalition aus Scholz’ SPD, der FDP und den Grünen schon seit einiger Zeit instabil war, kam diese Entwicklung überraschend abrupt.

Während in den Redaktionen in ganz Deutschland Eilmeldungen getippt wurden, konzentrierten sich investigative Reporter:innen auf die Geschichte hinter den Kulissen. Nur wenige Tage nach dem Bruch der Ampel veröffentlichte DIE ZEIT eine Recherche, die zeigt, wie die FDP den Bruch der Ampel wochenlang vorbereitete. Der Name der Operation: „D-Day". Die ZEIT-Recherche rekonstruiert geheime Treffen auf Basis von Strategiepapieren, Sitzungen und Präsentationen und hat mit mehreren Quellen gesprochen. Das Ergebnis ist eine spannende Rekonstruktion einer Intrige, die – ginge es nach Christian Lindner – nie hätte an die Öffentlichkeit gelangen sollen.

Sucht auf Rezept: Opioid-Krise in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Quelle: Screenshot ZDF

Ging es um die Opioidkrise und die Rolle von Pharmaunternehmen und illegalem Handel, stand in der Vergangenheit meistens die USA um Fokus. Doch auch in Europa und Deutschland steigt der Einfluss von US-Pharmariesen und die Abhängigkeit von Opioiden auf Rezept. Das belegt diese internationale Recherche, die von dem investigativen Newsroom Paper Trail Media in Zusammenarbeit mit mehreren Partnern koordiniert wurde – darunter Der Spiegel, ZDF, die österreichische Tageszeitung Der Standard, das Schweizer Medienhaus Tamedia und The Examination.

Die Recherche zeigt, wie immer mehr Opioide verschrieben und folglich immer mehr Menschen in Deutschland und Österreich davon abhängig werden. Die Reporter:innen zeichnen die umstrittenen Marketingmethoden eines US-Unternehmens und analysieren den Profit, den internationale Ableger der US-Firma erwirtschaftet haben - trotz laufender Klagen und Insolvenzverfahren in den USA.

Zu den Veröffentlichungspartnern gehören auch Finance Uncovered, Brasiliens Metrópoles, das Investigative Reporting Project Italy, The Initium aus China und die Washington Post. Diese ambitionierte, umfassende Recherche ist ein lehrreiches Beispiel dafür, wie Cross-Border-Journalismus ein globales Phänomen in den Blick und dabei einen besonderen Fokus auf die Auswirkungen für einzelne Regionen nehmen kann.

Die Ökogas-Lüge

Quelle: Screenshot CORRECTIV

Diese Datenrecherche von GIJN-Mitglied CORRECTIV legt offen, dass mehr als 100 Energieversorger in ganz Deutschland mit „klimaneutralem“ Erdgas werben - aber dieses Versprechen gar nicht einlösen können. Der Text zeigt, wie angeblich geschützte Wälder abgeholzt und Gasheizkraftwerke erweitert werden und Unternehmen so Hunderttausende Kund:innen täuschen – alles unter dem Deckmantel der „Klimaneutralität“ und oft mit fragwürdigen CO₂-Kompensationen.

Die umfassende Recherche ist in fünf thematische Kapitel gegliedert und kombiniert visuelle Analysen mit Reportagen-Elementen von vor Ort sowie Daten zu jedem Bundesland und Analysen zu den vielen beteiligten Akteuren. Das Ergebnis ist ein überzeugendes Online-Storytelling inklusive Dropdown-Menü, mit dem Leser:innen nach Region sortiert nachlesen können, ob auch ihr Gasversorger Teil der „Öko-Lüge” ist.

Nach der Veröffentlichung forderten mehrere Parteien und die deutsche Regierung Konsequenzen für die Gasunternehmen sowie stärkeren Verbraucherschutz. In einem Folgeartikel berichtete CORRECTIV, dass mehr als 20 Energieunternehmen versprachen, sie würden ihre klimaneutralen Tarife neu bewerten oder sogar einstellen.

