Grußwort  – von Maria von Welser

Dieses Grußwort hielt Maria von Welser, NDR-Landesfunkhausdirektorin, auf der Jahrestagung des netzwerks recherche am 05.06.2004 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg:

Meine Damen, meine Herren, liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen…ich möchte Sie sehr herzlich hier im Fernsehzentrum des NDR in Hamburg Lokstedt zu Ihrem Jahrestreffen im Namen des gastgebenden NDR begrüssen. Unser Intendant wäre gerne bei uns, es ist etwas dringendes dazwischen gekommen. So widerfährt mit die Ehre….

Wenn Sie sich seit gestern in dieser enormen Zahl hier im Norden der Republik einfinden, um sich dem Luxusgut Recherche zu nähern. Denn sind wir auch ein wenig Stolz, hier beim NDR. Denn Sie wären nicht hier, würden Sie nicht zu recht vermuten, dass Recherche und klassisch guter Journalismus auch hier zuhause sind.

Dass dies aber Ihrer aller Thema ist, liegt sicher auch an der schwierigen wirtschaftlichen Situation bei den Print-Medien und in den privaten Sendern. Kann man sich die Wahrheit noch leisten? Lange genug recherchieren, richtig men- oder womenpower einsetzen, den Dingen und Sachverhalten auf die Spur zu kommen?

Kein ganz neues Thema, hat doch der im vergangenen Jahr verstorbene und oft zitierte Neil Postman beim Thema Wahrheit schon einiges pessimistische zur Papier gebracht:

„Das Fernsehen, so schreibt er, verändert die Bedeutung von Informiertsein, indem es eine neue Spielart von Information hervorbringt, die man richtiger als Desinformation bezeichnen sollte. Desinformation aber bedeutet irreführende Information- unangebrachte, irrelevante, bruchstückhafte oder oberflächliche Information, die vortäuscht, man wisse etwas während sie einen in Wirklichkeit vom Wissen weglockt.
Neil Postman kommt zu dem Schluss:„ ich will damit sagen, dass dies, wenn die Nachrichten als Unterhaltung präsentiert werden, das unvermeidliche Ergebnis ist….„

Das würde bedeuten, dass sich zwischen Fernsehen und so etwas wie Wahrheit kaum noch eine Brücke bauen lässt. Was wir hier alle vehement verneinen würden, das sehe ich doch richtig.? Aber: natürlich müssen wir uns nicht erst seit dem Debakel bei der BBC nach dem Irakkrieg und dem Selbstmord des Waffenkontrolleurs Kelly fragen: wie halten wir es wirklich mit der Wahrheit? Denn die Affäre in Großbritannien wurde ausgelöst durch einen nicht in jeder Hinsicht wahrhaftigen Bericht eines Reporters. Wie es ausging wissen Sie: der Reporter musste gehen, die BBC-Spitze auch, ein Lord leitete einen Untersuchungsausschuss zur Frage: ob hier ein Parlamentsbericht aufgebläht worden sei, to sexy it up, heißt es seitdem, wenn an der Wahrheit vorbei geschrieben wird. Und der Premierminister Tony Blair kam mit mehr als einem blauen Auge, nein mit einem fast weißen Hemd davon.

Was verführt einen Journalisten, eine Journalistin, nicht die Wahrheit zu schreiben, zu sagen, zu zeigen? Drei Gründe können es sein:

  • Die Medien wollen die Wahrheit nicht zeigen, weil die Realität ihnen zu grausam, zu brutal erscheint, weil die Bilder zu furchtbar sind.
  • Die Medien können die Wahrheit nicht zeigen, weil sie die Wahrheit nicht kennen- oder aber gezielt getäuscht werden.
  • Oder die Medien zeigen die Wahrheit nicht, obwohl sie es gekonnt hätten….

Was sind die Gründe, wenn die Wahrheit zuerst stirbt? Einen Satz , den wir immer zu Beginn von Kriegen und Krisen besonders oft lesen und hören.

  • Das Problem ist da zum Beispiel mangelndes handwerkliches Können.
  • Oder: fehlender Mut oder der klare Wille, die Unwahrheit zu beschreiben, auch das sollten wir hier nicht außen vor lassen
  • Oder: mangelnde Recherche, und darum geht es Ihnen, meine Damen und Herren, heute vor allem.

Über die wirtschaftlich schwierigen Zeiten berichten, schreiben Sie, wir alle fast täglich. Wir müssen allesamt sparen. Aber: Recherche kostet Geld. Und Zeit. Arbeitszeit von Journalistinnen und Journalisten. Die Anzeigenerlöse sinken dramatisch, es wir immer mehr gespart. Dies zeitigt Folgen. Für die „Wahrhaftigkeit„.
Ich spreche hier jetzt über Tendenzen, nicht über schwarz und weiß sondern über eine Grauzone.

