Warum so zögerlich?
Der Constructive Journalism Day in Hamburg versuchte, mit Vorurteilen über lösungsorientierten Journalismus aufzuräumen
Der konstruktive Journalismus hat in Deutschland immer noch ein Wahrnehmungsproblem. Es ist hinlänglich bekannt, dass Medien ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit zeichnen, weil die Berichterstattung oft vor allem negative Ereignisse in den Blick nimmt. Es ist auch bekannt, dass das beim Publikum nicht gut ankommt. Und trotzdem werden Ansätze, die daran etwas ändern möchten, schnell als „Kuscheljournalismus“ abgestempelt. Ursache für die reflexhafte Kritik dürfte ein mangelndes Verständnis für die Anliegen des konstruktiven Journalismus sein. Daran etwas zu ändern, war ein Ziel des Constructive Journalism Day, der am 14. Februar 2019 in Hamburg stattfand.
NDR Info und die Hamburg Media School hatten mit Unterstützung der Schöpflin Stiftung mit Tina Rosenberg eine der weltweit profiliertesten Fürsprecherinnen für einen lösungsorientierten Journalismus einfliegen lassen. Rosenberg ist Pulitzer-Preisträgerin und Kolumnistin bei der New York Times, außerdem ist sie Mitbegründerin des amerikanischen Solutions Journalism Network (SJN). Mit Unterstützung eines Grow-Stipendiums von Netzwerk Recherche arbeiten Michaela Haas und Lisa Urlbauer vom SJN gerade daran, Teile der umfangreichen und kostenlosen SJN-Trainingsmaterialien für lösungsorientierte Berichterstattung ins Deutsche zu übersetzen.
Rosenberg nahm den (nicht anwesenden) Kritikern gleich den Wind aus den Segeln. Niemand wolle den Journalismus durch lösungsorientierten Journalismus ersetzen, sagte die US-Amerikanerin und gab eine einfache Erklärung: „Nicht für jede Story bietet sich ein Lösungsansatz an.“
Konstruktiver – oder der noch etwas enger gefasste lösungsorientierte – Journalismus funktioniere nur dann, wenn Probleme weit verbreitet, also viele Menschen davon betroffen seien. Zum Beispiel beim Thema Kriminalität: Ein einzelner Mordfall lässt kaum einen lösungsorientierten Ansatz zu (Nein, die Meldung über die Verhaftung des Mörders ist noch kein konstruktiver Journalismus!). Anders ist es beim Vergleich von Mordraten zweier Städte. Wieso gingen die Zahlen in der einen Stadt in den vergangenen Jahren deutlich zurück, während sie in der anderen stagnierten? Was macht die eine Stadt anders (vielleicht sogar besser) als die andere?
Ok, könnte man sagen, nette Idee. Aber wer sagt, dass die Strategie aus der einen Stadt auch in der anderen funktioniert? Die Antwort ist überraschend einfach: Niemand. „Sucht nicht nach der perfekten Lösung“, riet Rosenberg ihren Zuhörern. Denn die perfekte Lösung gibt es oft nicht. Vielmehr solle die Berichterstattung „einen von vielen potenziellen Lösungswegen“ aufzeigen – am besten den, der nach gründlicher Recherche am plausibelsten erscheint.
Das herauszufinden, braucht Zeit. Den gewählten Lösungsansatz zu erklären, braucht Platz. Deshalb ist der konstruktive Journalismus weder etwas für Breaking News noch für die Meldungsspalte in der Zeitung. Er bindet redaktionelle Ressourcen und ist, nach den Worten der Chefredakteurin des NDR Hörfunk, Claudia Spiewak, „ein Kraftakt, aber ein lohnender“. Auch stehe der konstruktive Journalismus nicht im Widerspruch zu investigativer Recherche. „Beides ergänzt sich“, sagte die Gastgeberin der Konferenz vor den knapp 200 Gästen – doppelt so viele wie bei der Premiere im vergangenen Jahr.
Das Interesse war damit mindestens so groß wie die Unsicherheit in deutschen Redaktionen beim Thema konstruktiver Journalismus. Die versammelten Journalisten trieb vor allem die Frage um, ob eine Berichterstattung, die auf Veränderung abzielt und das Positive betont, nicht Gefahr läuft, ins Unkritische oder Aktivistische abzudriften. Ja, es bestehe durchaus die Gefahr des „cheerleading“, sagte Rosenberg, hielt aber sogleich einen einfachen (und eigentlich selbstverständlichen) Tipp parat: nichts verschweigen. „Zu jeder lösungsorientierten Geschichte gehört die Nennung des Problems“, sagte sie. Ellen Schuster, Head of Digital Programming bei der Deutschen Welle, brachte es auf eine einfache Formel: „Konstruktiver Journalismus ist dann gut, wenn er relevant ist.“
In diesem Punkt unterscheidet sich konstruktive Berichterstattung von schlichten Happy-End-Geschichten wie „Feuerwehr rettet Katze vom Baum“, mit denen er oft fälschlicherweise in einen Topf geworfen wird. Wohl auch wegen Klischees wie diesem hatte (und hat) es der stellvertretende Feuilleton-Chef der Sächsischen Zeitung (SZ), Oliver Reinhard, so schwer, die Redaktion vom Konzept der konstruktiven Berichterstattung zu überzeugen. Dabei legt die SZ die Latte schon niedrig an: ein lösungsorientierter Artikel kann immer noch 80 Prozent Problembeschreibung enthalten und nur zu 20 Prozent aus Lösungsvorschlägen bestehen. Viel Platz für die befürchtete „Schönfärberei“ ist das nicht.
Publikumsbefragungen geben den „Konstruktivisten“, wie die Unterstützer des Konzepts bei der SZ redaktionsintern genannt werden, recht. Laut Reinhard schenken die SZ-Leser den konstruktiven Beiträgen mehr Aufmerksamkeit und bewerten sie insgesamt positiver (differenziertere Ergebnisse liefert eine Studie von Klaus Meier, 2018). Auch Schuster von der Deutschen Welle brachte ähnliche Ergebnisse der hauseigenen Publikumsforschung mit. Konstruktive Beiträge erzeugten in den sozialen Medien hohe Reichweiten, sinnvolles und hilfreiches Feedback sowie persönliches Engagement der Nutzer.
Warum dann eigentlich nicht jeder konstruktiven Journalismus mache, wurde Tina Rosenberg aus dem Publikum gefragt. „Journalisten sind ein sehr zurückhaltender Berufsstand“, antwortete sie. „Wir verändern uns nicht so leicht.“