Attraktiv, zugäng­lich, fak­ten­treu

ver­öf­fent­licht von Gast­bei­trag | 14. Februar 2016 | Lese­zeit ca. 6 Min.

Wel­chen Ansprü­chen müssen daten­jour­na­lis­ti­sche Visua­li­sie­rungen genügen?

Die Infografik "Diamonds were a girl's best friend" aus dem Time Magazine von 1982. Mit freundlicher Genehmigung des Urhebers.

Die Info­grafik „Dia­monds were a girl’s best friend“ aus dem Time Maga­zine von 1982. Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Urhe­bers.

Von Xenia El Mou­rabit

Lasziv räkelt sich eine Frau auf dem Boden, den großen roten Mund leicht geöffnet, ein Bein ele­gant abge­spreizt. Der haut­enge Body erlaubt tiefe Ein­blicke in ihr Dekolleté. Mit einer kecken Bewe­gung schiebt die junge Dame ihren Zylinder aus dem Gesicht. Ihre Arm­reifen sind mit Dia­manten besetzt; und um die geht es hier eigent­lich. Denn die Dame leiht ihren Körper einer Grafik des Time Maga­zine, die den durch­schnitt­li­chen Preis von Dia­manten zwi­schen 1978 und 1982 zeigt. Die Preis­ent­wick­lung läuft ent­lang ihrer Kon­turen – Hin­tern, Ober­schenkel, Unter­schenkel, Fuß. Wer aber hat ange­sichts dieser Figur noch Augen für schnöde Sta­tistik? Der Preis­ver­fall der Dia­manten rückt bei diesem Anblick voll­kommen in den Hin­ter­grund.

Alles so schön bunt hier! Aber wie schön darf und sollte Datenjournalismus sein? Datenvisualisierung von Lauren Manning/flickr

Wie viel Visua­li­sie­rung braucht der Daten­jour­na­lismus über­haupt? Lesen Sie dazu auch das Daten-​Labor-​Inter­view mit Sascha Venohr und Till Nagel. Daten­vi­sua­li­sie­rung von Lauren Man­ning/flickr

Auch geben die natür­li­chen Run­dungen der Frau an Po und Wade einen Kur­ven­ver­lauf vor, der die Fak­ten­lage ver­fälscht: Denn dar­über, wie der Dia­mant­preis sich zwi­schen den fünf dar­ge­stellten Daten­punkten ent­wi­ckelt hat, lässt sich auf dieser Daten­basis gar nichts aus­sagen. Inter­es­santer anzu­schauen als ein schlichtes Lini­en­dia­gramm ist die Grafik „Dia­monds Were a Girl’s Best Friend“ aus dem Jahre 1982 sicher­lich. Doch sie zeigt auch exem­pla­risch, wie eine anspre­chende Auf­ma­chung auf Kosten der Fakten gehen kann. Hier den rich­tigen Mit­telweg zu finden, ist auch für den Daten­jour­na­lismus wichtig, denn er ver­eint hohe Ansprüche an Fak­ten­treue und ästhe­ti­sche Visua­li­sie­rung glei­cher­maßen. Wel­chen Stan­dards muss er also genügen, um anspre­chend zu sein ohne dabei zu ver­zerren?

Qua­li­täts­kri­te­rien aus Wis­sen­schaft, Jour­na­lismus und Design

Hin­weise dafür lie­fert die Wis­sen­schaft: Zum einen erfor­schen spe­zia­li­sierte Dis­zi­plinen, wie sich Daten optisch anspre­chend auf­be­reiten lassen. Zum anderen hat sich die Wis­sen­schaft selbst Regeln guter wis­sen­schaft­li­cher Praxis auf­er­legt, um Ergeb­nisse kom­plexer Daten­ana­lysen adäquat zu visua­li­sieren. Dem­nach würden wis­sen­schaft­liche Qua­li­täts­kri­te­rien wie Objek­ti­vität und Über­prüf­bar­keit für Visua­li­sie­rungen genauso gelten wie für andere wis­sen­schaft­liche Dar­stel­lungs­formen, sagt Birgit Schneider, die an der Uni­ver­sität Potsdam die Geschichte von Kli­ma­dar­stel­lungen erforscht. Wichtig sei, dass die Daten­grund­lage einer Visua­li­sie­rung eben­falls diese Qua­li­täts­kri­te­rien erfülle, erklärt die Pro­fes­sorin für Medi­en­öko­logie. Um die Qua­lität wis­sen­schaft­li­cher Ergeb­nisse zu beur­teilen, gebe es stan­dar­di­sierte sta­tis­ti­sche Ver­fahren. Diese besagten bei­spiels­weise wie groß Stich­proben sein oder wie Linien in der Visua­li­sie­rung gezogen werden müssten.

