Neue For­mate erfolg­reich auf­bauen: Fünf Jour­na­lismus-​Tipps von Media­part-​Gründer Edwy Plenel

ver­öf­fent­licht von Greta Linde | 26. August 2022 | Lese­zeit ca. 8 Min.

Edy Plenel lächelt in die Kamera

Inhalt:

  1. Den Wert von Informationen verteidigen
  2. Eine starke, horizontale Beziehung
  3. Alle Themen im Prisma des öffentlichen Interesses betrachten
  4. Frust akzeptieren
  5. Sich stets selbst hinterfragen und Wissen teilen

1. Den Wert von Infor­ma­tionen ver­tei­digen

Als wir Media­part 2008 gegründet haben, hat nie­mand geglaubt, dass man Infor­ma­tionen im Internet kos­ten­pflichtig anbieten könnte. Alle haben gedacht, digi­tale Infor­ma­tionen müssten kos­tenlos sein. Dadurch dass Medi­en­häuser das akzep­tiert haben, haben sie gleich­zeitig akzep­tiert, dass der eigent­liche Wert von Infor­ma­tionen zer­stört wurde, zugunsten von Unter­hal­tung, die sich in Mei­nungen, kon­fron­ta­tivem Blabla, Pole­miken, Talk­shows und Stim­mungs­mache aus­drückt.

Wir glauben, dass Infor­ma­tionen Arbeit erfor­dern, und diese Arbeit hat einen Wert. Wir stehen dafür, dass unsere Infor­ma­tionen nütz­lich, glaub­haft, neu und unver­öf­fent­licht sind. Wir sind über­zeugt: Wenn unsere Leser:innen diesen Infor­ma­tionen und ihrer Unab­hän­gig­keit ver­trauen, können sie uns durch ein Abon­ne­ment unter­stützen. Für mich geht es im Jour­na­lismus von öffent­li­chem Inter­esse, dem Public Inte­rest Jour­na­lism, darum, Ver­trauen auf­zu­bauen und den Wert von Infor­ma­tion zu ver­tei­digen.

Infor­ma­tionen haben einen Wert und der muss durch ein Abon­ne­ment oder Spenden erhalten werden. Ich halte das für ein Modell, das auch in anderen Teilen der Welt anwendbar ist. In Afrika gibt es heute bei­spiels­weise die Mög­lich­keit, Zah­lungen direkt über die Han­dy­rech­nung laufen zu lassen. Ebenso kann ich mir Soli­da­ri­täts­abon­ne­ments vor­stellen. Viele kleine, lokale Radio­sender in Regio­nal­spra­chen nutzen solche Modelle.

Wir dürfen nicht auf­geben. Als wir vor über zehn Jahren in Frank­reich gestartet sind, hat nie­mand daran geglaubt, dass unser kos­ten­pflich­tiges Kon­zept funk­tio­nieren würde. Alle haben gesagt: „Plenel spinnt, das klappt nie, Infor­ma­tionen sind im Internet kos­tenlos.“ Heute sind wir ein voll ren­ta­bles Unter­nehmen mit einer höheren Ren­ta­bi­lität als andere fran­zö­si­sche Medien – und das ohne Wer­bung und ohne Sub­ven­tionen. Wir leben aus­schließ­lich von der Unter­stüt­zung unserer Abon­nent:innen. Diesen Weg gilt es zu gehen – ange­passt an lokale Gege­ben­heiten.

2. Eine starke, hori­zon­tale Bezie­hung zu Leser:innen auf­bauen

Unser Logo ist von einer Gravur aus dem 19. Jahr­hun­dert inspi­riert, die einen Zei­tungs­ver­käufer zeigt, der laut rufend durch die Straßen läuft, damit Leute seine Zei­tung kaufen. Wir als Online­me­dium wollten mit diesem Logo zeigen, dass es darum geht, diese Tra­di­tion zu ver­tei­digen. Und zwar mit allen Waffen, die die sozialen Netz­werke und die hori­zon­talen Ver­brei­tungs­wege der digi­talen Welt bieten. Wir müssen nach Abon­nent:innen und Unter­stützer:innen suchen, indem wir die Nach­richten „hin­aus­schreien“ und eine par­ti­zi­pa­tive Bezie­hung zur Öffent­lich­keit auf­bauen. Die digi­tale Revo­lu­tion bedeutet, dass wir nicht mehr über dieser Leser­schaft stehen und sie nicht mehr von oben herab betrachten. Wir stehen in einer deut­lich weniger ver­ti­kalen Ver­bin­dung zuein­ander – und die Leser:innen können uns infrage stellen.

