Grußwort von Thomas Krüger (2010)
Das Gewissen unserer Zeit – von Thomas Krüger
Grußwort beim Jahrestreffen des Netzwerk Recherche 2010: „Fakten für Fiktionen. Wenn Experten die Wirklichkeit dran glauben lassen“,
9./ 10.Juli 2010 in Hamburg
„Nichts ist mehr so, wie es einmal war“ – mit diesem geflügelten Wort beschreiben Menschen seit dem 11. September gelegentlich Zäsuren von weltpolitischem Ausmaß. Es ließe sich aber ebenso gut auf die mediensystemischen Verwerfungen anwenden, die wir aktuell erleben: Die Wirtschaftskrise hat offenkundig Spuren hinterlassen – und sie ist nicht vorüber, jedenfalls noch nicht ganz.
Die Zeiten ändern sich radikal, auch und vor allem im Journalismus. Und lassen Sie mich dazu eines gleich vorwegschicken: Die Revolution durch das Internet ist keine Schimäre – und sie war es auch nie. Sie ist plötzlich greifbar geworden, überaus konkret und nicht mehr so abstrakt wie noch vor einigen Jahren. Wir merken inzwischen stärker am eigenen Leib, wie uns diese Veränderungen im Alltag begegnen: am Arbeitsplatz, auf Reisen, im Supermarkt, in der Behörde, aber auch in der täglichen Kommunikation mit unseren Freunden. Das Netz ist also längst kein Nebenthema mehr, sondern es prägt jeden Bereich unseres Lebens – im Positiven wie im Negativen.
Das Internet hat unsere Gesellschaft inzwischen fest im Griff. Ob wir diesen nun als Würgegriff empfinden oder ihn uns als Griff einer Tür vorstellen, hinter der sich Welten mit unglaublichen Möglichkeiten verbergen, liegt wie so oft im Auge des Betrachters. Es hängt aber zu einem wesentlichen Teil auch davon ab, ob dieser Betrachter einen professionellen Bezug zum Internet hat oder nicht.
Der Journalismus gehört zu jenen Berufen, die von den Umwälzungen durch das Internet mit Abstand am Stärksten betroffen sind. Dass sich dieser Wandel zum jetzigen Zeitpunkt in erster Linie negativ auf die ökonomische Situation der Medien auswirkt, ist zum Teil sicher fremdverschuldet. Der ökonomische Negativtrend ist allerdings kein Naturgesetz, sondern auch eine Konsequenz der Unterlassungssünden von Verlagen und Medienunternehmen. Die Verleger und Medienunternehmen haben es versäumt, frühzeitig Bezahlmodelle für ihre Online-Inhalte zu etablieren, um damit eine eigenständige Online-Qualität ihrer Angebote zu sichern. Jetzt müssen die Journalisten plötzlich zusehen, wie sie sich in Zukunft gegenüber nicht-journalistischen Informations- und Unterhaltungsangeboten behaupten, und müssen sich arg verspätet damit befassen, wie sich der technologische Wandel insgesamt auf das mediale und damit unser politisches System auswirken könnte.
In meiner Wahrnehmung ist es ein Paradoxon, dass heute zwar gerne und viel von Medienkonvergenz geredet wird, aber dass das Verständnis darüber, was das konkret bedeutet und welche Regeln gelten, im Journalismus erst schwach ausgebildet ist. Das, was jahrzehntelang getrennt war, wächst im Internet zwangsläufig zusammen. Und weil sich Journalisten jahrzehntelang entweder mit Wort, mit Ton oder Bild beschäftigt haben, neigen sie häufig dazu, die Probleme des Journalismus nicht im Großen und Ganzen zu betrachten, sondern aus ihren jeweils unterschiedlichen Gattungen – ob Presse, Radio oder Fernsehen – heraus zu interpretieren. Im Netz aber vermischen sich die hergebrachten Medien und darin liegt auch eine immense Chance, den Journalismus weiterzuentwickeln.
Ich gehöre jedenfalls nicht zu denjenigen, die das Internet und diejenigen, die es nutzen, per se verteufeln. Die Hybris, die manche Journalisten an den Tag legen, wenn sie wahllos auf Blogger oder Kommentatoren schimpfen, ist nicht nur töricht, sondern auch gefährlich: Wer die Bedürfnisse der Nutzer und Leser nicht ernst nimmt, wird sie auf Dauer verlieren. Es ist ja kein Geheimnis mehr, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Produzenten und Konsumenten zugunsten der Letzteren verschiebt – und damit müssen Sie als Journalisten umgehen.