Ein krankes Haus: Inside Charité

Quelle: Screenshot Stern.de

Eigentlich ist das Berliner Krankenhaus Charité weltweit für seine exzellente Gesundheitsversorgung bekannt und zieht damit internationale Patient:innen an. Doch anders als das internationale Renommée es vermuten lässt, beschweren sich Angestellte schon seit Jahren über die Arbeitsbedingungen dort. Ein Team von Stern/RTL Investigativ ging diesen Vorwürfen nun in einer Undercover-Recherche nach und deckte damit erhebliche Missstände auf. Der Blick hinter die Kulissen des Krankenhauses zeigt überarbeitete Ärzt:innen, lebensgefährliche Fehler und Patient:innen, die trotz starker Schmerzen nicht behandelt wurden. Mit dem tiefen Einblick schafft es die Recherche außerdem, ein alarmierendes Bild des deutschen Gesundheitssystems, in dem Einrichtungen überlastet und Ressourcen knapp sind, zu zeichnen.

Die Recherche erschien multimedial als TV-Dokumentation, Artikel und Podcast – nach dem Storytelling-Modell, das sich bereits bei ihrer „Inside Tesla"-Recherche 2023 bewährt hatte. Die Charité veröffentlichte als Reaktion eine Stellungnahme, in der sie schrieb, dass „generalisierte Vorwürfe gegen die Charité erhoben” werden, die „in wesentlichen Punkten ungerechtfertigt” seien und die Recherchemethoden kritisierte. Gleichzeitig erklärte das Krankenhaus jedoch, man werde die „Vorgänge unter Berücksichtigung neu vorliegender Informationen detailliert überprüfen.”

Der Gefängnis-Report

Quelle: Screenshot Reflekt.ch

Über ein Jahr lang recherchierte ein Team der Schweizer Investigativplattform Reflekt und des Recherchekollektiv WAV mit offiziellen Dokumenten, Gefängnisrichtlinien und -praktiken und führte zahlreiche Interviews mit Gefangenen, Rechtsexperten und Gefängnispersonal. Die Recherche zeigt, dass es gravierende Probleme in Schweizer Gefängnissen gibt. Die Reporter:innen berichten über schlechte Arbeitsbedingungen, Schwierigkeiten beim Zugang zu rechtlicher Hilfe und unzureichende oder verzögerte medizinische Versorgung, einschließlich des Bezugs notwendiger Medikamente. Besonders schockierend: In Schweizer Gefängnissen ist die Selbstmordrate dreimal so hoch wie der europäische Durchschnitt.

Der Online-Artikel wird durch interaktive Datenvisualisierungen und Grafiken veranschaulicht, die beispielsweise zeigen, welche Arbeiten Schweizer Gefangene ausführen und wie groß die Gehaltsunterschiede zwischen den Gefängnissen sind. Die Recherche zeigt eindrücklich, dass Schweizer Gefängnisse oftmals schlechter sind, als der moderne Standard im Strafvollzug, zu dem sie sich eigentlich verpflichtet haben.

 

#MeToo an deutscher Universität

Quelle: Screenshot Der Spiegel

In den letzten Jahren hat die #MeToo-Berichterstattung auch in den deutschsprachigen Ländern zunehmend an Bedeutung gewonnen. Diese Recherche des SPIEGEL befasst sich mit Vorwürfen gegen einen ehemaligen Dozenten der Goethe-Universität Frankfurt, der angeblich eine sexuelle Beziehung mit einer Studentin hatte und intime Fotos von ihr online veröffentlichte. Fünf weitere Frauen erhoben Anschuldigungen in Bezug auf Machtmissbrauch.

Das Rechercheteam untersuchte die Anschuldigungen gründlich und konnte belegen, dass sich der mutmaßliche Machtmissbrauch über mehrere Institutionen und Jahre erstreckte. Trotz der Entlassung des Dozenten und einer Strafzahlung wegen der Verbreitung privater Bilder gelang es ihm später, eine leitende Position in einer angesehenen Organisation zu erhalten – wo neue Vorwürfe über manipulative Verhaltensweisen aufkamen.

