21. Mai 2012 – Johannes Ludwig
Investigativ bedeutet: dranbleiben und nicht aufgeben
Was da derzeit an Auseinandersetzungen läuft, ist geradezu klassisch. Lernt jeder Management-Student im ersten Semester: Wenn man bei (sehr) unterschiedlichen Gruppenmitgliedern vorher keine klaren Spielregeln festlegt, kommt es (schnell) zum Streit.
So wie man Pressefreiheit nicht teilen kann, also etwa Freiheitsrechte nur für die ‚guten‘ Medien einräumt, nicht aber für die weniger guten oder gar für die ‚schlechten‘, und so wie unsere Karlsruher Verfassungshüter dies aus gutem Grund praktizieren, ist es auch mit dem „investigativen” Journalismus. Oder auch anderen Genres. „Investigativ” definiert sich über klare Kriterien – egal, wer sie anwendet. Trotz klarer Definition(en) kann es natürlich zu Meinungsverschiedenheiten über deren Interpretation im Einzelfall geben. Wer sich beispielsweise anschaut, wer in den fragliche(n) Jury(s) sitzt und entscheiden darf, merkt schnell, dass diese unterschiedlicher nicht besetzt sein könnten. Allein Helmut Markwort und Georg Mascolo stehen für (sehr) unterschiedliche Nachrichtenmagazinkonzepte – Focus-Leser sind keine SPIEGEL-Leser und umgekehrt: Was für die Gesellschaft „relevant” ist oder nicht, das definieren beide (sehr) unterschiedlich.
Genau das aber ist – zumindest in der Kommunikations- und Medienwissenschaft – ein weiteres, ganz entscheidendes Merkmal für „investigativen Journalismus” – im Gegensatz zum Sensationsjournalismus oder Paparazzi-Praktiken.
Die Wulff-Affäre ist ganz ohne Zweifel „relevant“. Deswegen lässt sich die Frage, ob die BILD-Zeitung „investigativ” recherchiert hat und zu Recht auf der Liste der Kandidaten stand, nur darüber festmachen, ob sie ordentlich „investigativ” gearbeitet hat. Mir liegen die Rechercheprotokolle nicht vor. So wie ich das aber verstanden habe, war es der SPIEGEL, der sich durch alle Instanzen geklagt hat, um ein Recht einzufordern, mit dem die Wirtschaftswoche bereits im Jahr 2000 zuvor einen juristischen Sieg davongetragen hat, nämlich dass Journalisten in Grundbücher Einblick nehmen dürfen. Investigativ bedeutet eben auch: dranbleiben und nicht aufgeben, auch wenn’s schwierig oder zeitraubend wird.
Allenfalls hier könnte sich eine ‚Schwachstelle‘ verbergen, denn BILD war ja nicht von Anfang an auf der kritischen Spur von Wulff. Und über ihren Richtungswechsel hat sie wenig kommuniziert. Aber da sind wir wieder bei den Spielregeln der Jury, die es offenbar so nicht gibt. Und deshalb sollte diese Henri-„Affäre” Anlass sein, hier Klarheit zu schaffen, auch wenn das regelmäßig schwieriger ist, so etwas a) im Nachhinein und b) auch noch im Konsens zu tun. Wenn selbiges nicht gelingen sollte, könnte man darüber nachdenken, die Gruppenmitglieder in Gestalt der Jury auszutauschen, einen Neustart sozusagen ausprobieren.
Zu solchen neuen Usancen könnte auch gehören, detaillierter zu begründen, auch Dritten gegenüber, warum der eine einen Henri zugesprochen bekommt und warum ein anderer nicht. Das muss nicht immer in der Ausführlichkeit geschehen, wie die Kandidaten dies der Jury gegenüber tun, schon aus Gründen des Informantenschutzes wegen. Aber trotzdem ist es auch für Außenstehende regelmäßig hochinteressant und spannend, nicht nur die Geschichte, sondern auch ihr Making-of zu kennen. Dies ist die Erfahrung, die wir seit fast zehn Jahren bei der (ausführlichen) Dokumentation des „Wächterpreises der Tagespresse” machen (www.ansTageslicht.de/Waechterpreisarchiv). Mittels Transparenz bzw. besser gesagt: über die Vollständigkeit und das bessere Verstehen einer Geschichte durch Kenntnis, wie sie entstanden ist und warum dieses so schwierig war, sie zu recherchieren, ließe sich übrigens auch mehr Akzeptanz generieren: für solche Geschichten, aber auch für die Einsicht eines fairen Kostenbeitrags des Lesers oder Users. Aber das ist ein (ganz) anderes Thema …
Zurück zur Henri-„Affäre”: Ich denke, jene, die „Probleme” haben, dass sie sich einen Preis mit der BILD teilen müssten, sollten dies journalistisch ein wenig sportlicher angehen. 2004 beispielsweise wurde der erste „Wächterpreis” dem Berliner Tagesspiegel und der BILD-Zeitung (Redaktion Frankfurt/M.) zuerkannt – für eine Geschichte, an der beide gleichermaßen erfolgreich ‚dran‘ waren (www.ansTageslicht.de/Folterdrohung).
An diesem Umstand haben sich damals weder der Tagesspiegel gestört noch Leyendecker und Richter, als letztere drei Jahre später, 2007, einen Wächterpreis zugesprochen bekamen (www.ansTageslicht.de/CIA). Und ihn (sogar) in Empfang genommen hatten.
Johannes Ludwig, Jahrgang 1949, ist Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Hamburg.