Der Siegeszug des Internets hat den Printjournalismus in eine Identitätskrise gestürzt – an der die Branche jedoch eine Mitschuld trägt. Denn ob das Internet nun gut oder schlecht für den Journalismus ist, hängt ja davon ab, ob und wie man es professionell einsetzt. Es kann aber, soviel ist sicher, durch seine spezifische Beschaffenheit im Vergleich zu anderen Medien, das Erscheinungsbild journalistischer Angebote und deren handwerkliche Qualität entscheidend aufwerten.
Es gibt natürlich auch die Kehrseite des Internet, die Sie alle aus Ihrer beruflichen Praxis kennen: Die subkutanen Einflüsse auf den Journalismus durch gesteuerte PR-Informationen häufen sich und gefährden die journalistische Integrität. Die zunehmende Verschmelzung von Informations- und Entertainment-Industrie bleibt auch für den Journalismus nicht folgenlos – mitunter sind diese beiden Ebenen kaum mehr trennscharf; und nichtsdestoweniger hat das Internet auch die Expertenkultur revolutioniert, indem immer häufiger Informationen von selbst ernannten Experten an die Adresse der so genannten „seriösen Medien“ gelangen und von dort ungeprüft weiter verbreitet werden.
Die Tagung des Netzwerk Recherche behandelt also ein hochsensibles, statisch aufgeladenes Reizthema, das alle genannten Problemzonen des Journalismus – von der Bequemlichkeit der Journalisten über die PR-Durchdringung bis hin zur Experteninflation – streift und über das nicht immer gerne gesprochen wird.
Sie kennen vielleicht noch die unrühmliche Anekdote über einen renommierten Politikwissenschaftler, der kurz nach dem 11. September 2001 von einem Praktikanten interviewt werden sollte: Der Praktikant, der für eine große deutsche Sendeanstalt arbeitete, wurde mit einem Kamerateam in das Büro des Politikwissenschaftlers geschickt, um einige O-Töne für einen Beitrag einzufangen. Die erste Frage des Praktikanten an den Politikwissenschaftler vor laufender Kamera lautete: „Ich bin nur der Praktikant des Senders. Haben Sie einen Vorschlag, was ich Sie fragen könnte?“ Der Politikwissenschaftler antwortete: „Was wollen Sie denn wissen, junger Mann?“ Der Praktikant entgegnete: „Ich habe keine Ahnung. Man hat mich hergeschickt, weil niemand sonst Zeit hatte.“
Diese Geschichte hat sich inzwischen bestimmt schon hundertfach in allen möglichen Nuancierungen wiederholt, vielleicht in mehr oder weniger drastischer Ausprägung. Nun war es in jenem Fall so, dass der Politikwissenschaftler auch wegen der Erfahrung mit seinen Studenten souverän mit der Situation umgegangen ist und der Praktikant schließlich doch mit guten O-Tönen zurück in die Redaktion kehren konnte. Ich hielte es aber für ein Signal höchster Alarmstufe, wenn heute noch auf diese Weise O-Töne im Hauptabendprogramm der großen Fernsehsender platziert werden könnten. Was wäre, wenn der Praktikant keinen Politikexperten interviewt hätte, sondern ein Mitglied von Al-Kaida oder einen Scientologen? Das hätte im einen wie im anderen Fall ganz böse ins Auge gehen können.
Ich will Ihnen noch eine andere kurze Begebenheit erzählen, diesmal aus der Presse: Ein bekannter Terrorexperte hat mir berichtet, er sei Ende 2005 von einer überregionalen Tageszeitung zu einem kurzen Interview zur Entführung von Susanne Osthoff im Irak gebeten worden. Damals ging bei einem Mitarbeiter der ARD in Bagdad eine Videobotschaft ein, in dem die Osthoff-Entführer von der Bundesregierung ein Ende der deutschen Unterstützung für den Irak forderten – mit einem Ultimatum von drei Tagen nach Ausstrahlung des Films im deutschen Fernsehen. Sie erinnern sich vielleicht, dass die ARD das Video damals nur als Standbild gezeigt hat, um sich nicht zum Mittäter des Geschehens machen zu lassen.
