Nach­rich­ten­ma­cher: „Mehr emo­tio­nale Bilder“

ver­öf­fent­licht von Netz­werk Recherche | 11. Mai 2007 | Lese­zeit ca. 4 Min.

Neue Studie zu Nach­rich­ten­fak­toren in der jour­na­lis­ti­schen Praxis

Die Fern­seh­nach­richten haben sich in den ver­gan­genen zwei Jahr­zehnten weiter stark kom­mer­zia­li­siert. Fern­seh­nach­richten ent­wi­ckeln sich zuneh­mend zu einer Dienst­leis­tung. Die Bedeu­tung der Bilder in der Nach­rich­ten­pro­duk­tion wird wich­tiger und der Trend zur Bou­le­var­di­sie­rung der Nach­rich­ten­themen nimmt weiter zu.

Dies sind Ergeb­nisse einer neuen Studie der Jenaer Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaftler Prof. Dr. Georg Ruhr­mann und Roland Göbbel, die die Nach­rich­ten­fak­toren bei der jour­na­lis­ti­schen Aus­sa­gen­pro­duk­tion unter­sucht haben. Auf­trag­geber der Studie mit dem Titel „Ver­än­de­rung der Nach­rich­ten­fak­toren und Aus­wir­kungen auf die jour­na­lis­ti­sche Praxis in Deutsch­land“ ist die Jour­na­lis­ten­ver­ei­ni­gung Netz­werk Recherche. Durch­ge­führt wurden u.a. zwei Befra­gungen maß­geb­li­cher deut­scher Nach­rich­ten­re­dak­teure. In die Studie wurden zudem ein­schlä­gige Erkennt­nisse der Nach­rich­ten­fak­toren-​For­schung ein­be­zogen.

Frü­here Ana­lysen belegen: TV-​Nach­richten sind in den beiden ver­gan­genen Jahr­zehnten immer unpo­li­ti­scher geworden, ins­be­son­dere bei den kleinen pri­vat­kom­mer­zi­ellen Sen­dern. Diese Sender bringen zuneh­mend Human Touch und Angst­themen. Die The­men­felder Kata­stro­phen und Kri­mi­na­lität werden rele­vanter als Innen-​ und Außen­po­litik.

Die Jenaer Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaftler beschäf­tigten sich folg­lich mit den Grund­fragen: „Sind Nach­richten noch Nach­richten? Oder haben wir mitt­ler­weile je nach System und Sender eine andere Art von Bericht­erstat­tung fest­zu­stellen? Mutiert die ‚Nach­richt’ zu einer kun­den­spe­zi­fisch auf­be­rei­teten Dienst­leis­tung?“ Die Ant­wort auf diese Fragen lautet: „Die Aus­wahl der Nach­richten ori­en­tiert sich jeden­falls nicht mehr aus­schließ­lich an jour­na­lis­ti­schen Aktua­li­täts­kri­te­rien; Kun­den­nach­frage und -​zufrie­den­heit sind eben­falls gefragt. Das Stich­wort heißt: Ser­vice­ori­en­tie­rung“, so Prof. Dr. Georg Ruhr­mann, der sich bereits seit mehr als 20 Jahren mit Nach­rich­ten­for­schung beschäf­tigt.

Einige der befragten füh­renden Nach­richten-​Jour­na­listen stellten fest, dass Neu­ig­keit und Rele­vanz heute nur zählen, wenn Bilder vor­handen sind. Wer zuerst das pas­sende Bild­ma­te­rial besitzt, hat gewonnen – der 11. Sep­tember 2001 for­cierte diese Ent­wick­lung.

Die „Bou­le­var­di­sie­rung“ deut­scher Fern­seh­nach­richten gewinnt eben­falls an Bedeu­tung: Die Nach­rich­ten­fak­toren Per­so­na­li­sie­rung, Kon­tro­verse und auch Aggres­sion nehmen nach Ansicht der befragten Jour­na­listen zu. Auch frü­here Inhalts­ana­lysen hatten bereits ergeben: TV-​Nach­richten zeigen keine Kon­flikte, son­dern Bilder per­so­na­li­sierter Gewalt. „Über Jahre hinweg prä­sen­tieren viele TV-​Nach­richten damit ein häufig wenig kom­plexes Bild von inter­na­tio­nalen Kon­flikten – und viele Zuschauer ver­stehen das den­noch nicht“, bemerkt dazu Pro­fessor Ruhr­mann, Leiter der nr-​Studie.

