„Politische Effekthascherei und eklatante Recherchedefizite“
Erste empirische Studie zum Berliner Hauptstadtjournalismus
Netzwerk Recherche: „Studie mahnt erheblichen journalistischen Reformbedarf an.“
Wiesbaden/ Berlin – Die politische Kommunikation und die Recherchebedingungen in Berlin haben sich unter dem enormen Berichterstattungstempo, dem Zwang zur Exklusivität und neuen Kommunikationsmitteln wie SMS und Video-Podcasts von Politikern gravierend verändert. Zu diesem Befund kommt die erste empirische Studie über den aktuellen Zustand des Hauptstadtjournalismus, die die Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche e. V. heute veröffentlicht. Unter dem Titel „Journalismus in der Berliner Republik – Wer prägt die politische Agenda in der Bundeshauptstadt“ legen die beiden Autoren, der Medienforscher Leif Kramp und der Kommunikationswissenschaftler Dr. Stephan Weichert vom Berliner Institut für Medien und Kommunikationspolitik, zentrale Mängel der Politikberichterstattung offen. Im Fokus der 33 Expertengespräche mit Büroleitern und leitenden Korrespondenten der wichtigsten Medien, politischen Sprechern, Beratern, Lobbyisten stehen vor allem die Wechselwirkungen zwischen medialer und politischer Macht sowie deren Eigendynamik unter den extremen Arbeitsbedingungen der Berliner Republik.
„Unsere empirischen Ergebnisse bestätigen, dass besonders das politische Agenda Setting von hohen Verfallsraten und schnelllebigen Themenkarrieren geprägt ist“, erklärt Dr. Stephan Weichert. Nach wie vor seien zwar noch gedruckte und elektronische Qualitätsmedien wie FAZ, Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel, Tagesschau oder Deutschlandfunk zuverlässige Leitmedien im politischen Tagesgeschäft, an denen sich auch die Konkurrenz orientiere. Jedoch mache die qualitative Befragung deutlich, dass journalistische Online-Angebote und Boulevardpresse immer stärker den Medientakt in der Hauptstadt vorgeben: „Während vor allem Spiegel Online von der stündlichen Weiterdrehe im Nachrichtengeschäft profitiert und allmählich
sogar die Agenturen verdrängt, treibt Bild die Effekthascherei des politischen Betriebs voran – zum großen Leidwesen vieler seriöser Hauptstadtjournalisten“, sagt Weichert.
Ein überraschender Befund der Studie ist auch, dass die Parlamentsberichterstattung durch neue
Kommunikationsformen beschleunigt und zugleich unterminiert wird: „Der rege SMS-Verkehr zwischen Politikern und Journalisten verändert die Reaktionsbereitschaft der Hauptstadtmedien immens – das erhöht zusätzlich den Druck“, sagt Leif Kramp. Auch der im Juni 2006 gestartete Video-Podcast von Bundeskanzlerin Angela Merkel verdeutlicht, wie sich politische Sphäre und Mediensystem zunehmend überlagern: „Solche von Parteien und Regierungen lancierten Botschaften im Internet untergraben nach Meinung der Befragten die Gatekeeper-Funktion des Journalismus“, so Kramp.
Unter Berliner Bedingungen, so ein weiteres ernüchterndes Ergebnis der Untersuchung, kommen zudem intensive und nachhaltige Recherchen zu kurz – was einerseits an dem beinahe freundschaftlichen Kontakt mit den Mitarbeitern der Pressestellen von Bundesregierung, Ministerien und Parteien liegt, andererseits auch dem Mangel an redaktionellen und finanziellen Ressourcen in den Redaktionen geschuldet ist. Einen hohen Stellenwert in der informellen Recherche nehmen dagegen Hintergrundkreise ein, die viele Befragte wegen der zunehmenden Unübersichtlichkeit bei der Informationsbeschaffung für unverzichtbar halten.
Besonders für die meisten der auflagen- und quotenschwachen (Regional-)Medien ergeben sich bei der Recherche jedoch erhebliche Zugangsprobleme: Sie sind nicht nur in den Hintergrundkreisen unterrepräsentiert, sondern werden auch bei Exklusivinterviews mit Politikern oder auf Kanzlerreisen benachteiligt. Auch wenn nur schwer auszumachen ist, wer für solche eklatanten Missstände verantwortlich ist, lassen die Analyseergebnisse darauf schließen, dass ökonomische, medienpolitische und individuell motivierte Einflüsse eine immer größere Rolle spielen.