Des­halb haben wir Media­part auf zwei Stand­beinen auf­ge­baut: Wir sind eine kos­ten­pflich­tige Zei­tung und ein par­ti­zi­pa­tiver Club, der frei zugäng­lich ist. Unter­stützer:innen von Media­part bieten wir eine Platt­form für ihr Enga­ge­ment, ihre Kämpfe, für Mel­dungen, zum Dis­ku­tieren und um die Zei­tung gewis­ser­maßen her­aus­zu­for­dern. Ich finde, dieser ori­gi­nelle Ansatz ist eine Stärke, die uns ermög­licht hat, unsere Leser:innen zu binden.

Für diese Art von Bin­dung braucht es aber spe­zi­fi­sche Jobs. Es reicht nicht, ein­fach Jour­na­lismus zu betreiben, um Leser:innen zu bekommen. Wir brau­chen Leute, die die Leser:innen binden, die sie auf­spüren, und die, wenn sie kün­digen, ver­stehen, warum. Wir müssen Mar­ke­ting machen, aber uns vor Augen führen, dass wir keine Kra­watten, Kühl­schränke oder Schuhe ver­kaufen. Wir ver­kaufen ganz beson­dere Güter, die der Demo­kratie und der öffent­li­chen Debatte dienen. Fra­gile, sel­tene und not­wen­dige Güter. Und das müssen wir immer wieder erklären, för­dern und ver­tei­digen.

Inzwi­schen beschäf­tigt unsere Zei­tung 120 Voll­zeit­mit­ar­beiter:innen, aber nur die Hälfte davon sind Jour­na­list:innen. Die anderen sind Infor­ma­tiker:innen oder in den Berei­chen Kom­mu­ni­ka­tion, Mar­ke­ting, Ver­wal­tung oder im Leser:innen­ser­vice tätig. Aber alle bewegen sich in der­selben Kultur einer Indus­trie des Inhalts: eines Inhalts, der einen beruf­li­chen und demo­kra­ti­schen Wert hat. Es ist eben dieser Inhalt, der ein unab­hän­giges Unter­nehmen her­vor­bringt, das in der Lage ist, Arbeits­plätze zu schaffen und Angriffen stand­zu­halten.

Das Logo von Mediapart; Piktogramm eines Zeitungsverkäufers, der Zeitungen feilbietet
Grafik: Mediapart // Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International Lizenz

3. Alle Themen im Prisma des öffent­li­chen Inter­esses betrachten

Da unser Publikum gewachsen ist, berichten wir nicht mehr aus­schließ­lich über Finanz-​ und Poli­tik­t­hemen wie zu Anfangs­zeiten. Wenn wir unsere Themen aus­wählen, gehen wir aus­schließ­lich nach dem öffent­li­chen Inter­esse. Wir berichten zum Bei­spiel nicht über Sport, aber wir haben für Foot­ball Leaks recher­chiert und auf­ge­zeigt, wie ein so beliebter Sport wie Fuß­ball durch Geld kor­rum­piert werden konnte. Wir haben den Anstoß für die fran­zö­si­sche #MeToo-​Bewe­gung in der Politik und in der Film­branche gegeben.

Demo­kra­tisch zu sein, heißt radikal zu sein, denn es bedeutet, die Wurzel dessen zu packen, was Demo­kratie ist, und für mich ist das eine Kultur, die in erster Linie auf Gleich­be­rech­ti­gung beruht. Wenn wir die Frage nach Gleich­be­rech­ti­gung ernst nehmen, wirft das die unter­schied­lichsten Fragen auf: die Frage nach Ungleich­heiten in sozialen Hier­ar­chien, Ungleich­heiten auf­grund von Her­kunft, Geschlecht, sexu­eller Iden­tität, Glauben oder Reli­gion. Für mich ist das öffent­liche Inter­esse die einzig gül­tige Agenda einer Zei­tung, die dieser Bezeich­nung würdig ist.

4. Frust akzep­tieren

Unser Job ist es, Sisy­phos und Kas­sandra gleich­zeitig zu sein. Wie können wir die Gesell­schaft vor­an­bringen? Nicht, indem wir sagen: Ich habe die Lösung für euch. Denn es liegt an der Gesell­schaft, eine Lösung zu finden. Unsere Arbeit besteht darin, die Gesell­schaft zum Nach­denken anzu­regen. Wie Lehrer:innen, die ihren Schüler:innen eine Haus­auf­gabe geben. Die Schüler:innen werden sich den Kopf zer­bre­chen und Fort­schritte machen, wäh­rend sie ver­su­chen, dieses Pro­blem zu lösen. Wir Jour­na­list:innen tun das­selbe: Wir legen das Pro­blem auf den Tisch. In dieser Hin­sicht sind wir wie Kas­sandra. Wir über­bringen schlechte Nach­richten. Aber diese schlechten Nach­richten ermög­li­chen es uns – wenn wir uns ihnen stellen – eine bes­sere Demo­kratie zu schaffen.

