Qualitäts-Katalysator Recherche: Leitlinien für einen wirksamen Recherche-Journalismus
Inhalt
1. Recherche als Lebenselixier des Journalismus begreifen
„Die Recherche ist die Kür des Journalismus: Nur so erfahren die Menschen von Ereignissen, die ohne die Mühe des Journalisten niemals ans Licht gekommen wären. Keine journalistische Aufgabe ist schwieriger, aber auch so abhängig von Zufällen, vom Glück – und von einer detektivischen Kleinarbeit. Nur der Fleißige und Couragierte nimmt sie auf sich.“
Wolf Schneider und Paul-Josef Raue bringen in ihrem Standardwerk „Handbuch des Journalismus“ unfreiwillig das Dilemma auf den Punkt: Nach wie vor wird bei vielen Sendern, Verlagen und in den Köpfen vieler Journalisten die Recherche als Kür und nicht als journalistische Pflicht begriffen.
Dabei ist Recherche unabdingbar mit seriösem Journalismus verbunden, sie ist seine Grundlage, sein Lebenselixier. Ohne Recherche würde der Journalismus zum Transmissionsriemen der PR verkommen, seine Sorgfaltspflicht nicht erfüllen und seine Glaubwürdigkeit verlieren. Journalismus muss sich von PR und Werbung abgrenzen, um seine Existenzberechtigung zu garantieren.
Die Konsequenz: Recherche muss für Journalisten, Verlage und Sender wieder selbstverständlich sein und in den Arbeitsalltag sinnvoll integriert werden: „So wie ein Fliesenleger Fliesen legt, muss ein Journalist recherchieren“ sagt ein erfahrener Rechercheur, für den Recherche klassisches Handwerk ist.
2. Recherche in den Köpfen der Journalisten verankern
Die Recherche setzt immer eine aktive Rolle des Journalisten voraus, er ist mehr als nur ein passiver Informationsempfänger. Viele Journalisten geben sich jedoch – wenn überhaupt – mit der täglichen „Ergänzungs-Recherche“ zufrieden. Immer mehr sehen im Journalismus einen technischen Beruf, der angeliefertes Material zielgruppengerecht für das jeweilige Medium verpackt. Studien zufolge sind viele Journalisten in Deutschland an Recherche und auch an Recherche-Ausbildung nicht interessiert. Wenn überhaupt, dann wollen viele nur Tricks und Tipps, wie der Job schneller und besser erledigt werden kann. Recherche ja – aber bitte in Form des Zaubertricks, des Vademecums für Faule. Recherche-Defizite werden selten eingestanden („Recherche kann man doch“). Der Journalist, der aus eigener Kenntnis, Anschauung und Sachverhaltsklärung auf der Grundlage eigener Recherchen seine journalistischen Aufgaben bewältigt, wird zunehmend abgelöst von schnellen, technisch versierten Nachrichten- und Materialverwertern.
Die Konsequenz: Die Recherche muss wieder intensiver in den Köpfen der Journalisten verankert werden. Die Aufgabe des Journalisten liegt nicht im passivem Empfang und der Weitergabe von Informationen, sondern in aktivem und verantwortlichem Handeln, das eine kritische Überprüfung von Informationen und Quellen voraussetzt.
3. Sender und Verlage in die Recherche-Pflicht nehmen
Die Verantwortung für einen seriösen Journalismus, der nicht nur informiert und Meinung bildet, sondern auch kritisiert und kontrolliert, liegt nicht nur bei den einzelnen Journalisten, sondern insbesondere auch bei den Verantwortlichen in Verlagen und Sendern. Sie stehen in der Pflicht, die für den Journalismus konstitutive Recherche zu ermöglichen, zu stützen und auszubauen.
Erfolgreiche Rechercheure sind – so die Befunde einer aktuellen Studie mit dem Titel „Die Deutschland-Ermittler“ – in der Regel Individualisten, Einzelkämpfer, auf sich allein gestellt. Es gibt kaum institutionalisierte Unterstützung der Recherche in den Redaktionen. Rechercheleistung wird, wenn überhaupt, oft nur unzureichend honoriert. Hier liegt mittelund langfristig das größte Defizit bei der Verankerung der Recherche.