Der Terrorexperte erzählte mir jedenfalls, er sei vom stellvertretenden Chefredakteur der Tageszeitung angerufen worden, der ihn um ein kurzes Mail-Interview zu diesem Erpressungsversuch bat, das am Folgetag auf Seite eins als Beisteller zu einem größeren Aufmacher erscheinen solle. Der Experte hatte schon einige Statements zu ähnlichen Themen gegeben, daher betrachtete er die Anfrage als keine große Sache. Der stellvertretende Chefredakteur schickte ihm also einige Fragen per Mail, und der Terrorexperte beantwortete diese innerhalb kürzester Zeit. Nachdem er seine Mail abgeschickt hatte, erhielt er 10 Minuten später einen Anruf des Chefredakteurs der Zeitung, der ihn fragte, ob er denn die Sache wirklich so sehe wie beschrieben, denn man müsse doch das und das noch bedenken. Und ob er nicht etwas mehr zu den Umständen sagen könne, wie Terroristen die Medien eigentlich für ihre Zwecke benutzten. Der Experte sagte: „Nein, das sehe ich tatsächlich so, und wenn ich Ihnen noch mehr darüber erzähle, wie Terroristen Medien instrumentalisieren, besteht doch die Gefahr, dass es Nachahmungstäter gibt, und deshalb möchte ich das nicht.“ Der stellvertretende Chefredakteur gab sich aber mit der Antwort nicht zufrieden und insistierte: Wenn es bei der Aussage bliebe und er nicht mehr dazu sagen wolle, müsse er sich möglicherweise nach einem anderen Experten umschauen. Dem Terrorexperten wurde das nun allmählich zu bunt, und er sagte dem stellvertretenden Chefredakteur: „Wenn Sie wirklich in einem Interview Anleitungen für Terroristen abdrucken wollen, handeln sie grob fahrlässig und verantwortungslos. Außerdem werde ich Ihre Recherchemethoden publik machen und meine Kollegen warnen.“ Der stellvertretende Chefredakteur legte schweigend auf, das Interview erschien am nächsten Tag in der Originalfassung.
Dieses Beispiel hat es in sich. Es verdeutlicht zum einen, dass sich Journalisten hin und wieder die Realität zurechtbiegen, wenn sie ihnen nicht passt – und das nicht nur auf Ebene von Praktikanten, sondern offenbar an höchster Stelle. Das Ganze nennt man wohl Thesenjournalismus, wenn Redaktionen wild herumtelefonieren, um geeignete Statements einzusammeln, die die These eines Beitrags stützen oder widerlegen können. Zum anderen finde ich den beinahe aggressiven Ton, der hier angeschlagen wurde und die Drohung, das Interview nicht zu publizieren, wenn dessen Aussagen nicht geändert werden, alles andere als professionell. Es muss auf den Experten ja so wirken, als dürfe er seine Meinung nicht unabhängig äußern, weil er ansonsten damit rechnen muss, dass sie bei Widerworten gar nicht erst publiziert wird – obwohl er ja angefragt wurde. Ich glaube, es wird an diesem Beispiel klar, dass sich Experten auf gar keinen Fall zum Spielball journalistischer Interessen umfunktionieren lassen dürfen, weil sie sonst ihre Glaubwürdigkeit verlieren.
Mein drittes und letztes Beispiel ist kurz. Es geht um all die Verlockungen und Halbwahrheiten im Internet, die eine neue Recherchekultur haben entstehen lassen. Sie alle erinnern sich noch an die Geschichte um den „falschen Wilhelm“, den ein Scherzbold als elften Vornamen des ehemaligen Bundeswirtschafts- und heutigen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg frei erfunden und in die Enzyklopädie Wikipedia eingegeben hatte. Mich hat damals erstaunt, wie viele so genannte „seriöse Medien“ diesen elften Vornamen ungeprüft übernommen haben, ohne zusätzliche Quellen zu konsultieren.
Bei diesem Beispiel handelt es sich keineswegs um eine Bagatelle. Denn dieser Hoax, also eine Falschmeldung oder ein Irrläufer, der über das Internet gestreut wird, sollte uns zweierlei zu denken geben: Dass das Wissen der Massen gelegentlich überprüft werden muss, weil die Möglichkeiten zur Manipulation im Internet schier grenzenlos sind. Und dass es heute umso mehr glaubwürdige, professionelle Informationsquellen geben muss, denen ich als Nutzer vertrauen kann. Die Vielstimmigkeit im Netz ist zwar urdemokratisch und stellt grundsätzlich einen Mehrwert dar – aber im Falle von wichtigen Nachrichten gilt umso mehr die Devise „Viele Hobby-Köche verderben den Brei“.
