Jürgen Dahlkamp: Journalistisches Selbstverständnis
“Der beste Freund des Journalisten ist die Akte.” So lautet das Cetero censeo meines geschätzten Kollegen Georg Mascolo, der in seinen Schränken viele gute Freunde hat, darunter ein paar, deren Freundschaft ziemlich exklusiv ist. Der Satz ist immer gut, wenn ihm einer mit “könnte”, “sollte”, “würde” kommt, mit Gerüchten und Gerede, wenn ein Tipp so heiß ist, dass Journalisten sofort Feuer und Flamme sind und deshalb umso mehr aufpassen müssen, sich beim Schreiben nicht die Finger zu verbrennen.
Akten zu lesen, kann mühselig sein, ihre Beschaffung noch mühseliger, so wie journalistische Recherche überhaupt schwierig, ermüdend und frustrierend sein kann. Menschen, die nicht reden oder nur die Hälfte der Wahrheit sagen, ohne zu verraten welche Hälfte die richtige ist. Papiere, die nicht zusammenpassen, Lücken lassen, lügen. Indizien, die sich aufs Schönste in Arbeitshypothesen aus Wille und Vorstellung fügen. Bis man hier noch einen mehr fragt und da noch etwas weiter liest, und plötzlich knirscht die Geschichte oder bricht zusammen, weil sie eben doch zu schön war, um wahr zu sein.
Gerade deshalb aber ist gründliche Recherche unverzichtbar, das Fundament, auf dem eine Story am Ende stehen und bestehen muss. Recherche ist journalistischer Selbstschutz, schon damit der Journalist sicher ist vor den Anwälten der Betroffenen und Getroffenen. Sie ist aber auch journalistische Schutzpflicht, damit er gewissenhaft ist, gewissenhaft im eigentlichen Sinne des Wortes gegenüber den Menschen und den Gegenständen, die er beschreibt.
Daraus ergeben sich notwendigerweise die aus meiner Sicht wichtigsten beiden Grundsätze einer soliden Recherche. Erstens: ein ständiges Misstrauen gegenüber den Ergebnissen. Zweitens: die Bereitschaft, auch ein Resultat hinzunehmen, das die Geschichte totmacht.
Die erste Bedingung für eine solide Recherche ist dagegen der Wille, solide zu recherchieren, er muss nicht nur beim Journalisten vorhanden sein, sondern auch bei seinem Arbeitgeber. Wer täglich eine oder zwei Zeitungsseiten abfüllen muss, weil sein Verleger im Wirtschaftsplan das so ausgerechnet hat, wird schon froh sein, wenn keine Löcher in seinen Seiten klaffen, höchstens in der Recherche.
Beim SPIEGEL zu arbeiten, bedeutet, Informanten persönlich treffen zu können, zu ihnen zu fahren, auch zu fliegen, auch ins Ausland, bedeutet Fern- und Fernsttelefonate, ohne dass ein Taylorist die Sekunden misst, bedeutet vor allem Zeit für Recherche. Das alles ist natürlich mehr, als man voraussetzen kann, wenn man in einer kleinen Lokalredaktion arbeitet.
Die andere Seite: Wer nur schnell fertig werden will und dazu die Fertiggerichte der Pressestellen aufkocht, oder wer von seiner Meinung schon so begeistert ist, dass er sich durch Fakten nicht ernüchtern lassen will, der wird sich mit Recherche nicht groß belasten. Auch das habe ich in meiner Zeit als freier Mitarbeiter im Lokalen erlebt – so wie das Gegenteil, Redakteure, die trotz beschränkter Möglichkeiten kritischen und nachforschenden Journalismus machten.
Wer recherchieren will und recherchieren kann, der muss es erst mal lernen. Wahrscheinlich kann man sich nicht alles beibringen lassen: Wer einmal den begnadeten Kollegen erlebt hat, der bei wildfremden Menschen an der Haustür klingelt und in ein paar entscheidenden Sekunden Vertrauen bei ihnen weckt, der weiß, dass einiges auch mit Talent zu tun hat, manchmal nur mit dem richtigen Zungenein- oder Augenaufschlag. Was aber erlernbar ist, liegt nicht in der Luft und fliegt einem deshalb auch nicht zu, man wird es sich mühsam aneignen müssen, weil Talent und Courage dafür kein Ersatz sind.
Dazu braucht es Zeit, Zeit für Erfahrungen, Zeit für Ausdauer. Dass es zum Beispiel ein höchstrichterliches Urteil gibt, mit dem Journalisten sich die früher sonst nur schwer zugänglichen Grundbücher öffnen können, wird einem nicht in die Wiege gesungen; man darf wohl auch vermuten, dass es nur die wenigsten Volontäre in ihrer Ausbildung erfahren. Das gleiche bei der Suche nach einem Menschen, von dem man gerne etwas wüsste, wüsste man nur, wo man ihn fände – ohne Einträge im Telefonbuch: Wie man sich also von Adresse zu Adresse hangelt, zur Not über den Friseur im Dorf zum Ex-Nachbarn, vom Ex-Nachbarn zum Ex-Vermieter, vom Ex-Vermieter zur neuen Anschrift, so etwas ist keine Hexerei, nur Kärrnerarbeit, jedoch kein Lehrbuch-Stoff. Viele größere Recherchen sind aber vor allem darauf angewiesen, dass über Jahre ein Verhältnis zu Informanten entstanden ist, Gesprächspartnern, die Hintergründe ausleuchten und Vordergründiges entlarven, die Belege beschaffen können und Belege auch beschaffen wollen.
Schließlich gehört zur Recherche natürlich auch noch Glück, mal ein Informant, der mehr preisgibt, als man erwarten konnte, eine Zielperson, die mehr aufgeschrieben hat, als ihr gut tut, ein anonymer Umschlag, der es in sich hat. So was kommt vor und kann jedem mal vorkommen; der Großteil der Arbeit aber ist Handwerk, und wenn jeder seines Glückes Schmied ist, dann ist die Recherche deshalb das Schmiedehandwerk des Journalisten.