  1. Interviews sind billiger zu produzieren, als aufwändige Beiträge. Sie kosten oft nur einen Telefonanruf. Bei chronisch unterfinanzierten Programmen also eine beliebte Art Programm zu machen. Diese O-Töne füllen dann auch leicht die Nachrichten. Die Prüfung ihrer Relevanz allerdings bleibt häufig aus. Die Folge sind Worthülsen, gestanzte Sprache und Debatten in ausgetretenen Pfaden. Vom wahrhaftigen Bild der Realität weit entfernt. Interviews sind schnell verfügbar, und leichter finanzierbar.
  2. Einige wenige Medien, die sich Recherche leisten können, dominieren die Themen in unserem Land. Andere, aus Mangel an selbst recherchierten Themen , springen auf. Ganze Kampagnen durchziehen das Land. Ich erinnere nur an die Flugmeilenaffäre. Dann die Debatte um die Beraterverträge der Bundesagentur für Arbeit, und nicht nur dort. Die Beraterverträge des Leo Kirch haben es bisher dagegen kaum über Spiegel und Panorama hinaus geschafft. Da fehlt wohl an einigen Stellen der Mut, oder der Wille den Finger drauf zu legen.

Dabei geht es nicht um das Versagen einzelner Journalistinnen und Journalisten. Wir wissen, dass sie stark abhängen von den sozialen Bezugsrahmen ihrer Redaktionen und den Erwartungen ihrer Arbeitgeber. In der Krise spürt man das dann ganz besonders. Wahrhaftigkeit ist damit nicht nur eine Frage individueller Moral. Wahrhaftigkeit ist auch eine Frage der Qualität diese Systems. Das bedeutet: ein Mediensystem muss sich Wahrhaftigkeit leisten.Wenn Neil Postman sagt: das Fernsehen fördere die Desinformation, dann erscheint dies in der aktuellen Krise in einem noch anderen Licht. Zeitungen entlassen zu Hunderten Journalisten, in vielen Landkreisen berichtet nur noch eine einzige Zeitung, ein Monopol – und die Bundesregierung denkt über eine Reform der Pressefusionsgesetze nach — die, so fürchten viele, weitere Konzentrationen nach sich ziehen könnte.
In solchen Zeiten ist es sicher nicht schlecht, wenn Magazine wie Panorama, Monitor oder Report heute mehr denn je zur „Wahrheitsfindung„ beitragen. Krisensicherer Journalismus muss also einen hohen Stellenwert besitzen in einer funktionierenden Demokratie.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, meine Damen und Herren.
Wenn sich ein Mediensystem „Wahrhaftigkeit„ leisten muss, dann hat dies natürlich auch etwas mit Finanzierung zu tun. In unserem Fall bei den öffentlich-rechtlichen mit der Rundfunkgebühr. Sie ist eben auch ein Garant für krisensicheren Journalismus, eine Qualitätssicherung für das gesamte System.

Lassen sie mich nochmals auf die Vorgänge um die britische BBC zurückkommen. Die übrigens Vorbild war für den Aufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland, ganz besonders hier im Norden bei der Gründung von „Radio Hamburg„ und später des NWDR.

Die Kelly-Affäre ist auch durch handwerkliche Fehler des BBC-Journalisten Andrew Gilligan verursacht worden. Am Ende hat jedoch sogar der Generaldirektor Greg Dyke seinen Hut nehmen müssen. Ihm waren weniger die Fehler seines Mitarbeiters vorgeworfen worden, sondern vor allem mangelnde Aufarbeitung nach der Eskalation des Skandals und Kellys Selbstmord.
Seinen Rücktritt aber nur auf diese Fragen allein zu reduzieren ist nicht die Wahrheit. Es ging und geht immer um mehr – um politischen Druck und um Abhängigkeiten. Aber es ging und geht auch um die Glaubwürdigkeit der BBC. Obwohl bis zum heutigen Tage die meisten Briten vor allem Tony Blair misstrauen und nicht der guten Tante Auntie The Beep…..

Ich denke, wir sind uns alle einig: Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit sind zentrale Unternehmenswerte für ein Medienhaus. Wir sehen das jedenfalls so für den NDR und für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland.

Wenn es nach den Umfragen geht, dann steht das ERSTE bei den Bürgern in diesem Lande auf Platz eins, in Punkto Glaubwürdigkeit. Und Wahrhaftigkeit.

Wir alle, davon bin ich überzeugt, fühlen uns diesen Werten verpflichtet. Ich wünsche Ihnen spannende Diskussionen und Gespräche.
Vielen Dank.