Die Recherche beleuchtet die systemischen Mängel Im Umgang mit #metoo-Vorwürfen im Hochschulbereich und weist darauf hin, dass sie oft mit Machtungleichgewichten beginnen. Damit zeigt der Text, wie wichtig es ist, nach einer ersten Geschichte oder Anschuldigung weiter zu recherchieren. Das Ergebnis ist ein beeindruckendes Beispiel für präzise Berichterstattung über ein sensibles Thema, das zeigt, dass Machtmissbrauch weit über die Film-, Musik- und Medienbranche hinausreicht.

 

Menschenhandel im Netz

Quelle: Screenshot Süddeutsche Zeitung

Mit der Covid-19-Pandemie hat sich auch Prostitution und Sexarbeit in Deutschland verändert. Immer mehr finden diese im Internet statt – was Menschenhändler ausnutzen, wie diese erschreckende Recherche eines Teams aus dem Rechercheverbund aus Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR zeigt.

Das Team untersucht die zunehmende Rolle des Internets bei sexueller Ausbeutung und wie die Verlagerung in digitale Räume es Ermittler:innen und Sozialarbeiter:innen erschwert, Betroffenen zu helfen. Menschenhändler nutzen häufig die „Loverboy“-Methode – indem sie Frauen mit Liebesversprechen locken, bevor sie sie zur Prostitution zwingen, wobei der Erstkontakt oft über Plattformen wie Facebook, Instagram und Dating-Apps erfolgt. Die digitale Verlagerung erschwert die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden und Sozialarbeiter:innen, weil Menschenhändler sich hinter Anonymität verstecken, und Betroffene, die immer weniger Kontakt zur Außenwelt haben, leichter kontrolliert und ausgebeutet werden können.

Das Rechercheteam analysierte über 45.000 Online-Anzeigen auf verschiedenen Websites und führte Interviews mit Betroffenen und Expert:innen. Um die Ergebnisse zu überprüfen, nutzten sie Daten und Untersuchungen von Europol und dem Bundeskriminalamt (BKA), um Muster zu verfolgen und Aktivitäten des Menschenhandels aufzudecken. Die Kombination aus Datenanalyse, Betroffenenaussagen und internationaler Zusammenarbeit macht diese Recherche zu einem umfassenden und wirkungsvollen Beitrag zu einem kritischen sozialen Thema, das zu oft durch Einzelgeschichten statt durch breite Datenberichterstattung erzählt wird. In den Niederlanden folgte auf die Veröffentlichung eine parlamentarische Debatte.

Internationales rassistisches Netzwerk aufgedeckt

Quelle: Screenshot Der Spiegel

Mit dem zunehmenden Einfluss rechtsextremer Gruppen und Ideologien ist es umso wichtiger, die Netzwerke hinter diesen Bewegungen zu untersuchen. Um die globale Dimension aufzudecken, können insbesondere Cross-Border-Recherchen helfen. Diese Zusammenarbeit zwischen Der Spiegel und The Guardian enthüllt, wie ein internationales Netzwerk von rassistischen Aktivisten versucht, öffentliche Debatten mit Eugenik-Ideologien zu beeinflussen und dabei heimlich von einem US-amerikanischen Tech-Unternehmer finanziert wurde.

Durch die Analyse von Undercover-Aufnahmen – bereitgestellt von der antirassistischen Gruppe Hope Not Hate – entdeckte das Team auch die Beteiligung eines deutschen Influencers, der mit der rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland (AfD) in Verbindung steht. Mittels cross-checking von Dokumenten zu Überweisungen und Gesprächen mit Expert:innen konnte die Recherche über 1 Million US-Dollar an finanzieller Unterstützung belegen und damit die wachsende globale Reichweite des Netzwerks aufdecken. Als The Guardian den Unternehmer konfrontierte, zog er seine Unterstützung für die Organisation zurück und erklärte, sie habe sich von ihrem ursprünglichen Zweck der wissenschaftlichen Forschung „entfernt“. Diese Recherche zeigt, wie verschiedene Recherchetechniken –  Undercover-Recherche, Dokumentenanalyse und Expert:inneninterviews – zusammen eine starke Toolbox ergeben, um den Einfluss rechtsextremer Gruppen zu belegen.