Newsletter Netzwerk Recherche 239 vom 25.11.2024
Liebe Kolleg:innen,
als ich mich 2013 als Berufseinsteigerin auf Twitter anmeldete, öffnete sich für mich eine neue Welt. Um es mit Robert Habeck zu sagen: Twitter war für mich ein Küchentisch, an dem ich (meist still) saß und politischen Debatten lauschte, interessante Menschen identifizierte und Anstöße für Recherchen bekam und nicht zuletzt: Quellen auftat. Irgendwann wurde die Plattform dann vom Küchentisch zum Stammtisch. Ich verbringe dort kaum noch Zeit, mein ohnehin nicht besonders reichweitenstarker Account dümpelt dahin, dient mir selbst nur noch als eine Art Archiv, in das ich manchmal wehmütig hineinschaue. Aber reicht das? Sollte man der Plattform nicht ganz den Rücken kehren?
Correctiv hat’s längst getan, der Guardian nach der US-Präsidentschaftswahl. Dieser lässt keinen Zweifel mehr daran, „dass X eine toxische Plattform ist und ihr Besitzer, Elon Musk, deren Einfluss nutzt um politische Diskurse zu gestalten“, hieß es in der knappen Email des Guardians an seine Leser:innen Mitte November.
Wenige Tage später dann haben einige prominente österreichische Kolleg:innen so etwas wie den Austro-X-odus eingeleitet. Falter-Chefredakteur Florian Klenk und ORF-Moderator Armin Wolf (die es zusammen auf etwa eine Million Follower bringen) zum Beispiel, haben ihre Accounts stillgelegt.
Auch in vielen Redaktionen in Deutschland wird aktuell darüber nachgedacht, wie man es mit X halten soll. Unsere geschätzte Geschäftsstelle hat den Account von Netzwerk Recherche jetzt übrigens auch „inaktiv“ gestellt. Der Grund: Kaum noch Interaktion, das Team will sich jetzt auf Instagram und LinkedIn beschränken, wo NR viele Journalist:innen erreicht.
Aber darf man sich einfach so zurückziehen und den Stammtisch den „Propaganda-Bots, Neonazis, Rassisten, Sexisten, Incels, Verschwörungsparanoiker, Fake News und Bullies“ überlassen, wie Armin Wolf schreibt? Oder sollte man nicht gerade da dagegenhalten und faktengecheckten Qualitätsjournalismus anbieten für diejenigen, die diesen dort noch suchen?
Meinem Eindruck nach ist das auch eine Kapazitätenfrage, bei der man sich ehrlich machen sollte: Können Redaktionen den lauten Stimmen überhaupt noch begegnen, Kommentare verantwortlich moderieren, wenn die Plattform es nicht mehr tut?
Nilay Patel, Chefredakteur von „The Verge“, liefert noch einen anderen Grund. In einem Interview sagte er kürzlich: „Warum würde jemand umsonst für Elon Musk arbeiten?“ Dieser habe deutlich mehr davon, als die Redaktionen. Sein Appell: „Verlasst den Scheiß, es ist sowieso alles fake.“
Ich selbst habe noch keine Alternativen ausprobiert, aber Kolleg:innen berichten, auf Bluesky sei jetzt deutlich mehr los. Vielleicht ist das der neue Küchentisch. Mir persönlich gefällt es allerdings auch gut im Lesesessel am Kamin. Ich habe seither jedenfalls mehr Zeit für Bücher.
Eure
Lena Kampf
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