Ein nachhaltiger Impulsgeber
Persönliche Erinnerungen an den großen politischen Journalisten Thomas Leif
Von Volker Lilienthal
Zuletzt waren wir am 19. September vergangenen Jahres in Frankfurt verabredet – zur Jurysitzung des Otto-Brenner-Preises. Seit 13 Jahren hatten wir dort zusammengearbeitet, immer auf der Suche nach den besten Hervorbringungen des kritischen Journalismus. Beim Wiedersehen in Frankfurt wollte ich ihm gratulieren zu seinem neuesten Film „Wahre Christen oder böse Hetzer? Spaltet die AfD die Kirchen?“, der fünf Tage zuvor Erstausstrahlung gehabt hatte.
Ein Film, der abermals alle Qualitäten des großen deutschen Journalisten Thomas Leif offenbarte: interessiert in der Grundhaltung, offen in der Herangehensweise, kritisch im Ergebnis, recherchestark und filmisch mit sehr viel Sinn für das sprechende Detail. Zum Beispiel die optische Entdeckung eines „Adolf Hitler“ beschrifteten Aktenordners im Kellerregal eines AfD-Aktivisten. Nur ein Kameraschwenk, das genügte.
Auch in diesem Film trat Thomas selbst auf, als „Presenter“. Als er das im Mai 2005 zum ersten Mal gewagt hatte, in der TV-Dokumentation „Gelesen, gelacht, gelocht – vom Irrsinn der Beraterrepublik“, gab’s dafür nicht nur den Helmut-Schmidt-Journalistenpreis, sondern anfangs auch viel Spott in Fachpresse und Fernsehkritik. Leute, die vor einer Fernsehkamera selbst untergehen würden, sahen Unbeholfenheit und Narzissmus – das Übliche halt. Der AfD-Film, der Thomas’ letzter werden sollte, zeigte aber auch, was dieser Mann als Interviewer vermochte: kritisch zu fragen bei großer Geistesgegenwart, ohne an einem Leitfaden zu kleben, beneidenswerte rhetorische Beweglichkeit also, Mut zur krassen Konfrontation und dann aber doch auch das Talent, die so Überraschten und Brüskierten wieder einzufangen, einzufangen mit einem fortgesetzten eifrigen Nicken, als sei der Fragesteller nun doch geneigt, dem Befragten Glauben zu schenken. Die Erzählung in Gang halten, bis zum Selbstverrat – darum ging es ihm. Interview als Verführung – auch das kann erlaubt sein. Die Technik gehörte zu Thomas Leifs Recherchemethoden, und davon beherrschte er viele. Ihm für den AfD-Film mein Lob auszusprechen, dazu kam ich leider nicht mehr, denn schon an der Jurysitzung konnte er nicht mehr teilnehmen. Warum, das wussten wir damals noch nicht. Und mussten ahnungslos auch bei der Preisverleihung im November auf ihn verzichten. Anfang Januar erst verdichteten sich die Gerüchte und es herrschte traurige Gewissheit.
Thomas Leif, wie wir ihn kennen: ein hochpolitischer Mensch, als Journalist immer bestens informiert, ein Recherche-Maniac, der alles wissen wollte, auch das, was in einem 45-Minuten-Format nicht unterzubringen war (dafür schrieb er Bücher, darunter auch Bestseller), manchmal auch ein Hitzkopf, einer, der es liebte zu polarisieren, der dem Streit nicht aus dem Weg ging – vor allem aber einer, der rücksichtslos die Wahrheit wissen wollte, nicht aus Selbstzweck oder Eigennutz, sondern weil er uns alle schlauer machen wollte und für eine gerechtere Welt kämpfte.
