Top Ten der vernachlässigten Themen 2001
Netzwerk Recherche und Initiative Nachrichtenaufklärung kritisieren die Umkehr der Wichtigkeiten bei der Medienberichterstattung
Im vergangenen Jahr gab es wichtige Themen, die in der Berichterstattung der Medien keinen oder nur unzureichenden Niederschlag fanden. Aus diesem Grund haben die 1997 gegründete Initiative Nachrichtenaufklärung und das im Vorjahr gegründete Netzwerk Recherche gemeinsam die “Top Ten” der vernachlässigten Themen 2001 ermittelt.
Die Untersuchung und Analyse der Themen wurde von Journalisten, Wissenschaftlern und Studenten gemeinsam vorgenommen. Von den knapp 100 Vorschlägen ist das Thema “Fortschreitende Monopolisierung der Trinkwasserversorgung” am stärksten vernachlässigt. Platz 2 der ignorierten Themen ist der Problembereich “Kein Asyl für verfolgte Kriegsdienstverweigerer”, “Innenminister Schily blockiert das Informationsfreiheitsgesetz” (Platz 3) wurde nach Auffassung des Fachgremiums in der Öffentlichkeit weitgehend unterschlagen. Auch über die “CNN-Selbstzensur im Krieg gegen den Terrorismus” (Platz 4) wurde nach Überzeugung der Jury-Mitglieder nur unzulänglich und mangelhaft berichtet.
Die Themen im Einzelnen:
1. Monopolisierung der Trinkwasserversorgung
Einhellig hat die Jury dieses Thema von weltweiter Bedeutung zur Nummer eins bei den Top Ten gewählt: Transnationale Konzerne versuchen in Zusammenarbeit mit der Weltbank und der WTO das Trinkwasser zu privatisieren und auf dem freien Markt als Handelsware anzubieten. Ein profitables Geschäft, wenn man bedenkt, dass nur ein halbes Prozent des weltweiten Wassers als Trinkwasser geeignet ist und der Verbrauch sich alle 20 Jahre verdoppelt. Auch in den ärmsten Ländern werden die Preise ständig erhöht.
2. Kein Asyl für verfolgte Kriegsdienstverweigerer
In Deutschland werden zahlreiche Anträge auf Asyl abgelehnt, weil das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht als Asylgrund gilt. Mehrere Urteile des Bundesverwaltungsgerichts halten an dieser Auffassung fest, obwohl zum Beispiel türkischen Kriegsdienstverweigerern, wenn sie in ihr Heimatland zurückkehren müssen, Haftstrafen drohen. Kurdische Kriegsdienstverweigerer werden in der Türkei verfolgt und es kann zu Folterungen kommen. Eine Überprüfung der deutschen Abschiebepraxis durch das Bundesverfassungsgericht oder den Europäischen Gerichtshof ist nötig.
3. Innenminister Schily behindert Informationsfreiheitsgesetz
Für die drei Bundesländer Brandenburg, Berlin und Schleswig-Holstein ist das Recht auf Informationsfreiheit bereits als Gesetz formuliert. Im Bundesinnenministerium liegt der Entwurf eines Informationsfreiheitsgesetzes bereits seit Monaten vor, wird aber aus politischen Gründen nicht als Gesetz verabschiedet. Das Ziel des Informationsfreiheitsgesetzes ist im Kern, dass alle Vorgänge und Unterlagen des Staates und seiner Verwaltungen den Bürgern offengelegt werden müssen. Nur in definierten Ausnahmefällen wird das Recht auf Offenlegung eingeschränkt. Mit diesem Recht auf Informationsfreiheit würde die Informationskultur in Deutschland wesentlich verbessert, die Recherchemöglichkeiten der Journalisten optimiert und insgesamt das Verhältnis Bürger – Staat gleichberechtigter gestaltet. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern sind die Chancen des Informationsfreiheitsgesetzes in Deutschland weitgehend unbekannt und ungenutzt.
4. CNN-Selbstzensur im Krieg gegen den Terrorismus
Durch mangelnde Organisation der Journalisten während des Afghanistan-Kriegs und wegen ihrer großen räumlichen Distanz zum eigentlichen Schauplatz, wird die Kontrollfunktion der Presse gegenüber den Kriegsparteien nicht erfüllt. Wesentliche Informationen etwa über Kriegsopfer und Kriegsfolgeschäden werden der Öffentlichkeit bewusst vorenthalten. Aus den Fehlern der Golfkriegs-Berichterstattung haben die Medienverantwortlichen keine Konsequenzen gezogen.