Die Konsequenz: Die Verantwortlichen in den Medienunternehmen müssen in die Recherche-Pflicht genommen, die institutionelle Absicherung der Recherche muss gefördert werden – durch Bereitstellung von Archiven, Schulungen, Research-Abteilungen, materielle, ideelle und juristische Unterstützung.
4. Recherche im redaktionellen Alltag verankern
Die Anforderungen an die Recherche-Leistungen wachsen und müssten eigentlich zu einer Renaissance der Recherche führen. In Zukunft wird der Bedarf an Einordnung von vorhandenem Wissen und Informationen noch zunehmen: Stimmt die Information der Agenturen, woher kommt der Spin` der jeweiligen News, welche werblichen Botschaften sind in der Nachricht verpackt? Sind die Ansprüche an Vollständigkeit und Relevanz erfüllt? Die künftig noch wichtigeren Validitäts-Prüfungen benötigen verbesserte Recherche-Ressourcen.
Konsequenz: Insbesondere die verlässliche Alltags-Recherche wird immer wichtiger und muss gefördert werden. Auf diese Anforderung müssen sich die Redaktionen einlassen und entsprechende Investitionen in die human ressources vornehmen. Die Recherche- Ausbildung und die Entwicklung von innovativen Mentoren-Programmen und Trainings müssen vorangetrieben werden. Es muss eine Renaissance der Weiterbildung i n den Redaktionen geben. Eine ausführliche Erläuterung von produktiven Recherche- Ausbildungsformen stehen in einem separaten Papier, das Bestandteil dieses Strategie- Entwurfs ist (vgl. Anlage Papier – Recherche-Trainings).
5. Neue Recherche-Berufe und Recherche-Teams etablieren
Eine neue Validitäts-Kultur ist nötig. Zwar gibt es das berühmte SPIEGEL-Archiv, große Dokumentar-Abteilungen und vereinzelt Recherche-Teams bei Verlagen und Sendern. Aber dies sind nur kleine Inseln des controllings. Künftig sollte das System der Faktenkontrolle ergänzt werden durch den Aufbau neuer Recherche-Berufe. Mit der Zuarbeit von etablierten Rechercheuren in die Redaktionspraxis könnte ein Funke auf den „alltäglichen“ Journalismus überspringen.
Die Konsequenz: Neue Modelle der Faktenkontrolle sollten erprobt, neue Recherche- Berufe und Recherche-Teams etabliert werden. Die fehlende Arbeitsteilung und Spezialisierung in deutschen Redaktionen, die den Journalist zum überforderten Allrounder macht, muss überdacht werden. Themenspezialisierung und Teamgeist müssen intensiver erprobt und redaktionell verankert werden.
6. Ökonomische Chancen von Recherche vermitteln, Marketing-Versprechen überprüfen
Recherche lohnt sich – das muss vermittelt werden. Nicht nur für eine funktionierende Demokratie, sondern auch wirtschaftlich, für Verlage und Sender.
Recherche wird von journalistischen Entscheidern jedoch nicht gezielt gefördert, weil diese kein konkretes Bild der Erfolgseffekte haben und die Operationalisierung dieser Führungsaufgabe scheuen. Dabei liegen die Erfolgseffekte auf der Hand: Exklusiv- Recherchen schaffen Nachrichten, und Nachrichten bedeuten Aufmerksamkeit und Imagegewinn für ein Medienunternehmen. Mehr Recherche fördert zudem die Team- Arbeit in den Unternehmen und die Synergie zwischen den Ressorts. Und: Erfolgreiche Recherchen motivieren und stiften Identität unter Autoren und Redakteuren. Im Zeitalter der Digitalisierung und Differenzierung im Medienbereich wird Recherche zum zentralen Unterscheidungsmerkmal und zum Werttreiber für Medienunternehmen.
Für Sender, Verlage und Medienakteure ist Recherche jedoch oft nur Marketing- Instrument, ein Aushängeschild, mit dem man werben kann. Aber der wie eine Monstranz getragene Anspruch hat in der beruflichen Praxis oft keine Folgen.
