„Glauben Sie nie dem Archivar“

ver­öf­fent­licht von Gast­bei­trag | 5. Juli 2014 | Lese­zeit ca. 4 Min.

Panel „Recher­chen im Ges­tern – Wie man his­to­ri­sche Themen anpackt“ mit Hen­ning Sietz, Mode­rator Egmont R. Koch, Rosalia Roma­niec und Ingolf Grit­sch­neder (v.l.n.r., Foto: Sebas­tian Stahlke)

Wie wühlt man sich durch unsauber archi­vierte Akten, wie kommt man an Zeit­zeugen? „Recherche im Ges­tern“ ist kein ange­staubtes Thema, son­dern aktuell und gefragt wie nie. Die freien Jour­na­listen Ingolf Grit­sch­neder, Rosalia Roma­niec und Hen­ning Sietz berich­teten von ihren Recher­chen zur Zeit­ge­schichte.

Fast wäre seine Recherche schon am Archivar geschei­tert. „Alle zwei Jahre kommt ein Jour­na­list und fragt danach. Haben wir aber nicht“, hieß es beim Staats­ar­chiv in Mün­chen, in dem eigent­lich Akten über ein Attentat auf Ade­nauer im Jahr 1952 lagern sollten. Hen­ning Sietz, als freier Jour­na­list vor allem für die FAZ und DIE ZEIT unter­wegs, war in einer Jah­reschronik auf eine Notiz über das Attentat gestol­pert. „Man wusste nichts dar­über und das hat natür­lich mein Inter­esse geweckt“, erzählt Sietz.

Er wälzte alte Zei­tungen. Die Bericht­erstat­tung über die für Ade­nauer bestimmte Paket­bombe, die im Poli­zei­prä­si­dium Mün­chen beim Ver­such der Ent­schär­fung explo­dierte und den Spreng­meister in den Tod riss, war nur kurz ein Thema. Sietz suchte nach den Ermitt­lungs­akten zum Fall. Doch im Staats­ar­chiv Mün­chen konnte man ihm nicht helfen, auch aus dem Ade­nauer-​Haus in Bonn kam zunächst nichts Ver­wert­bares. Doch nach­träg­lich tru­delte ein Brief ein mit einem Doku­ment, auf dem der Name des dama­ligen Ermitt­lungs­lei­ters stand. Sietz machte ihn aus­findig – und der wie­derum wusste noch genau, wie er die Akte damals beschriftet hatte: nicht mit „Attentat auf Ade­nauer“, son­dern mit „Ver­gehen gegen das Spreng­stoff­ge­setz“. So kam Sietz doch noch an die Poli­zei­akte und machte aus dem Fall ein Buch. „Glauben Sie dem Archivar nie, wenn er sagt, dass er die Akte nicht hat“, resü­miert Sietz. Im Staats­ar­chiv Mün­chen treffe an man­chem Tag gern mal ein ganzer Möbel­wagen neuer Akten ein. „Die meisten Archi­vare können gar keinen Über­blick über ihre rie­sigen Bestände haben.“

Mit Archiv­re­cher­chen kennt sich auch Rosalia Roma­niec bes­tens aus. Die gebür­tige Polin, die arbei­tete einen Vor­fall auf, der sich in ihrer eigenen Familie abge­spielt hatte. Ein ver­loren geglaubter Sohn – Roma­niecs Onkel – tauchte plötz­lich wieder auf, stellte sich jedoch später als pol­ni­scher Spion heraus. Mit viel Geduld arbei­tete sie drei Jahre lang die Geschichte aus der Per­spek­tive der Opfer auf. Dann ent­schloss sie sich, auch den ehe­ma­ligen Spion mit den Gescheh­nissen zu kon­fron­tieren. Mit zwei Kame­ra­teams reiste sie nach Polen und stellte ihn ruhig, aber bestimmt vor die Wahl, sich im Film zu erklären. Der Mann wil­ligte ein. Das Inter­view for­derte Roma­niec auch emo­tional, wurde aber der dra­ma­tur­gi­sche Höhe­punkt. „Geschickt fragen“, das rät die freie Jour­na­listin im Umgang mit zen­tralen Inter­view­part­nern – denn sonst sei die schrift­liche Ein­wil­li­gung zur Ver­öf­fent­li­chung anschlie­ßend kaum zu bekommen.

Nicht über per­sön­liche Ver­bin­dungen, son­dern schlicht übers Aus­misten alter Recher­che­un­ter­lagen stieß Ingolf Grit­sch­neder auf die Idee zu seinem neuen Film­pro­jekt über Nazis in Argen­ti­nien. Vor zehn Jahren hatte er in der Doku „Hehler für Hitler“ die Rolle des Kölner Unter­neh­mers Otto Wolff von Ame­rongen bei der Devi­sen­be­schaf­fung für die Nazis unter­sucht, nun weckte ein anderer Name in den Unter­lagen sein Inter­esse – ein Name, der in alt­deut­scher Schrift auch auf den Unter­armen eines chi­le­ni­schen Motor­rad­freaks täto­wiert war, wie ein Foto im Internet zeigte. Grit­sch­neder wollte die Spur des Geldes ver­folgen und fand heraus, dass eine mit diesem Namen ver­bun­dene Firma noch in Argen­ti­nien und der Schweiz aktiv war. Grit­sch­neder reiste nach Chile und inter­viewte den jungen Mann mit der Täto­wie­rung, der sich als Enkel des Nazi-​Devi­sen­be­schaf­fers ent­puppte.

Eine wich­tige Lek­tion hat Grit­sch­neder noch parat: „Fahren Sie immer an die Orte des Gesche­hens.“ Nachdem er die frü­here Wohn­adresse jenes ver­stor­benen Nazis her­aus­be­kommen hatte, fuhr er dorthin und klin­gelte bei allen Nach­barn. Die meisten konnten nichts dazu sagen, aber ein alter Mann war dabei, der sich seltsam stumm gab, als ob er etwas wüsste. Und tat­säch­lich: Als Grit­sch­neder ihn mit diesem Bauch­ge­fühl kon­fron­tierte und ihn auch noch intuitiv fragte, ob er viel­leicht Jude sei, bekam er die ganze Geschichte zu hören. Dieser Nachbar hatte Dut­zende Fami­li­en­an­ge­hö­rige durch die Nazis ver­loren und war schon in den 1930er Jahren nach Süd­ame­rika emi­griert – um dann nach dem Krieg erleben zu müssen, wie sich in seiner unmit­tel­baren Nach­bar­schaft die wohl­ha­benden geflüch­teten Alt­nazis nie­der­ließen.

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