Der Visualisierungskünstler
Von Katharina Schmitz
Damit seine Mutter seine Arbeit versteht, hat Till Nagel eins seiner Projekte auf Postkarten gedruckt. Ein Jahr lang hat er seine täglichen Fahrradstrecken mit einer Smartphone-App getrackt und die Daten anschließend auf eine digitale Karte übertragen. Die Erkenntnis: Till Nagel fährt viel Fahrrad. Doch seine Mutter saß mehrere Stunden vor dem Computer und versuchte herauszufinden, wo ihr Sohn sich herumtreibt. So kam der Designer auf die Idee, zwölf Postkarten zu drucken, für jeden Monat eine. Nun kann seine Mutter eine Karte in die Hand nehmen, zwei Monate miteinander vergleichen oder erkennen, dass ihr Sohn im Winter wohl nicht so gerne Fahrrad fährt.
Er hat eine moderne Datenvisualisierung zurück aufs Papier gebracht. Ist das nicht ein Rückschritt? Nein, für Till Nagel ist das Medium egal, solange die Geschichte beim Nutzer ankommt. Dafür sei Ästhetik wichtig, dann nehme der Betrachter eine Geschichte eher an. Deshalb ist Till Nagel Gestalter, ihm ist wichtig, dass seine Arbeit einen Mehrwert für Laien hat.
Obwohl er Daten erhebt, aufbereitet, analysiert, visualisiert, mit seinen Nutzern kommuniziert und ihm das Wichtigste ist, dass die Ergebnisse die Öffentlichkeit erreichen, bezeichnet Nagel sich nicht als Datenjournalist. Er stellt sich als Forscher, Gestalter und Informatiker vor. Als Dozent an der FH Potsdam, bringt er jedoch auch angehenden Datenjournalisten bei, wie man Daten analysiert und visualisiert.
Vom Chaos zur aussagekräftigen Darstellung
Er beschreibt die Motivation für seine Arbeit etwas philosophisch: Er möchte verstehen, wie und wo er sich durch die Welt bewegt, konkret physisch: Wann geht er wie von A nach B, wo war er im Urlaub, wo auf Konferenzen, welche Räume hat er beschritten? Als Kind lag er noch vor Atlanten, heute arbeitet er viel mit Daten mit georäumlichen Bezug, zum Beispiel Verkehrsdaten in Städten.
Er erforscht Daten, indem er sie visualisiert. Wie er das angeht, hat er in seinem Vortrag auf der netzwerk-recherche-Fachkonferenz Datenlabor erzählt. Er arbeitet nicht nach einem starren Konzept, sondern experimentiert mit den Daten herum. Am Anfang ist das Chaos, er probiert verschiedene Visualisierungen für einen Datensatz aus, schaut dann, ob sich schon Bezüge oder Ausreißer erkennen lassen. Nebenbei schreibt er sich selbst einige Programme, die ihm bei der Analyse und Aufbereitung der Daten helfen. Als Doktor der Informatik kann er das. Dann verändert er wieder einzelne Dinge in der Visualisierung, probiert sich weiter durch, bis er ein Ergebnis hat, das sich sehen lassen kann.
Die Kunst, eine Geschichte in einer Linie zu erzählen. @tillnm über Datenvisualisierung bei #datenlabor15 #ddj pic.twitter.com/jIKkIk8TVV
— Hendrik Lehmann (@plateauton) October 23, 2015
Ein Beispiel dafür ist das Projekt Shanghai Metro Flow, eine Visualisierung, die ein Charakteristikum Shanghais darstellt: die täglich von acht Millionen Menschen genutzte Metro. Das Ergebnis zeigt vor allem den starken Kontrast zwischen der offizielle Metrokarte und der von ihr abgebildeten realen Umwelt. Beispielsweise sind die äußeren Stadtbezirke auf den aushängenden offiziellen Karten deutlich verzerrt und so verkleinert, dass sie gut abgebildet werden können. So ist die Karte übersichtlicher als die Darstellung von Till Nagel, jedoch spiegelt sie in vielerlei Hinsicht nicht die Realität wider. Mit Nagels Visualisierung kann der Betrachter die wahren Strecken überblicken, Hauptverkehrszeiten und die Auslastung einzelner Linien zu bestimmten Zeitpunkten vergleichen.
Visualisierungen transportieren eine Meinung
Till Nagel betont, dass es wichtig ist, eine Erklärung zur Grafik mitzuliefern, zum Beispiel warum er bestimmte Daten ausgewählt hat oder eine Legende, wie bei der Shanghai-Metro-Visualisierung. Denn durch Grafiken und Visualisierungen kommuniziert er mit dem Betrachter. Auch Datenjournalisten sollten vorsichtig sein und darauf achten, was sie mit ihren Grafiken erreichen wollen, sagt er. Visualisierungen transportierten allein schon durch die Auswahl der Daten fast immer direkt oder indirekt eine Meinung.
Auch wenn Nagel alle Voraussetzungen mitbringt, um als Datenjournalist zu arbeiten: Derzeit möchte er die Forschung nicht verlassen. Gerade bastelt er an einem neuen Projekt – wieder eins mit Fahrrad-Daten.
Mäandern – Über den Gestaltungsprozess von Visualisierungen. Mein Talk vom #datenlabor15 https://t.co/o9WQLRSfDL pic.twitter.com/LGD070pj8X
— Till Nagel (@tillnm) November 2, 2015
Zum Artikel “Clicki-Bunti und Data Porn – Wie viel Visualisierung braucht der Datenjournalismus?”