Die Konsequenz: Dieser Widerspruch muss immer wieder klar gemacht, die Marketing- Versprechen an der Realität gemessen werden. Die Verantwortlichen in Verlagen und Sendern müssen von den Erfolgseffekten der Recherche überzeugt werden, damit Recherche mehr als nur Aushängeschild ist.
7. Selbstreflexion einfordern, Medienkritik fördern, Ethik-Vakuum erkennen
Die Selbstbespiegelung im Journalismus hat heute oft Vorrang vor der vernünftigen und angemessenen Selbstreflexion. Die selbstkritische Besichtigung der Branche, die Musterung von Macht und Ohnmacht, das Nachdenken über handwerkliche Fehler, die Korrektur von Pseudo-Skandalen, Fehleinschätzungen und Kumpanei, die Definition von Berufsstandards und seiner Herausforderungen haben keine Konjunktur. Journalistische Selbstverständnis-Debatten auf einem hohen Niveau, die nach neuen Leitbilder suchen, haben Ausnahmecharakter.
Zwei Beispiele: Die zentrale Debatte über die Rolle der Medien bei der vergangenen Bundestagswahl, die Rolle der Demoskopie als „inneres Geländer“ des Journalismus, wurde bis heute nicht gründlich diskutiert.
Bei der BND-Affäre betrieben Journalisten Stichflammen-Journalismus auch in eigener Sache. Die BND-Debatte über die Instrumentalisierung der Medien blieb bis heute unausgegoren. Es wurde nicht ausreichend thematisiert, wie die Nachrichten- und die Sicherheitsdienste Medien im Alltag vor ihren Karren spannen, wie Austauschbeziehungen und Manipulationen wirklich verlaufen.
Manche Skandale werden heute gezielt mit den Mitteln des negative campaignings gesetzt; Recherche-Journalismus sollte sich diesem Trend widersetzen und deutlich zwischen echten Skandalen und gemachter Skandalisierung unterscheiden.
Die Konsequenz: Journalisten sind oft blind in eigener Sache, sie kritisieren Gott und die Welt, machen aber in der Regel vor dem eigenen Berufsstand Halt. Alle Aktivitäten, die ein höheres Reflexionsniveau im Journalismus befördern könnten, sind daher zu fördern. Räume für hintergründige und kontroverse Debatten müssen geschaffen und Journalisten zur Selbstkritik – und falls nötig zu Korrekturen – ermutigt werden. Auch die Qualität der Medienkritik muss intensiver gepflegt und gefördert werden.
8. Wissenschaft mit der Medien-Realität konfrontieren
Die Kommunikationswissenschaften stehen bei der kritischen Reflexion der aktuellen Medienprozesse mit in der Verantwortung, kommen dieser jedoch oft nur mangelhaft nach. Bis auf wenige Leuchttürme der Forschung bleibt die Erkenntnisdichte über wichtige Prozesse dünn. Empirische Arbeiten speisen sich überwiegend aus bekannten Informationen.
Starke Kommunikationswissenschaften könnten wirksam zur Korrektur von Fehlentwicklungen beitragen und die Verankerung von Recherche im Journalismus fördern. Kommunikationswissenschaftler müssen sich stärker den relevanten Forschungsthemen widmen und ihre Forschungsergebnisse jenseits ihres eigenen Bereichs vermitteln.
Die Konsequenz: Die Empirie in den Kommunikationswissenschaften muss gefördert, die Wissenschaft stärker mit der beruflichen Realität konfrontiert werden. Dissertationen, Diplom- und Magisterarbeiten sollten vermehrt relevante Fragestellungen im Journalismus aufgreifen.
9. Recherche-Abstinenz beseitigen – verdrängte Themen auf die Agenda setzen
Die Recherche-Abstinenz im Journalismus führt zu erheblichen „weißen Flecken“ und Defiziten in der Berichterstattung. Einige Beispiele:
• vor Analyse. Die engen Verbindungen vieler Berichterstatter zu den Pressestellen und PR-Abteilungen machen oft blind für Fehlentwicklungen, Widersprüche, kritikwürdige Tendenzen. Selbst in der Politikund in der Kulturberichterstattung gibt es einen größeren intellektuellen Freiraum und eine größere Pluralität (vgl. PR-Einfluss im Wirtschafts-Journalismus, manager magazin Nr. 05/07).