Hier ist Kas­sandra in der­selben Posi­tion wie Sisy­phos, der seinen Fels­block immer wieder den Hügel hin­auf­rollt, obwohl er ihm immer wieder ins Tal runter rollt. In dieser Hin­sicht sind wir oft etwas traurig und ent­täuscht. Ich zitiere einen Akti­visten aus Bur­kina Faso, der der Bewe­gung „Balai citoyen“ („Bür­ger­li­cher Besen“) ange­hört, deren Ent­hül­lungen das auto­ri­täre Regime des Prä­si­denten Blaise Compaoré gestürzt haben. Er hat mal zu mir gesagt: „Ihr Jour­na­list:innen scheucht die Hasen auf, aber ein­fangen muss sie die Gesell­schaft.“

Es freut uns sehr, wenn sich die Gesell­schaft an unseren Recher­chen bedient, um zu han­deln. Doch unser Han­deln ist begrenzt: Wir tun, was wir tun müssen, aber wir können nicht bestimmen, ob die Gesell­schaft für einen Wandel bereit ist oder nicht. Des­halb müssen wir manchmal eine gewisse Trau­rig­keit hin­nehmen und akzep­tieren, dass wir keine Seel­sorger:innen sind, son­dern Akteur:innen des demo­kra­ti­schen Lebens. Und das demo­kra­ti­sche Leben können wir nicht alleine bestimmen.

5. Sich stets selbst hin­ter­fragen und Wissen teilen

Wir leben in einer viru­lenten und gewalt­samen Zeit, einer Zeit des demo­kra­ti­schen Rück­schritts, in der poli­ti­sche und wirt­schaft­liche Inter­essen Unab­hän­gig­keit nicht unter­stützen. Wie können wir dieser Ent­wick­lung die Stirn bieten? Die Ant­wort ist: gemeinsam. Vor­sicht vor ein­samen Held:innen! Jour­na­list:innen sind keine ein­samen Held:innen und wenn sie dazu werden, laufen sie Gefahr, Held:innen ihrer eigenen Geschichte zu werden, die Fragen und Ant­worten selbst zu bestimmen und zu einer Art per­sön­li­cher Hybris werden – und sei es für die gute Sache.

Die ein­zige Garantie des Wider­stands ist kol­lek­tive Soli­da­rität: die Tat­sache, nicht alleine zu sein. Bei Media­part hat uns das stark gemacht. Bei Schwie­rig­keiten, Ver­un­glimp­fungen und Ver­leum­dungs­kam­pa­gnen han­deln wir nicht blind, wir dis­ku­tieren, wir reflek­tieren gemeinsam, wir hin­ter­fragen uns und über­legen, inwie­fern wir richtig oder falsch gehan­delt haben. Das haben wir bisher immer gemeinsam gemacht. Ich bin über­zeugt davon, dass wenn wir diesen ris­kanten Beruf mit seinen Recher­chen und Ent­hül­lungen aus­üben, sollte die erste Person, die einem hilft, die Person sein, die gegen­liest, was man schreibt, und das sind die Kolleg:innen. Es ist die kol­lek­tive Veri­fi­zie­rung, die einen schützt.

Bei Media­part haben wir redak­tio­nelle Pro­zesse, was das Gegen­lesen durch Kolleg:innen und Per­sonen anbe­langt, die die Arbeit auf höherer Ebene frei­geben, und wir haben Redak­teur:innen, die an der Ver­ständ­lich­keit und Zugäng­lich­keit der Texte arbeiten. Seit der Ver­öf­fent­li­chung unserer Recher­che­er­geb­nisse, die das fran­zö­si­sche #MeToo aus­ge­löst haben, führen wir zweimal jähr­lich interne Wei­ter­bil­dungen zu Themen wie Pres­se­recht, sexu­eller Beläs­ti­gung oder Gewalt durch. Eine Zei­tung muss das sein, was sie behauptet, im Inneren zu sein. Und das bedeutet kon­ti­nu­ier­liche Wei­ter­bil­dung. Einer der schönen Aspekte dieses Jobs ist es, dass wir per­ma­nente Auto­di­dakt:innen sind. Im Jour­na­lismus muss man immer weiter lernen, man kann nicht irgend­wann sagen: „So, jetzt weiß ich alles.“ Wir müssen immer weiter lernen.

Das Gespräch führte die fran­zö­si­sche GIJN-​Redak­teurin Marthe Rubio.

Das Inter­view wurde über­setzt von Tanja Felder. Redak­tion: Greta Linde.
Der Text wurde im Ori­ginal auf Fra­zö­sisch bei GIJN unter den GIJN Crea­tive Com­mons Richt­li­nien publi­ziert und auch auf Eng­lisch ver­fügbar.

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