Das Ernüchternde aber ist: Auch im Journalismus selbst wird manipuliert, und zwar jeden Tag und in fast jeder Redaktion. Es hat mich nicht überrascht zu hören, dass es in vielen deutschen Redaktionen „Giftlisten“ gibt mit Namen von Experten, die nicht zu Wort kommen dürfen, weil ihre Meinung nicht der Redaktionslinie entspricht oder der Chefredakteur sie persönlich nicht leiden kann. Während einige Experten für Ihre Auftritte etliche hundert Euro Honorar bekommen, können andere noch nicht einmal einen feuchten Händedruck erwarten für die Bereitschaft, dem Publikum Auskunft zu geben. Jedes Jahr werden hunderte von Expertengesprächen geführt, von denen viele nicht gedruckt oder gesendet werden, weil sie den Redaktionen später aus inhaltlichen Gründen nicht mehr in den Kram passen oder ein anderer O-Ton prägnanter war. Viele Experteninterviews werden so lange frisiert und zurechtgestutzt, bis vom ursprünglichen Gespräch nur noch ein entstellter Korpus übrig bleibt. Ich weiß, dass viele Reporter von den Redaktionen mit dem Auftrag vor die Tür geschickt werden, um Statements einzuholen, die eine bestimmte These stützen sollen. Ich habe gehört, dass es in vielen Fernseh-Talkshows B- und C-Listen für Experten gibt, die zur Sicherheit von den Redaktionen angefragt, aber gleich wieder ausgeladen werden, sobald ein A-Listen-Experte zugesagt hat. Und schließlich kommt es auch vor, dass Experten letztlich auch den platten technischen Widrigkeiten zum Opfer fallen, weil das Licht falsch gesetzt oder der Kopf nicht richtig angeschnitten war.
Ich kann nur mutmaßen, dass einige Journalisten solche Redaktionsgeheimnisse gar nicht mehr schockieren, weil viele von ihnen das in ihren Redaktionen genau so praktizieren. Das sollte es aber, denn es verdeutlicht, wie unredlich manche Medien zunehmend arbeiten. Es zeigt nicht nur, dass die Performance und Sprachgewalt in der Expertenauswahl wichtiger sind als Kompetenz und Reflexionsniveau, sondern auch, dass sich Journalisten mitunter die Wirklichkeit zum Untertan machen wollen. Und ich meine damit nicht unbedingt die einschlägigen Medien der Boulevardfraktion – nein, es geht auch und gerade um die so genannten Qualitätsmedien. In vielen Redaktionen rangiert Prominenz heute weit vor Kompetenz. Es ist ein bedenkliches Signal, wenn hier sogenannte “Gesichtsbekannte” – so der Journalisten-Jargon – Experten, Politiker und andere Akteure den Vorrang erhalten. Hier ist es Zeit zum Umdenken. Im Zentrum der Expertenauswahl muss künftig das nachgewiesene Erfahrungswissen, die abgeklärte Substanz und die Validität der jeweiligen Analysen stehen.
Worauf ich hinaus will: Ich finde es wichtig und richtig, dass sich das Netzwerk Recherche selbstkritisch dieses heißen Themas angenommen hat. Der Journalismus genießt nicht mehr das Vertrauen, das er einmal hatte, das er sich über viele Jahrzehnte hart erarbeitet hat. Sein Publikum hat ihm großen Glauben geschenkt, und dieser Verantwortung sollte er sich bei jeder Zeile und Sendeminute bewusst sein. Journalisten sollten sich nicht als „Hohepriester“ der Information aufspielen, wie es der Internet-Experte Jeff Jarvis neulich im Interview mit Focus Online ausdrückte. Sie sollten niemals Begebenheiten und Ereignisse nach ihren Vorstellungen formen, sondern berichten, was Sache ist. Und sie sollten niemals die Privilegien ihres Berufes missbrauchen, indem sie sich durch ihr Herrschaftswissen Vorteile erschleichen. Wenn Journalisten dies nicht beherzigen, laufen Sie Gefahr, das in sie gesetzte Vertrauen endgültig zu verspielen.
Der Journalismus sollte sich stattdessen auf seinen kulturgeschichtlichen Stellenwert, seine ureigenen Talente, Tugenden und Techniken zurückbesinnen: der Recherche, der unabhängigen Prüfung von Quellen, der Hartnäckigkeit, Politikern auf den Fersen zu bleiben und der Fähigkeit, den Bürgern unsere komplizierte Welt näherzubringen und die Mitglieder unserer Gesellschaft zu integrieren, vor allem aber der wahrheitsgetreuen Darstellung, Spiegelung und Kommentierung von Gewesenem, Aktuellem und Kommendem. Journalisten sollten das sein, was sie schon immer waren: das Gewissen unserer Zeit – eine Instanz, der wir unser Vertrauen schenken und in dessen Hand wir die öffentliche Kontrolle und Kritik der Mächtigen unseres Landes aus Politik, Wirtschaft und Kirche legen können. Wenn Sie als Journalisten das weiterhin schaffen, brauchen wir uns vor einer Krise der Expertenkultur nicht zu fürchten.