Eine Einführung in gutes Design: Der Wissenschaftler Al Globus hat die wichtigsten Regeln aus den Hauptwerken Tuftes zusammengefasst. Hier geht es zur deutschen Übersetzung der Zusammenfassung. Foto: Isriya Paireepairit /Flickr

Eine Ein­füh­rung in gutes Design: Der Wis­sen­schaftler Al Globus hat die wich­tigsten Regeln aus den Haupt­werken Tuftes zusam­men­ge­fasst. Hier geht es zur deut­schen Über­set­zung der Zusam­men­fas­sung. Foto: Isriya Pai­ree­pairit /Flickr

Par­al­lelen zu den wis­sen­schaft­li­chen Qua­li­täts­kri­te­rien lassen sich im Jour­na­limus zahl­reich finden: Laut dem Jour­na­lis­mus­for­scher Gün­ther Rager sind Aktua­lität, Rele­vanz, Rich­tig­keit und Ver­mitt­lung die vier zen­tralen Fak­toren für gute Bericht­erstat­tung. Sie gelten medi­en­über­grei­fend für Texte, Filme, Radio­bei­träge – und eben auch für Visua­li­sie­rungen.

Mög­lichst wenig Schnick­schnack – lasst die Daten spre­chen!

Doch wie steht es mit den Regeln für gutes Design? In der Praxis gebe es dafür kein Patent­re­zept, sagt Jan-​Erik Stange, Desi­gner und Dozent an der FH Potsdam. Man müsse sich jedes Mal aufs neue Gedanken dar­über machen, wie Muster in den Daten am besten sichtbar gemacht werden können. Es gebe aber einige Erfah­rungs­werte und Anhalts­punkte: Zusam­men­ge­hö­rige Ele­mente sollten in einer Visua­li­sie­rung bei­spiels­weise auch ähn­lich gestaltet sein oder nah bei­ein­an­der­liegen. Stange ver­weist auch auf die Lite­ratur von Edward Tufte, einem Sta­tis­tiker, der heute als Pio­nier der Daten­vi­sua­li­sie­rung gilt.

Tuftes "Zauberformel" für gutes Design: Das Data-Ink-Ratio soll im gegen eins gehen. Bild: infovis-wiki.net

Tuftes „Zau­ber­formel“ für gutes Design: Das Data-​Ink-​Ratio soll gegen eins gehen. Bild: infovis-​wiki.net

Die von Tufte auf­ge­stellte Regel zur Gestal­tung von Info­gra­fiken wird unter Desi­gnern heute schon fast als Zau­ber­formel gehan­delt: Die Menge der Tinte, die der reinen Dar­stel­lung der Daten dient, geteilt durch die Gesamt­menge der Tinte soll unge­fähr eins ergeben. Die Bot­schaft dahinter: Mög­lichst wenig Tinte für opti­schen Schnick­schnack – lasst die Daten spre­chen!

Solche wis­sen­schaft­li­chen Qua­li­täts­kri­te­rien zu erfüllen, stellt den Daten­jour­na­lismus ohne Zweifel vor eine große Her­aus­for­de­rung – zumal diese Ansprüche mit­unter sogar mit den jour­na­lis­ti­schen Qua­li­täts­kri­te­rien kol­li­dieren. So kann die Auf­be­rei­tung von Daten zeit­in­tensiv sein, was dem Kri­te­rium der Aktua­lität wider­spricht. Auch muss eigent­lich jede Nach­richt durch min­des­tens zwei von­ein­ander unab­hän­gige Quellen belegt sein. Bei daten­jour­na­lis­ti­schen Pro­jekten bereite das häu­figer Pro­bleme, sagt Sascha Venohr, Head of Data Jour­na­lism bei Zeit Online. Oft gebe es nur eine Daten­quelle, die müsse der Jour­na­list dann auf Plau­si­bi­lität prüfen und bewerten, ob sie glaub­würdig ist.