Dazu­ge­wonnen haben in den ver­gan­genen Jahren die Nach­rich­ten­fak­toren Visua­lität und bild­liche Dar­stel­lung von Emo­tionen sowie das Kri­te­rium der Ver­füg­bar­keit von Bil­dern. Ein­hel­liger Befund der Nach­rich­ten­ma­cher: Es gibt „mehr emo­tio­nale Bilder“. Das heißt – ohne Bilder werden wich­tige Themen nicht mehr zur Nach­richt.

Eine par­allel durch­ge­führte Ana­lyse von Jour­na­lis­ten­lehr­bü­chern zu den Themen Nach­rich­ten­aus­wahl und Rele­vanz­kri­te­rien bestä­tigt: Die Jour­na­lis­ten­aus­bil­dung in Deutsch­land ist nor­mativ ori­en­tiert. Ver­mit­telt wird, was sein soll. Öko­no­mi­sche Hin­ter­gründe des deut­schen Fern­seh­marktes werden selten behan­delt; ver­än­derte Rele­vanz­ge­sichts­punkte kommen kaum zur Sprache. Manche jour­na­lis­ti­sche Lehr­bü­cher weisen auch wenig wis­sen­schaft­liche Sub­stanz auf. Die theo­re­ti­sche Refle­xion der Nach­richten-​Praxis, Ergeb­nisse empi­ri­scher For­schung, inter­na­tio­nale Ver­gleiche und inves­ti­ga­tive jour­na­lis­ti­sche Recher­chen – diese Themen bleiben in den Lehr­bü­chern häufig außen vor.

Wie wird in deut­schen Redak­tionen die Anwen­dung der Nach­rich­ten­fak­toren gesteuert und gesi­chert? Die befragten Jour­na­listen ant­wor­teten, dass sie dies „intuitiv und situativ“ tun – abge­stimmt in Redak­ti­ons­kon­fe­renzen und mit Vor­ge­setzten.

Ein wei­teres Fazit: Wie schon vor 50 Jahren zu Beginn der modernen Nach­rich­ten­for­schung in Europa ris­kieren Themen aus „Dritte-​Welt“-​Län­dern auch heute noch am ehesten, durch das jour­na­lis­ti­sche Rele­vanz-​Raster zu fallen. Damit werden die eigene Kultur und die ver­trauten Werte immer aktu­eller, neue Ent­wick­lungen werden indes zu spät the­ma­ti­siert.

Im Früh­jahr schaffte es Eisbär Knut in RTL-​aktuell auf Rang 3 der Top­themen. Bei SAT.1- News sogar auf Platz 2. In der Tages­schau (ARD) und heute (ZDF) fand sich dieses Thema im glei­chen Zeit­raum nicht unter den Top 20. Das zeigte kürz­lich der „Info­Mo­nitor“, der täg­lich die Haupt­nach­rich­ten­sen­dungen von ARD, ZDF, RTL und SAT.1 aus­wertet. „Die The­men­kar­riere von ‚Eisbär Knut’ in den ver­gan­genen Monaten beweist, dass wir in zen­tralen Nach­rich­ten­re­dak­tionen eine Umkehr der Wich­tig­keiten fest­stellen müssen“, so der Vor­sit­zende von Netz­werk Recherche, Dr. Thomas Leif, bei der Vor­lage der neuen nr- Studie. „Die schlei­chende Ver­än­de­rung der Nach­rich­ten­fak­toren hat auch eine schlei­chende Ver­än­de­rung des Rele­vanz-​Begriffs im deut­schen Jour­na­lismus zur Folge. Die Erwar­tungs­hal­tung der Kunden ist heute ent­schei­dend für die Aus­wahl von Themen, nicht mehr allein die tat­säch­liche Bedeu­tung von Ereig­nissen und Vor­gängen in Politik, Wirt­schaft und Gesell­schaft,“ resü­mierte Leif.

Die Erstel­lung der Studie wurde von der Otto-​Brenner-​Stif­tung (OBS) unter­stützt.

Die 95-​sei­tige Studie „Ver­än­de­rung der Nach­rich­ten­fak­toren und Aus­wir­kungen auf die jour­na­lis­ti­sche Praxis in Deutsch­land“ kann über Issuu ein­ge­sehen und als Datei her­un­ter­ge­laden werden:

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