Pressefreiheit läßt sich nicht allein in Zahlen fassen
Neue Studie analysiert Journalismus und die Einschränkung der Pressefreiheit im östlichen Europa
Seit der Ermordung der russischen Journalistin Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006 in Moskau ist das Thema Unterdrückung der Medienfreiheit in Osteuropa öffentlich präsenter. Doch ein präzises Lagebild zur Gefährdung der Medienfreiheit bei unseren östlichen Nachbarn liegt bislang nicht vor. Dieses Analyse-Defizit will nun eine Studie ausgleichen, die systematisch die Medienlandschaften in zehn Ländern des östlichen Europas untersucht. Sie trägt den Titel „Zwischen Propaganda und Kommerz – Medien(un)freiheit in Südost-, Mittelost- und Osteuropa“ und wird von der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche (nr) herausgegeben. Zusammengestellt hat die Analyse ein Autorenteam des Netzwerks für Osteuropa-Berichterstattung n-ost e.V. auf der Grundlage zahlreicher Expertisen.
Die Untersuchung dient unter anderem als inhaltliche Grundlage für die nr-Jahreskonferenz am 15. und 16. Juni im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg. Mehr als 130 Journalistinnen und Journalisten aus Osteuropa werden zusammen mit 400 Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland über das Thema „Pressefreiheit unter Druck“ diskutieren.
Nach Einschätzung der Herausgeber soll die Studie, die am 6. Juni im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, eine grundlegende Reflexion der westeuropäischen Sichtweise auf Osteuropa fördern und gängige Klischees abbauen helfen. „Sobald sich der Reporter-Blick nach Osten wendet, werden gern alle Vorurteilsregister gezogen und aus Kartoffeln, Krisen, Kriegen, Korruption und Kriminalität Schlagzeilen gemacht“, sagte Simone Schlindwein vom n-ost e.V., die die Studie zusammengestellt hat.
Orientierungshilfen und verlässliche Informationsquellen für Journalisten sind im Themenfeld „Osteuropa“ immer noch rar. „Statt auf solide Hintergrundinformationen setzen viele Medienmacher beim Thema Osteuropa gerne auf die fahrlässige Simplifizierung mit so genannten „Rankings“ zum Stand der Presse- und Meinungsfreiheit“, kritisierte Dr. Thomas Leif, der Vorsitzende von Netzwerk Recherche, bei der Vorlage der Studie. Medienfreiheits-Ranglisten westlicher Nichtregierungsorganisationen haben nach den Analysen der Autoren aber nur einen geringen und zudem fragwürdigen Erkenntniswert. Die zu Grunde gelegten Kategorien werden oft willkürlich gesetzt, die Datenbasis ist dünn und die notwendige Differenzierung länderspezifischer Aspekte wird der Vereinfachung geopfert. Pressefreiheit lässt sich nicht in grobe „Medienfreiheitsrankings“ fassen, lautet ein Resultat der Studie.
Die Studie analysiert zudem die Ursachen für die unterentwickelte Medienfreiheit in vielen Ländern Osteuropas. Die alten Abhängigkeitsverhältnisse, die noch aus der Zeit des Kommunismus stammen und die neuen Zwänge, die die Einführung der Markwirtschaft für Medien in vielen Ländern verursacht, werden untersucht. Oft hat sich die alte politische Elite in den postkommunistischen Ländern zur neuen Wirtschaftselite gewandelt. Die Kontrolle der Medien läuft heute nicht mehr über Direktiven, sondern über das Scheckbuch. Der Grad zwischen Propaganda und Kommerz ist schmal, so ein wesentlicher Befund aller in der Studie versammelten Länderanalysen.
Viele Länder haben sich zwar neue Mediengesetze nach westlichem Vorbild gegeben, von Kroatien und Georgien bis hin zu Russland und sogar Belarus. Doch liberale Mediengesetze sind oft nicht mehr als bloße Fassade. In den meisten Ländern wird die Unabhängigkeit der Journalisten durch drakonische Strafgesetze und nationale Sicherheitsgesetze ausgehebelt. Einflussreiche Journalisten-Verbände gibt es kaum. Sie sind aber dringend nötig, um Forderungen an die Politik zu stellen und eine Debatte über journalistische Ethik in Gang zu setzen. Weil es keine starken Journalistenorganisationen gibt, neigen viele Regierungen dazu, einzelne Journalisten und Redaktionen zu kontrollieren, so ein weiteres Ergebnis der Studie.
Eine wesentliche Forderung, die aus der Studie abgeleitet wird, zielt auf den Ausbau des europäischen Austauschs von Journalisten. „Der Austausch zwischen west- und osteuropäischen Journalisten muss künftig noch intensiviert werden“, so die Forderung von Christian Mihr, Vorstandsmitglied des n-ost e.V. Anstatt eine Visa-Mauer an der EU-Ostgrenze zu errichten, die es einigen östlichen Ländern erlaubt, eine im Ton aggressive Abschottungspolitik zu pflegen, wären unbürokratische und vor allem erschwingliche Visa für Normalbürger der erfolgreichste Hebel, den Deutschland und die EU in dieser Frage haben. Die Einbindung von Kollegen aus Transformationsländern in internationale Journalistenvereinigungen, Tandem- und Austausch-Programme, Konferenzen, Dialoge, Diskurse – das sind aus westlicher Perspektive praktikable Ansätze, die Journalisten in Südost-, Mittelost- und Osteuropa zu unterstützen.
Druck durch Verleger, Aufweichung von rechtlichen Standards im Zuge des angeblichen Kampfes gegen den Terror, die Boulevardisierung der Medien auch durch deutsche Verlage im Osten, das Vordringen von PR-Journalismus, fehlende innere Unabhängigkeit – sind weitere Befunde des Autorenteams. „Viele der in der Studie für Osteuropa aufgezeigten Missstände sind bei näherer Betrachtung deutschen Journalisten gar nicht so unbekannt. Es lohnt sich, darüber mit den Kollegen einen Dialog jenseits von Oder und Donau zu beginnen“, so die Bewertung von Dr. Thomas Leif, Vorsitzender des Netzwerk Recherche, bei Vorlage der Studie. Und n-ost-Vorstandsmitglied Christian Mihr resümiert: „Medienfreiheit muss gelebt und verteidigt werden, sonst verkümmert sie. Das ist die Botschaft, die der Westen vom Osten lernen kann, und das ist das Erbe von Anna Politkowskaja“.
Die 100 Seiten starke Studie beginnt mit einem einführenden Kapitel zur Transformationsdynamik und der Problematik einer Berichterstattung über Osteuropa. In einem zweiten Teil beleuchtet sie konkret die Situation der Medien in zehn wichtigen Transformationsländern, unter besonderer Berücksichtung von Russland und Polen. Ein Fazit mit Empfehlungen für Politik und Medien schließt die Analyse ab.
Die Studie „Zwischen Propaganda und Kommerz – Medien(un)freiheit in Südost-, Mittelost und Südeuropa“ wird kostenlos gegen einen frankierten und adressierten DIN 4- Rückumschlag (1,45 Euro) jedem Interessierten zugesandt und ist auf www.netzwerkrecherche.de und www.n-ost.de auch online abrufbar.