Leser wollen rasch infor­miert werden

Ob eine Visua­li­sie­rung als gut gilt, bemisst sich nicht zuletzt auch an den Ansprü­chen des Ziel­pu­bli­kums – und dabei spielt Zeit eine wich­tige Rolle. Wis­sen­schaftler können einiges an Zeit auf­wenden, um Abbil­dungen in einer Fach­zeit­schrift zu ver­stehen, denn das gehört zu ihrem Job. Auch Desi­gner Stange wünscht sich Nutzer, die Zeit und Inter­esse für seine Werke mit­bringen, sich mit ihnen aus­ein­an­der­setzen und sie richtig explo­rieren. Ein Ideal, von dem Jour­na­listen nur träumen können, denn Leser einer Tages­zei­tung oder Nach­richten-​Web­seite möchten in der Regel rasch infor­miert werden. Jour­na­lis­ti­sche Visua­li­sie­rungen können des­halb nicht so kom­plex sein, wie die von Wis­sen­schaft­lern und nicht so expe­ri­men­tell, wie die von Desi­gnern.

Diese Visualisierung zeigt Daten aus der Hirnforschung. Sie gewann zwar in der "2012 Brain-Art Competition", für ein journalistisches Medium wäre sie aber vermutlich zu komplex. Bild: Ars Electronica/Flickr

Diese Visua­li­sie­rung zeigt Ergeb­nisse aus der Hirn­for­schung. Sie gewann 2012 die „Brain-​Art Com­pe­ti­tion“; für ein jour­na­lis­ti­sches Medium wäre sie aber ver­mut­lich zu kom­plex. Bild: Ars Elec­tro­nica/Flickr

„Wir visua­li­sieren Geschichten, wenn sie dadurch einen Mehr­wert erhalten und einen bes­seren Zugang liefen“, sagt Venohr. Durch Visua­li­sie­rungen ließen sich Geschichten häufig viel schneller und ein­fa­cher erfassen als durch einen nor­malen Text. Eine ähn­liche Moti­va­tion steckt auch hinter den Visua­li­sie­rungen der Wis­sen­schaft: Mit ihrer Hilfe lassen sich Erkennt­nisse leichter gewinnen und mit Kol­legen teilen. Ver­mut­lich würden sowohl Wis­sen­schaftler als auch Jour­na­listen bejahen, dass sie mit mög­lichst wenig opti­schem Schnick­schnack mög­lichst viel Erkenntnis an den Rezi­pi­enten bringen möchten. Was über­flüs­siger Schnick­schnack ist, hängt jedoch wie­derum von der Ziel­gruppe ab. So würde eine jour­na­lis­ti­sche Visua­li­sie­rung, die zu viele Unsi­cher­heiten in den Daten dar­stellt, die Geschichte ver­wäs­sern, meint Venohr. Der Umgang mit Unsi­cher­heiten gleicht für Jour­na­listen daher einer Grat­wan­de­rung. In der For­schung hin­gegen wäre es ein Ver­stoß gegen die gute wis­sen­schaft­liche Praxis, Unsi­cher­heiten nicht zu zeigen.

Im Team neue Wege gehen

Eine Mög­lich­keit für Daten­jour­na­listen, sich zwi­schen den Ansprü­chen der ver­schie­denen Berufs­felder zu bewegen, ist inter­dis­zi­pli­näre Zusam­men­ar­beit. Zu Ven­ohrs Team bei Zeit Online bei­spiels­weise gehört auch ein Desi­gner. Es sei wichtig, jemanden im Team zu haben, der Design auch wirk­lich könne und ver­stehe, sagt Venohr. Der Desi­gner müsse eine Form­sprache anbieten, die auch Lust mache, die Infor­ma­tionen auf­zu­nehmen.

Venohr schaut auch in Rich­tung der Wis­sen­schaft. Daten­jour­na­listen müssen seiner Mei­nung nach den Mut haben, neue Wege zu gehen. Er sieht es als Her­aus­for­de­rung, seine Leser an neue Dar­stel­lungs­formen her­an­zu­führen. Als Bei­spiel nennt er Streu­dia­gramme, die nicht nur Mit­tel­werte zeigen, son­dern auch Aus­reißer sichtbar machen, und aus denen er als Jour­na­list span­nende Geschichten gene­rieren kann. Als exak­tere Alter­na­tive zu Balken-​ oder Lini­en­dia­grammen werden Streu­dia­gramme in der Wis­sen­schaft stan­dard­mäßig genutzt, im Jour­na­lismus sind sie bisher sel­tener zu finden. Sie könnten damit ein Bei­spiel dafür sein, wie Jour­na­lismus von den Dar­stel­lungs­formen der Wis­sen­schaft pro­fi­tiert. Damit jour­na­lis­ti­sche Visua­li­sie­rungen nicht nur ein anspre­chendes Design haben, son­dern auch kor­rekt sind. Und damit ein­zelne Daten­punkte nicht, wie bei der dia­man­ten­be­han­genen Dame vom Anfang, der Schön­heit wegen mit will­kür­li­chen Kurven ver­bunden werden.

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