Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

als im vergangenen Sommer die Zahl der Fluechtlinge massiv zunahm und pro Tag mehrere Tausend Menschen ueber die Grenzen in Bayern kamen, stieg auch die Zahl der Leserbriefe, die Redaktionen von Tageszeitungen, Magazinen und Sendern erreichten. Die Schreiber warnten vor dramatischen Folgen einer massenhaften Einwanderung, der angeblichen Verantwortungslosigkeit Angela Merkels und kaum loesbaren Problemen mit den Neuankoemmlingen. Eine ganze Reihe dieser Briefe war unertraeglich im Ton. Der Vorwurf, den sie an uns, die Journalisten richteten, war es, dass wir diese Probleme verschweigen wuerden, oft tauchte das Wort Luegenpresse auf. Viele dieser Schreiber unterstellten, wir waeren ein PR-Kartell, dessen Ziel es sei, die Politik der Kanzlerin medial zu flankieren. Diese Briefe kamen offensichtlich nicht nur von Pegida-Freunden, sondern auch aus dem buergerlichen Leser- und Zuschauermilieu, immer wieder erreichten mich Briefe mit der Frage, warum wir Straftaten von Fluechtlingen verschweigen wuerden. Vielleicht noch besorgniserregender: Auch die andere Seite glaubte dies. In Hintergrundgespraechen lobten hohe Repraesentanten des Staates, wie verantwortungsbewusst es doch sei, dass Medien Straftaten ignorierten, bei denen Fluechtlinge als Vergewaltiger oder Gewalttaeter aufgefallen waren. Umfragen bestaetigen, dass ein erheblicher Teil unserer Leser das Vertrauen in unsere Objektivitaet verloren hat.

Diese Kritik trifft auf eine verunsicherte Branche, wirtschaftlich in der Krise, aber auch mit einer historischen Fluechtlingsbewegung konfrontiert.

Mir ist kein Fall bekannt, in dem es eine Verordnung einer Polizeidienststelle oder eines Innenministeriums gegeben haette, Straftaten von Asylbewerbern zu verschweigen, wie Leser und Zuschauer immer wieder mutmassen. Was es gibt, sind Erlasse aus den Innenministerien der Laender, etwa in Nordrhein-Westfalen, in denen Polizeibehoerden angehalten werden, Begrifflichkeiten zu vermeiden, “die von Dritten zur Abwertung von Menschen missbraucht” werden koennten. Die Herkunft solle nur dann genannt werden, wenn ein “ueberwiegendes Informationsinteresse oder Fahndungsinteresse” vorliege.
Und es gibt den Pressekodex: Er verlangt, “Zugehoerigkeit der Verdaechtigen oder Taeter zu religioesen, ethnischen oder anderen Minderheiten” nur dann zu erwaehnen, “wenn fuer das Verstaendnis des berichteten Vorgangs ein begruendbarer Sachbezug besteht”. Ansonsten, so steht es im naechsten Satz, koennten die Journalisten Vorurteile schueren. Redakteure muessen entscheiden, ob es einen “begruendbaren Sachbezug” gibt oder nicht. Das Gerede vom Schweigekartell ist Quatsch, aber es ist trotzdem richtig, zu hinterfragen, ob wir manche negative Nachricht im Zusammenhang des Fluechtlingsthemas als unwichtig verworfen haben. Und es beginnt eine Diskussion darueber, wie dieser Kodex angemessen auszulegen ist.

Warum hat es nach der Silvesternacht von Koeln so lange gedauert, bis das Thema in den ueberregionalen Medien ankam? Weil in den Redaktionen Skepsis ueberwog, ob sich die Ereignisse tatsaechlich so zugetragen hatten, wie die Polizei, ebenfalls verspaetet, bekanntgab? Oder haben die Redaktionen, im Bewusstsein, was diese Nachrichten ausloesen wuerden, erst die Fakten bestmoeglich ueberpruefen wollen? Sicher ist, dass dieses Zoegern Medienkritikern neue Argumente geliefert hat. Wir duerfen uns nicht treiben lassen von einer Kritik, die diffamieren will, die als politische Waffe genutzt wird. Wir sollten uns aber beschaeftigen mit einer Kritik, die sich mit unserer Arbeit ernsthaft auseinandersetzt.