Seine Rolle war jedoch nicht die des Politikers (obwohl er auch von denen so viele kannte und nahen Umgang aus der professionellen Distanz pflegte), seine Rolle war die des Publizisten. Aber selbst diese Rolle fand sich bei ihm vielfach aufgefächert. Thomas Leif wirkte als Fernsehjournalist (für den Südwestrundfunk), als gewitzter, zupackender Moderator (nicht nur von TV-Sendungen, auch einer ganzen Reihe öffentlicher Veranstaltungen von einigem Erkenntnis- und Unterhaltungswert, siehe „Mainzer Mediendisput“ und das „Demokratie-Forum Hambacher Schloss“), als Mitbegründer und Herausgeber des „Forschungsjournals Soziale Bewegungen“ (seit 1988), als Buchautor, Honorarprofessor der Universität Koblenz-Landau und – dies herausragend, sein Bild in der Öffentlichkeit lange Zeit prägend – als Mitbegründer, Spiritus rector und 1. Vorsitzender von Netzwerk Recherche, der er eine Dekade lang war.
Wie schafft einer das? „Durch viel Engagement“ ist die eine scheinbar elegante, aber nicht ganz wahre Antwort. Zutreffender ist wohl dies: durch ganz, ganz viel Knochenarbeit, Denkarbeit, Menschenbegegnungsarbeit, vulgo Netzwerkpflege. Thomas Leif konnte sehr amüsant sein (eine seiner manchmal übersehenen Qualitäten), und aus einem menschenfreundlichen Spott heraus sprach er einen dann auf die protestantische Arbeitsethik an und ob da noch Platz für das eigentliche Leben bliebe? Die Frage benannte natürlich auch Thomas Leifs eigenes Lebensthema. Er, der intellektuell aus dem Linkskatholizismus kam und sein Leben in den Dienst der Aufklärung stellte, rieb sich selbst auch auf in den vielen Rollen und Aufgaben, die er sich selbst und die andere ihm stellten. Leider war er insofern kein Neinsager. Seine ausgeprägte kulinarische Genussfähigkeit war wohl auf Dauer kein hinreichendes Bollwerk gegen all den Stress, dem er fortwährend ausgesetzt war. Work-Life-Balance aber – für dieses Modewort hätte er nur Verachtung übriggehabt.
Natürlich hat Thomas Leif auch Fehler gemacht. Wer von uns nicht? Fehler machte er zum Beispiel in seiner Rolle als NR-Vorsitzender. Aus heutiger Sicht ist das meiste davon verzeihlich. Als 2011 der Verdacht unsauberer Abrechnungspraktiken bei NR aufkam, tat Leif sich schwer, den eigenen Anteil an den entstandenen Problemen zu erkennen, die Verantwortung auf sich zu nehmen und nach einem Jahrzehnt äußerst erfolgreicher Aufbauarbeit den ehrenvollen Absprung zu wagen. Und er fühlte sich alleingelassen von Weggefährten, auf die er sich glaubte verlassen zu können. Wieder andere bauten ihm Brücken zur Rettung des Erreichten. Allein, es half nichts. So kam es zu einer für beide Seiten schmerzhaften Trennung. Die Arbeit von NR ging weiter, aber Thomas Leif hat den Verlust des Ehrenamts wohl nie verwunden.
Die Bilanz, was Thomas Leif für NR alles getan und was er erreicht hat auf der einen, seine Fehler auf der anderen Seite–, diese gerechte Bilanz steht aus. Für mich steht fest, dass NR ohne ihn nicht das wäre, was dieser Verein heute ist: ein respektierter Club von Journalistinnen und Journalisten, die sich dem Rechercheprimat und den Prinzipien eines kritischen, lauteren, demokratischen Journalismus verschrieben haben. Aber auch über die Vereinsgrenzen hinaus wage ich die These: Das Rechercheprimat wäre im deutschen Journalismus heute nicht so breit akzeptiert, wenn es nicht einen Thomas Leif gegeben hätte, der dieses Thema seit Anfang der 2000er-Jahre auf die Agenda dieser Profession gesetzt hätte.
Thomas Leif, der Mensch, der große politische Journalist – er wird fehlen. Was aber bleibt, ist sein Werk, seine noch immer sehenswerten Filme, lesenswerten Bücher, Aufsätze und Vorträge. Mehr noch aber wirkt sein Leitmotiv, das er uns Journalistinnen und Journalisten hinterlassen hat, nachhaltig fort: das Leitmotiv von der qualitätssteigernden Strahlkraft der Recherche.