„Die Studie ist das argumentative Fundament für eine längst überfällige Diskussion über das gespannte Wechselverhältnis von Politik und Medien. Die ungewöhnlich selbstkritischen Analysen führender Journalisten sind das Startsignal für eine Verbesserung der Qualitätsstandards und eine Reduktion der dokumentierten Defizite“, sagte der Vorsitzende von Netzwerk Recherche, Dr. Thomas Leif, bei der Vorstellung der Studie am Donnerstag in Wiesbaden. Auf der NR-Jahreskonferenz am kommenden Wochenende in Hamburg stehen alle Themen der „Hauptstadtstudie“ auf der Tagesordnung.
Zentrale Ergebnisse
Die Schwerpunkte der Studie – Selbstverständnis, Agenda Setting, Politische Kommunikation und
Recherche-Netzwerke – dokumentieren insgesamt einen Korrekturbedarf im Hauptstadtjournalismus, auf den sich auch die praktischen Handlungsempfehlungen stützen. Die teilweise alarmierenden Mängel und deren Auswirkungen auf die politische Kommunikation setzen an folgenden Kritikpunkten an:
- Die Befragten lassen eine grundsätzliche kritische, in Teilen auch selbstkritische Haltung zur Arbeitssituation in der Hauptstadt erkennen – ohne konkrete Verbesserungsideen und -ansätze im eigenen Berufsalltag präsentieren zu können.
- Die Hauptstadtjournalisten fordern einerseits mehr Selbstreflexion und medienjournalistische Berichterstattung, sind selbst aber nicht bereit oder fähig, die notwendigen Freiräume dafür zu schaffen, obwohl sie in den geeigneten Führungspositionen innerhalb der Redaktionen sitzen.
- Wettbewerbs- und Beschleunigungsdruck durch Online-Angebote und Agenturen zwingen Journalisten wie Politiker in ein Hamsterrad, das es beiden Seiten erschwert, den Überblick zu behalten. Die Folgen sind u.a. Häppchenjournalismus und eine problematische Kurzatmigkeit in der Behandlung von
Sachthemen. - Die Boulevardisierung sorgt im gesamten Medienfeld dafür, dass der Pressekodex weiter ausgehöhlt wird: Das Privatleben von Politikern ist selbst für traditionelle Qualitätsmedien kein Tabu mehr, wenn es durch das aggressive Vorgehen der Boulevardpresse auf die Agenda gehoben wird und so zwangsläufig politische Relevanz erhält.
- Die Recherchesituation der Hauptstadtjournalisten ist ambivalent: Die Informationsbeschaffung ist gekennzeichnet durch das prekäre Verhältnis von Medien und Politik, das sich im Zusammenspiel von Nähe und Distanz, Ausnutzung und Anfreundung manifestiert.
- Hintergrundkreise stellen nach wie vor eine der wichtigsten Recherchequellen für Hauptstadtjournalisten dar, drohen aber durch Indiskretionen nutzlos zu werden. Das (professionelle) Vertrauen zwischen dem politischen und dem journalistischen Personal wurde in der Vergangenheit bereits nachhaltig erschüttert.
- Für die Recherche gilt, dass aktualitätsgebundene Redaktionen weniger recherchieren als andere, Zentralredaktionen eine umfassende Recherche gar nicht erst erwarten, Recherchen – im ökonomischen und ideellen Sinn – nicht angemessen honoriert werden und das Miteinander von Journalisten und Politikern generell einem ‘Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip’ folgt.
Für die vom Netzwerk Recherche e. V. in Auftrag gegebene Studie, erschienen ist, wurden im Zeitraum November 2007 bis März 2008 insgesamt 33 Vertreter unterschiedlicher Medien, Sprecher ausgewählter Ministerien sowie Lobbyisten und Berater befragt, u. a. Dr. Thomas Steg (Stellvertretender Regierungssprecher), Günter Bannas (FAZ), Nico Fried (Süddeutsche Zeitung), Martin Bialecki (dpa), Sabine Adler (Deutschlandfunk), Tissy Bruns (Tagesspiegel), Iris Bethge (Pressesprecherin BMG), Ulrike Hinrichs (Pressesprecherin BMELV), Michael Spreng (Berater), Lars Kühn (Fraktionssprecher SPD), Christoph Schmitz (Fraktionssprecher Bündnis 90/ Die Grünen), Jürgen Hogrefe (EnBW), Christoph Schwennicke (Der Spiegel), Michael Donnermeyer (IZ Klima), Dr. Richard Meng (Berliner Senatssprecher), Margret Heckel (Die Welt), Peter Frey (ZDF), Ulrich Deppendorf (ARD), Holger Schmale (Berliner Zeitung), Dr. Gunter Hofmann (Die Zeit) und Mainhardt Graf von Nayhauß-Cormons (Bild, Bunte).
Autoren:
Dr. Stephan Weichert/Leif Kramp
Institut für Medien- und Kommunikationspolitik gGmbH
http://www.medienpolitik.eu