Demut, Transparenz, Fehlerkultur, Aufräumen
Es gibt viel zu tun, auch nach Relotius
Von Stefan Babuliack
Bericht von der Tagung: Jetzt mal ehrlich! Was Journalismus aus den Täuschungsfällen lernen muss (29./30.11.2019, Tutzing)
Panels:
- Fälschen und Verfälschen – Was die Fälle unterscheidet und was sie gemeinsam haben
- Gute Vorsätze nach dem großen Knall – Hat sich wirklich was geändert?
Über ein Jahr ist vergangen, seit die Fälschungen des Spiegel-Reporters Relotius offen gelegt wurden. Seitdem gab es unter anderem Aufregung um Ungereimtheiten bei der WDR-Sendereihe „Menschen hautnah“, manipulierte Berichte bei RTL und einen Fall unsauberen journalistischen Arbeitens bei der Zeit. Diese Vorfälle nahmen Netzwerk Recherche und die Akademie für politische Bildung in Tutzingen zum Anlass, eine Fachtagung zu veranstalten: Unter dem Titel „Jetzt mal ehrlich: Was Journalismus aus den Täuschungsfällen lernen muss“ riefen sie Journalist*innen zu Selbstreflexion auf. Zu der zweitägigen Fachtagung am Starnberger See kamen mehr als 20 Referent*innen aus Print, Radio und TV in insgesamt sechs Panels zusammen, um kritischen Fragen zu journalistischer Ausbildung, dem ethischen Selbstverständnis, Arbeitsmethoden sowie dem Verhältnis von Verantwortung, Freiheit und Kontrolle nachzugehen. Hat die Branche aus dem großen Betrugsfall gelernt? Eine einfache Antwort darauf hatte niemand versprochen, und die gab es auch nicht. Vielschichtigkeit und regen Austausch dafür schon.
Demut, Demut, Demut – oder: „Können wir vielleicht nicht anders?!“
Zum Einstieg in die Veranstaltung präsentierte Medienjournalist Stefan Niggemeier eine Keynote, die auf zwei klare Empfehlungen hinauslief: Einerseits verlangte der Gründer des Medienkritik-Magazins Übermedien klarere Regeln für das journalistische Arbeiten, damit deutlicher wird, „was geht eigentlich und was nicht mehr“. Andererseits, und hier liegt für ihn der entscheidendere Knackpunkt für die Branche, müsse sich die „journalistische Kultur“ an den Schreibtischen verändern. Eine Kultur, die „Genauigkeit vor Schönheit, Transparenz vor Perfektion und Widersprüchlichkeit vor Eindeutigkeit“ setzt. Vorangestellt hatte er eine Unterscheidung vom selteneren „Fälschen“ (bewusstes und absichtliches Erfinden) und häufigeren „Verfälschen“ (ungenaues, nachlässiges Justieren, passend machen). Diese Differenzierung zwischen Fälschen und Verfälschen helfe zu ergründen, was „System“ sei und grobe Nachlässigkeiten im Journalismus ermögliche – was also dazu führe, dass ausgestaltet, dramatisiert und drehbuchartig angepasst wird. Als Gegenmittel empfahl er, dem Grau in der Berichterstattung mehr Raum zu schenken und „den Leser mitzunehmen zum Suchen, und gar nicht unbedingt nur zum Finden und Präsentieren“.
„Wahrhaftiger werden“
Im anschließenden Gespräch „Gute Vorsätze nach dem großen Knall – Hat sich wirklich was verändert?“ diskutierte Moderatorin Laura Hertreiter (SZ) mit Stefan Weigel (Der Spiegel), Stefan Willeke (Die Zeit) und Britta Windhoff (WDR) und Stefan Niggemeier über Aufarbeitungen in Redaktionen und deren Konsequenzen. Dabei kam das Gespräch auf die Frage, wer denn nun und wie genauer geprüft werden sollte. Für Stefan Weigel sind weniger die „Hardcore-Fälscher“ das zentrale Problem. „Der Mittelbau sollte uns Sorgen machen“, so Weigel.
Dem widersprach Stefan Willeke, jedenfalls bezogen auf seine Erfahrungen bei der Zeit: „Ich glaube immer noch daran, dass wir es mit Ausnahmenerscheinungen zu tun haben, auch beim Ver-Fälschen. In der Regel haben wir es mit Fehlern zu tun, die unabsichtlich passieren: aus Zeitnot, aus Schludrigkeit oder weil man nicht so genau hingehört oder nachgefragt hat. Insofern finde ich die Lage nicht beunruhigend.“
Verfälschungs-Vorwürfe gab es 2019 gegenüber Dokus in der WDR-Reihe „Menschen hautnah“ – die schließlich dazu führten, dass sich der Sender von der Autorin der Filme trennte. Redaktionsleiterin Britta Windhoff betonte, dass – auch seitens der Redaktion – unsauber gearbeitet wurde, es aber keine betrügerische Absicht gegeben habe. In der Folge habe man aber Standards wie das Vieraugen-Prinzip und Faktenchecks eingeführt. Dass die Redaktion seitdem bei scheinbaren Petitessen noch größeren Wert auf Faktentreue und eine transparente Erzählweise lege, sei schon allein deshalb notwendig, weil heute jeder Internetnutzer durch die ständige Verfügbarkeit der Filme in Mediatheken und bei Youtube Fehler entdecken kann.
Das Ausarbeiten von Leitfäden für die journalistische Arbeit stellt für mehrere Medienhäuser eine Maßnahme dar, um (Ver-)Fälschungen in Zukunft zu verhindern. Während beim Spiegel zum Zeitpunkt der Tagung noch daran gearbeitet wurde, konnte Willeke für die Zeit das entstandene Regelwerk (erschienen im Glashaus-Blog im Mai 2019) bereits erläutern. Vieles darin sei eigentlich selbstverständlich, so Willeke. Als ein Akt der Selbstvergewisserung schien es aber ihm und allen auf dem Podium ein wichtiger Schritt zu sein. „Manche Regeln sind steinalt im Journalismus, zum Beispiel die Zwei-Quellen-Regel“, so Stefan Weigel. „Aber wahrscheinlich gib es keine Regel im Journalismus, die so oft verletzt wird, wie die Zwei-Quellen-Regel.“
„Die Geschichte muss stimmen…“ – Regelwerke sind gefordert
Einig waren sich die Diskutant*innen, dass damit gegen bewusstes und absichtliches Fälschen kein Allheimittel gefunden sei – man würde lediglich die Hürden erhöhen. Denn auch Relotius hatte fotografische Nachweise vorgelegt und – wie in Juan Morenos Buch erwähnt – falsche Mailaccounts zur Verschleierung seiner Fälschungen erstellt.
Die Diskutant*innen sprachen sich für die Einrichtung von Ombudsstellen aus. Aus Weigels Sicht sei es aber noch wichtiger, dass sich Redaktionen ernsthaft mit Leser-Kritik auseinandersetzen – auch wenn es keinen Spaß mache: „Wer prüft das nach, wer recherchiert Leuten hinterher? Kein Mensch hat dazu Lust, aber es ist sinnvoll.“
Britta Windhorst plädierte dafür, sich – bei aller Selbstkritik – den „Lügenpresse“- und „Fake News“-Angriffen wieder breitkreuziger entgegenzustellen. „Wir können besser werden, wir sind nicht perfekt – aber wir sind keine Lügner.“