Bei der Berichterstattung ueber Fluechtlinge koennen wir Journalisten negative Seiten der Zuwanderung nicht ausklammern, wir muessen in einem angemessenen und einordnenden Ton berichten. Wir muessen abwaegen, oft unter Zeitdruck. Wir koennen unsere Leser und Zuschauer nicht bevormunden, wir koennen aber darauf hinwirken, dass Ereignisse wie die von Koeln nicht ueberinterpretiert und etwa zum Sinnbild einer gescheiterten Fluechtlingspolitik erklaert werden. Das ist keine leichte Aufgabe.

Dass wir unser eigenes Verhalten immer wieder ueberpruefen und bereit sein muessen, uns Kritik zu stellen, ist auch das Thema der naechsten Fachtagung von Netzwerk Recherche vom 11. bis 13. Maerz in Tutzing am Starnberger See. Dort geht es darum, was passiert, wenn Journalisten manchmal, im Strudel tatsaechlich oder vermeintlich spektakulaerer Ereignisse bei der Recherche Grenzen ueberschreiten. Aber auch darum, wo diese Grenzen liegen und wie es sich fuer die Betroffenen anfuehlen kann, Gegenstand einer solchen Recherche zu sein. Die Tagung steht unter dem Motto “Im Visier der Meute. Journalistische Recherche zwischen Fairness und Exzess”. Ihr Kommen zugesagt haben Michael Schumachers Managerin Sabine Kehm, der ehemalige Kanzlerkandidat Peer Steinbrueck, die Vorsitzende des Aktionsbuendnisses Amoklauf Winnenden, Gisela Mayer, und der Wettermoderator Joerg Kachelmann.

Wir erwarten spannende Diskussionen in Tutzing
und gruessen Sie,

Cordula Meyer,
Albrecht Ude

## Inhaltsverzeichnis.

01: Editorial

Abschnitt Eins: In Eigener Sache
02: nr-Fachkonferenz “Im Visier der Meute. Journalistische Recherche zwischen Fairness und Exzess”
03: nr-Stammtisch Berlin mit Jens Weinreich

Abschnitt Zwei: Veranstaltungen
04: Surveillance Studies Preis fuer kritische FAZ-Feuilletons ueber Google und Big Data
05: Ausschreibung Reportagepreis 2016: Osteuropa in Text, Ton und Bild
06: Lesen gegen Ueberwachung
07: Ueberwachungsprojekt elektronische Gesundheitskarte
08: Leipziger Medienpreis – Nominierungsfrist bis 29. Februar 2016
09: SUMA-Kongress 2016: “Die Offene Web-Gesellschaft 4.0”
10: Logan CIJ Symposium in Berlin
11: Schweizer Investigativjournalisten vergeben “Goldenen Bremsklotz”

Abschnitt Drei: Nachrichten
12: Bilder gegen Buergeraengste : Weniger Angst haben – mehr Wissen
13: Kleine Anfragen digital
14: Rechtsextreme gegen Journalisten: Blog-Projekt Augenzeugen.info
15: Werkstattgespraech “Gekaufte Aerzte”
16: Studie der OBS ueber Vertrauenskrise der Medien

Abschnitt Vier: Seminare, Stipendien, Preise
17: Journalist in Residence Fellowship 2016 des WZB
18: Stipendien des Deutsch-Franzoesischen Jugendwerks
19: GO SAFE! – Journalistentraining
20: Zwei Monate Gastaufenthalte in einer Redaktion in den USA oder Kanada bzw. im suedlichen Afrika
21: Theodor-Wolff-Preis
22: Jetzt bewerben fuer Arbeitsstipendien vom Journalismfund.eu
23: Grimme-Online-Preis: Nominierungen erbeten
24: Praxisseminar Investigative Recherche
25: Knight International Journalism Fellowship – Bewerbungszeit das ganze Jahr ueber
26: Seminare mit Recherchebezug

Abschnitt Fuenf: Pressespiegel
27: Journalismus
28: Journalismus und PR
29: Informationsfreiheit
30: Ueberwachung

31: Link-Index
32: Technische Hinweise
33: Impressum

Nr. 133 vom 25.01.2016 [TXT]