5. Staatsverschuldung: Deutschlands unbekannte Gläubiger
Auf 234.000 Milliarden DM beliefen sich Ende 1999 die Schulden des deutschen Staats, pro Einwohner fast 30.000 DM. Aber wer sind die Gläubiger? Öffentliche Informationen dazu sind unübersichtlich und unbefriedigend. Genaue Daten gibt lediglich die Weltbank auf einer CD-ROM, die allerdings 275 $ kostet.
6. Alkoholindustrie mitverantwortlich für häufigste Todesursache unter Jugendlichen
In Europa sterben jährlich 55.000 junge Menschen im Zusammenhang mit Alkohol. Das liegt laut WHO nicht zuletzt an den Herstellern. Deren verantwortungslose Marketingstrategie verbindet Alkohol mit Lifestile, Sex und Sport und versucht so, die Gewohnheit regelmäßigen Trinkens zu verankern.
Weitere vernachlässigte Themen:
7. Unbeschränkte Videoüberwachung
Wie lange dürfen heikle Aufzeichnungen aufbewahrt werden und wer darf sie verwenden?
8. Deutsche Unternehmen verdienen an Folterinstrumenten
Elektroschocker und Daumenschrauben – Warum tauchen sie im Rüstungsexportbericht der Bundesregierung immer noch nicht auf?
9. BRD bedeutender Exporteur von Biowaffen in die USA
Obwohl sich die Bundesregierung weltweit für die Ächtung und Vernichtung von ABCWaffen einsetzt, wurden chemische und biologische Stoffe für den Kriegsgebrauch in Höhe von 77,4 Mio. DM in die USA exportiert.
10. Desinteresse an der Rüstungskontrolle
Im politischen Alltag spielt Abrüstung und Rüstungskontrolle faktisch keine Rolle mehr. Nur beim Erscheinen von Jahrbüchern und Exportberichten wenden sich die Medien der wieder weltweit wachsenden Aufrüstung zu. Im Verlauf der Jurysitzung wurden 20 weitere Themen diskutiert. Besonders hervorzuheben sind:
- Der Einfluss der Public Relations-Industrie auf den Journalismus bedroht die Unabhängigkeit und Zuverlässigkeit der Berichterstattung.
- Die staatliche Informationspolitik vor allem von Ministerien arbeitet zunehmend mit Informationsblockaden bei heiklen und strittigen Themen. Diese Problematik wird am Beispiel der BSE-Berichterstattung deutlich. Die Interessen der Fleischindustrie und der Aufsichtsbehörden wurden nicht aufgeklärt. Es findet vielmehr eine lebensgefährliche Gewöhnung an diese Unwissenheit statt. So ist bis heute nicht geklärt, wo genau die Ursachen von BSE liegen. Dies wird auch so bleiben, wenn die Forschung in diesem Bereich nicht wesentlich stärker finanziell gefördert und systematisch koordiniert wird.
Die Bilanz der diesjährigen Jurysitzung: Das Netzwerk Recherche und die Initiative Nachrichtenaufklärung sehen das allgemeine Recht auf eine journalistisch aufgeklärte Meinungsbildung weiterhin gefährdet.
Zur Jury gehörten dieses Jahr die Journalisten Ernst Elitz (Intendant DeutschlandRadio), Dr. Luc Jochimsen (ehem. HR-Chefredakteurin), Ingrid Kolb (Leiterin Henri Nannen Journalistenschule), Dr. Margarete Keilacker (Chefredakteurin: Fernseh-Informationen), Christiane Schulzki-Haddouti (Freie Journalistin), Jürgen Bischoff (IG Medien in der Gewerkschaft ver.di), Christoph M. Fröhder (Freier Fernsehjournalist), Dr. Thomas Leif (SWR) und die Medienwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Langenbucher (Uni Wien), Prof. Dr. Dr. (USA) Peter Ludes (Uni Siegen), Prof. Dr. Horst Pöttker (Uni Dortmund), Dr. Christian Schicha (Institut für Informations- und Kommunikationsökologie), Jörg-Uwe Nieland (Uni Duisburg).