Nachrichtenmacher: „Mehr emotionale Bilder“
Neue Studie zu Nachrichtenfaktoren in der journalistischen Praxis
Die Fernsehnachrichten haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten weiter stark kommerzialisiert. Fernsehnachrichten entwickeln sich zunehmend zu einer Dienstleistung. Die Bedeutung der Bilder in der Nachrichtenproduktion wird wichtiger und der Trend zur Boulevardisierung der Nachrichtenthemen nimmt weiter zu.
Dies sind Ergebnisse einer neuen Studie der Jenaer Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Georg Ruhrmann und Roland Göbbel, die die Nachrichtenfaktoren bei der journalistischen Aussagenproduktion untersucht haben. Auftraggeber der Studie mit dem Titel „Veränderung der Nachrichtenfaktoren und Auswirkungen auf die journalistische Praxis in Deutschland“ ist die Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche. Durchgeführt wurden u.a. zwei Befragungen maßgeblicher deutscher Nachrichtenredakteure. In die Studie wurden zudem einschlägige Erkenntnisse der Nachrichtenfaktoren-Forschung einbezogen.
Frühere Analysen belegen: TV-Nachrichten sind in den beiden vergangenen Jahrzehnten immer unpolitischer geworden, insbesondere bei den kleinen privatkommerziellen Sendern. Diese Sender bringen zunehmend Human Touch und Angstthemen. Die Themenfelder Katastrophen und Kriminalität werden relevanter als Innen- und Außenpolitik.
Die Jenaer Kommunikationswissenschaftler beschäftigten sich folglich mit den Grundfragen: „Sind Nachrichten noch Nachrichten? Oder haben wir mittlerweile je nach System und Sender eine andere Art von Berichterstattung festzustellen? Mutiert die ‚Nachricht’ zu einer kundenspezifisch aufbereiteten Dienstleistung?“ Die Antwort auf diese Fragen lautet: „Die Auswahl der Nachrichten orientiert sich jedenfalls nicht mehr ausschließlich an journalistischen Aktualitätskriterien; Kundennachfrage und -zufriedenheit sind ebenfalls gefragt. Das Stichwort heißt: Serviceorientierung“, so Prof. Dr. Georg Ruhrmann, der sich bereits seit mehr als 20 Jahren mit Nachrichtenforschung beschäftigt.
Einige der befragten führenden Nachrichten-Journalisten stellten fest, dass Neuigkeit und Relevanz heute nur zählen, wenn Bilder vorhanden sind. Wer zuerst das passende Bildmaterial besitzt, hat gewonnen – der 11. September 2001 forcierte diese Entwicklung.
Die „Boulevardisierung“ deutscher Fernsehnachrichten gewinnt ebenfalls an Bedeutung: Die Nachrichtenfaktoren Personalisierung, Kontroverse und auch Aggression nehmen nach Ansicht der befragten Journalisten zu. Auch frühere Inhaltsanalysen hatten bereits ergeben: TV-Nachrichten zeigen keine Konflikte, sondern Bilder personalisierter Gewalt. „Über Jahre hinweg präsentieren viele TV-Nachrichten damit ein häufig wenig komplexes Bild von internationalen Konflikten – und viele Zuschauer verstehen das dennoch nicht“, bemerkt dazu Professor Ruhrmann, Leiter der nr-Studie.
Dazugewonnen haben in den vergangenen Jahren die Nachrichtenfaktoren Visualität und bildliche Darstellung von Emotionen sowie das Kriterium der Verfügbarkeit von Bildern. Einhelliger Befund der Nachrichtenmacher: Es gibt „mehr emotionale Bilder“. Das heißt – ohne Bilder werden wichtige Themen nicht mehr zur Nachricht.
Eine parallel durchgeführte Analyse von Journalistenlehrbüchern zu den Themen Nachrichtenauswahl und Relevanzkriterien bestätigt: Die Journalistenausbildung in Deutschland ist normativ orientiert. Vermittelt wird, was sein soll. Ökonomische Hintergründe des deutschen Fernsehmarktes werden selten behandelt; veränderte Relevanzgesichtspunkte kommen kaum zur Sprache. Manche journalistische Lehrbücher weisen auch wenig wissenschaftliche Substanz auf. Die theoretische Reflexion der Nachrichten-Praxis, Ergebnisse empirischer Forschung, internationale Vergleiche und investigative journalistische Recherchen – diese Themen bleiben in den Lehrbüchern häufig außen vor.
Wie wird in deutschen Redaktionen die Anwendung der Nachrichtenfaktoren gesteuert und gesichert? Die befragten Journalisten antworteten, dass sie dies „intuitiv und situativ“ tun – abgestimmt in Redaktionskonferenzen und mit Vorgesetzten.
Ein weiteres Fazit: Wie schon vor 50 Jahren zu Beginn der modernen Nachrichtenforschung in Europa riskieren Themen aus „Dritte-Welt“-Ländern auch heute noch am ehesten, durch das journalistische Relevanz-Raster zu fallen. Damit werden die eigene Kultur und die vertrauten Werte immer aktueller, neue Entwicklungen werden indes zu spät thematisiert.
Im Frühjahr schaffte es Eisbär Knut in RTL-aktuell auf Rang 3 der Topthemen. Bei SAT.1- News sogar auf Platz 2. In der Tagesschau (ARD) und heute (ZDF) fand sich dieses Thema im gleichen Zeitraum nicht unter den Top 20. Das zeigte kürzlich der „InfoMonitor“, der täglich die Hauptnachrichtensendungen von ARD, ZDF, RTL und SAT.1 auswertet. „Die Themenkarriere von ‚Eisbär Knut’ in den vergangenen Monaten beweist, dass wir in zentralen Nachrichtenredaktionen eine Umkehr der Wichtigkeiten feststellen müssen“, so der Vorsitzende von Netzwerk Recherche, Dr. Thomas Leif, bei der Vorlage der neuen nr- Studie. „Die schleichende Veränderung der Nachrichtenfaktoren hat auch eine schleichende Veränderung des Relevanz-Begriffs im deutschen Journalismus zur Folge. Die Erwartungshaltung der Kunden ist heute entscheidend für die Auswahl von Themen, nicht mehr allein die tatsächliche Bedeutung von Ereignissen und Vorgängen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft,“ resümierte Leif.
Die Erstellung der Studie wurde von der Otto-Brenner-Stiftung (OBS) unterstützt.
Die 95-seitige Studie „Veränderung der Nachrichtenfaktoren und Auswirkungen auf die journalistische Praxis in Deutschland“ kann über Issuu eingesehen und als Datei heruntergeladen werden: