News­letter Netz­werk Recherche, Nr. 151, 18.07.2017

ver­öf­fent­licht von Netz­werk Recherche | 18. Juli 2017 | Lese­zeit ca. 5 Min.

Liebe Kol­le­ginnen, liebe Kol­legen,

der Gipfel in Ham­burg ist vorbei – end­lich!
Die poli­ti­sche und juris­ti­sche Auf­ar­bei­tung des Desas­ters beginnt – hof­fent­lich!

Es liegt auch an uns Jour­na­listen, dass dieses Thema auf der Agenda bleibt und nicht im Som­mer­loch ver­schwindet oder von den ver­ant­wort­li­chen Poli­ti­kern in Ham­burg und Berlin durch Nichtstun oder gegen­sei­tigen Ver­trau­ens­be­kun­dungen „beer­digt“ wird. Zu viel ist pas­siert, zu viele Fragen sind laengst nicht beant­wortet, manche noch nicht einmal gestellt. Also, liebe Kol­le­ginnen und Kol­legen – dran­bleiben!

„Lieber Olaf, wir muessen reden“. Dieses Trans­pa­rent auf einem Balkon in der Ham­burger Schanze kennt mitt­ler­weile jeder. Aber Rede­be­darf sollte es auch bei und unter uns geben. Denn da ist auch vieles pas­siert, was dis­ku­tiert werden muss.

Dass viele Medien gegen den ploetz­li­chen Entzug der Gipfel-​Akkre­di­tie­rung fuer 32 Kol­legen pro­tes­tieren – das ist gut. Dass man sich mit den eher hilf­losen und ver­ne­belnden Erkla­e­rungen des Bun­des­pres­se­amtes nicht abspeisen laesst, auch das ist voellig richtig. Aller­dings sollten wir vor einem end­guel­tigen Urteil ver­su­chen, wei­tere Hin­ter­gru­ende zu recher­chieren, Wider­spru­eche auf­zu­de­cken, die Ver­ant­wort­li­chen mit boh­renden Nach­fragen unter Druck zu setzen. Soli­da­ri­taet ja, aber bitte keine vor­schnellen Urteile. Unsere Empoe­rung ersetzt keine Recherche.

Aus­re­cher­chiert und jedem bekannt ist die Tat­sache, dass die BILD glaubt, sich sowohl als Fahnder als auch als Ankla­eger und oben­drein noch als Richter insze­nieren zu duerfen. Unter der grellen Schlag­zeile „Gesucht“ fragt BILD auf seiner Titel­seite „Wer kennt diese G20-​Ver­bre­cher?“. Und lie­fert die ent­spre­chenden „Ver­bre­cher-​Fotos“ aus der Kra­wall­nacht – unver­pi­xelt, klar erkennbar. Per­so­en­lich­keits­rechte oder Pres­se­kodex, das Gebot der Zuru­eck­hal­tung oder gar der Unschulds­ver­mu­tung – das inter­es­siert hier offenbar nie­manden. Aber genau diese Prin­zi­pien und Gesetze gehoeren zu einem Rechts­staat, der doch (angeb­lich) ver­tei­digt werden soll. Natu­er­lich faellt es man­chen schwer, ange­sichts der Vor­kommm­nisse jener Nacht diese Errun­gen­schaften der Zivi­li­sa­tion hoch­zu­halten, haben manche Ver­staendnis fuer diesen bil­ligen Popu­lismus von BILD – aber wer die Pres­se­frei­heit schuetzen moechte, muss sich gegen deren Miss­brauch zur Wehr setzen. Medien duerfen nicht alles tun, was Auf­merk­sam­keit, hohe Auf­lagen und Klick­zahlen ver­spricht. Es waere das Ende des serioesen Jour­na­lismus. BILD ist das offenbar egal. Wir aber sollten uns (auch) daru­eber empoeren!

Wir duerfen auch nicht akzep­tieren, dass soge­nannte Kol­legen Fotos von Jour­na­listen ueber Twitter und die anderen sozialen Medien mit der Behaup­tung ver­breiten, diese seien aus dem rechten Lager. Wer rund um die Ham­burger Tage erleben musste, wie diese Kol­legen von selbst­er­nannten Gesin­nungs­ak­ti­visten atta­ckiert wurden – die Fotos der angeb­li­chen Rechten vor sich auf dem Handy – der kann nur empoert sein. Die Videos sind im Netz ein­sehbar – und sagen alles.

Wir Jour­na­listen sollten berichten, recher­chieren, kom­men­tieren – aber wir sollten keine Treib­jagd auf even­tuell miss­lie­bige Kol­legen insze­nieren. Viele von uns haben sich zu Recht empoert, als Rechts­ra­di­kale Fotos und Adressen von (angeb­lich) linken Jour­na­listen ins Netz stellten und zur Jagd auf­for­derten. Wir sollten es nicht zulassen, dass ein­zelne von uns sich auf deren Niveau begeben.