• Der gesamte Bereich der weitgehend intransparenten EU-Politik und der gleichzeitige Kompetenzverlust der Landespolitik werden in der Berichterstattung nur unzureichend analysiert. Selbst die Kritik des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog (Wams, 1/07) verhallte im publizistischen Nichts.
• Das Gleiche gilt für den etablierten Hauptstadt-Journalismus. Wie hoch ist der Exklusivitäts-Anteil der großen Studios? Was wird zum Thema und wann? Wie halten die Berichterstatter die Balance zwischen Nähe und Distanz? Wie ist es um die Interview-Qualität bestellt? Auch auf der Berliner „Pfaueninsel“ ist mehr Recherche und weniger Chronisten-Begleitung gefordert.
• In der Doping-Berichterstattung waren die Defizite besonders sinnfällig. Auch hier zeigen sich die verheerenden Ergebnisse, wenn Sportfunktionäre, Sponsoren, Medienunternehmen und Politik eine Symbiose eingehen. Eigentlich wäre dies die Stunde des Journalismus.
Die Konsequenz: Durch mehr Recherche müssen Defizite in der Berichterstattung behoben werden. Mehr Recherche wäre ein Dienst an der Demokratie, weil wichtige Informationen, schwer zugängliche und kaum verständliche Themenfelder für das interessierte Publikum klarer würden und durch Kritik und Kontrolle der Handlungsdruck erhöht würde.
10. Recherche als Antwort auf die Herausforderungen erkennen
Der etablierte Journalismus steht vor gravierenden Herausforderungen. Viele Kunden melden sich ab, lesen keine Zeitung mehr, flüchten in den kommerziellen Medienkonsum und suchen Zerstreuung in zahllosen Entertainment-Angeboten. Parallel entwickelt sich eine nicht-journalistische Blogger-Szene, die das Tagebuch in neuer Weise kultiviert. Podund Vodcasting könnten den Radio- und Fernseh-Konsum revolutionieren und die Strukturen auf den Kopf stellen. Erste Pflänzchen von Citizen-journalism wachsen, auch als Protest gegen das „gesendete Nichts“, das viele Themen nicht mehr aufgreift. Die Misere des von Verdrängung und Pressekonzentration gebeutelten und örtlich betäubten Lokaljournalismus verstärkt diese Entwicklung. Unterhaltungs-dominiertes Sicherheitsfernsehen und Formatradio – mit publizistischen Programmen an den Randzonen oder in Spartenkanälen – treiben Zuschauer und Zuhörer zu kommerziellen Anbietern.
Die Erkennbarkeit des seriösen Journalismus in einer immer unübersichtlicher werdenden digitalen Medienwelt ist in Gefahr, die Auffindbarkeit wird zwischen User Generated Content, Werbeangeboten und Informationsmüll zum Problem. Der Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums wird härter. Gleichzeitig bieten die neuen technischen Entwicklungen neue Formen des Publizierens und neue Möglichkeiten und Quellen zur Recherche. Online-Recherche kann andere Methoden der Recherche – insbesondere die Recherche vor Ort – zwar nicht ersetzen, aber in einzelnen Themenfeldern bereichern.
Die Konsequenz: Für gut recherchierte Informationen, für Hintergrundberichte, für das Aufdecken von Zusammenhängen und das Aufzeigen von Missständen wird es auch in Zukunft ein großes Publikum geben – egal, wo publiziert wird. Recherche ist somit eine zentrale Antwort auf die Herausforderungen und auch die Bedrohungen des Journalismus. Recherche ist der Qualitäts-Katalysator für die Medien und sollte deshalb intensiv gefördert werden.
Der Einsatz für Recherche ist damit wichtiger denn je. Mit sinnvollen Instrumenten und überschaubaren Mitteln könnte viel erreicht werden.