Wir sollten auch daru­eber reden, ob es richtig ist, dass mitt­ler­weile nahezu jeder von obskuren Orga­ni­sa­tionen einen Pres­se­aus­weis erhaelt, um damit die damit ver­bun­denen Pri­vi­le­gien zu anderen Zwe­cken zu nutzen, als eigent­lich vor­ge­sehen. Ein schwie­riges Thema, ganz sicher. Aber wer vor Ort in Ham­burg manche Inhaber dieser Aus­weise erleben musste, wie sie zu Akti­visten wurden, wie sie Poli­zisten – immer den Aus­weis hoch­hal­tend – pro­vo­zierten, der muss zwar nicht sofort Ver­staendnis fuer jene Ord­nungs­kraefte ent­wi­ckeln, die sich teil­weise rueck­sichtslos gege­nu­eber Medien ver­hielten, die ihre Ver­ach­tung fuer Jour­na­listen laut­stark arti­ku­lierten. Aber wir alle sollten uns nicht nur ueber gele­gent­lich allzu aggres­sive Poli­zisten empoeren, son­dern auch ueber manche Inhaber von Pres­se­aus­weisen. Sie sind es, die all die anderen dis­kre­di­tieren, denen ein serioeser Jour­na­lismus wichtig ist. Die sich daru­eber im klaren sind, dass zu den Vor­teilen eines Pres­se­aus­weises auch bestimmte Ver­pflich­tungen gehoeren.

Und noch etwas, damit alle Bescheid wissen: Ent­gegen man­cher Berichte (online und auch in man­chen Sen­dern) gab es keinen Ein­satz der Bun­des­wehr in Ham­burg. Es wurden auch keine Kran­kenhae­user wegen Atta­cken von Ver­mummten eva­ku­iert. Und, und, und …

Ja, liebe Kol­legen, wir sollten reden. Nicht nur mit Olaf. Son­dern auch ueber unsere Branche, ueber die Arbeit man­cher unserer Kol­legen, ueber ihr Ver­staendnis von Jour­na­lismus. Auch wenn es nicht immer ein­fach ist. Inso­fern sind all die Ereig­nisse und Erleb­nisse in Ham­burg ein sehr guter Grund, damit anzu­fangen. Trans­pa­renz und offene Worte sind fuer unsere Glaub­wu­er­dig­keit allemal besser als immer nur weg­sehen und schweigen.

Noch etwas zum Schluss: Deniz Yuecel und viele seiner Kol­legen sitzen immer noch im Knast. Auch hier gilt: Dran­bleiben. Weiter pro­tes­tieren. Nicht zur Tages­ord­nung ueber­gehen. Oder ein­fach im Som­mer­loch ver­schwinden.

Es gru­essen
Kuno Haber­busch
Albrecht Ude

## Inhalts­ver­zeichnis.

01: Edi­to­rial

Abschnitt Eins: In Eigener Sache
02: G20-​Akkre­di­tie­rungen: Stel­lung­nahmen von BKA und Bun­des­pres­seamt sind unzu­rei­chend und stig­ma­ti­sie­rend
03: Sti­pen­dium abge­schlossen: Die Aale sind im Netz
04: Grow – Sti­pen­dien fuer Gru­ender im Non-​Profit-​Jour­na­lismus

Abschnitt Zwei: Ver­an­stal­tungen
05: Algo­rithm­Watch bittet um Daten­spenden
06: Online-​Umfrage zum Umwelt­in­for­ma­ti­ons­ge­setz
07: Vierte „Das ist Netz­po­litik!“-​Kon­fe­renz
08: „Wem kann ich trauen im Netz und warum?“ Jah­res­kon­fe­renz FifF

Abschnitt Drei: Nach­richten
09: 500 Mio. E-​Mail-​Adressen und Pass­wo­erter gehackt
10: Infor­ma­ti­ons­frei­heits­ge­setz: Bun­des­re­gie­rung will Ver­baende-​Stel­lung­nahmen aus Gesetz­ge­bungs­ver­fahren ver­o­ef­fent­li­chen
11: Reu­ters Digital News Report 2017
12: Doku­men­tar­filmer for­dern mehr Geld und mehr Sen­de­pla­etze
13: Jah­res­be­richt der Digital News Initia­tive
14: Goo­gles Geld fuer euro­pa­ei­schen Web­index
15: Zwei Stu­dien der OBS zur AfD
16: Neues Buch ueber sen­sible Recher­chen zum Gratis-​Down­load
17: Info­portal Ritu­elle Gewalt

Abschnitt Vier: Semi­nare, Sti­pen­dien, Preise
18: Work­shop fuer EU-​Jour­na­listen: Berichten ueber­Mi­gra­tion und Fluecht­linge
19: „Repor­ters in the Field“ Sti­pen­dien
20: Tutzinger Jour­na­lis­ten­aka­demie: Wie Technik den Jour­na­lismus ver­aen­dert
21: Semi­nare mit Recher­che­bezug

Abschnitt Fuenf: Pres­se­spiegel
22: Emp­feh­lung [d. Red.]
23: G20
24: Jour­na­lismus
25: Infor­ma­ti­ons­frei­heit
26: „Fake News“
27: Ueber­wa­chung

28: Link-​Index
29: Tech­ni­sche Hin­weise
30: Impressum

Nr. 151 vom 18.07.2017

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