Leuchtturm-Preisträger 2024: Correctiv für ihre Recherche „Geheimplan gegen Deutschland“
Laudatorin: Özge Inan, freie Journalistin und Autorin
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebes Correctiv-Team,
„Offenbar glauben sie, kurz vor dem Durchbruch zu stehen.“ Das ist ein Satz aus der Recherche, die wir heute gemeinsam auszeichnen. „Die Zeiten scheinen ihnen günstig“, heißt es weiter, „die Pläne sind ausgearbeitet“.
Sie, das sind Juristen, Politiker, Intellektuelle in Hemd und Sakko in einem Konferenzsaal unweit des Wannsees. Und die Pläne, das ist die Vertreibung von Millionen von Menschen aus Deutschland, weil sie den Herrschaften im Konferenzsaal nicht deutsch genug sind.
Die Zeiten scheinen ihnen günstig. Als ich die Correctiv-Recherche zum ersten Mal gelesen habe, war es dieser Satz, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Nicht der „Assimilationsdruck“, nicht der nordafrikanische Musterstaat, nicht einmal der in seiner sachlichen Grausamkeit unübertroffen deutsche Ausdruck „Remigration“. Mich hat am heftigsten gepackt, dass diesen Leuten die Zeiten günstig erscheinen. Diesen hochintelligenten Leuten, die Politik und Gesellschaft genauestens beobachten, die den Daumen zu jeder Zeit am Puls unserer Demokratie haben, mit der Sorgfalt eines Mörders, der den Moment abwartet, in dem er das Kissen vom Gesicht seines Opfers nehmen kann.
Und ich glaube, dass darin der Kern dessen steckt, was die Correctiv-Recherche so unschätzbar wertvoll macht. Weil sie in ihrer ganzen Klarheit dokumentiert, wie günstig die Zeiten für die Faschisten um Martin Sellner sind. Weil sie ihre Strategien offenlegt. Weil sie uns darüber in Kenntnis setzt, wie die extreme Rechte diskutiert, welche Hürden sie noch sieht, wie sie sie zu überwinden und diesen historisch günstigen Moment fruchtbar zu machen gedenkt. Damit macht Correctiv ihnen einen Strich durch die Rechnung der taktischen Selbstverharmlosung. Diese Recherche zeigt: Diese Rechnung geht in einer Gesellschaft mit einer wachsamen und anständigen Presse nicht auf.
Nach der Recherche haben wir gesehen, wie sehr die rassistischen Pläne die Menschen in diesem Land erschüttern und anwidern. In einigen der größten Demonstrationen der Geschichte der Bundesrepublik gingen mehr als zwei Millionen Menschen auf die Straße. Ich erinnere mich genau an den Moment im Januar, als ich frierend auf der Münchner Leopoldstraße stand, neben mir mein jüdischer Freund und vor mir ein endloses Meer aus 250.000 bemützten Hinterköpfen, und dachte, wir sind nicht allein. Wir sind tatsächlich nicht allein, das ist nicht nur so Gerede von den Leuten, die haben unseren Rücken, die sind alle hier, die lassen nicht zu, dass uns etwas passiert.
Es ist manchmal nicht so einfach, in diesem Land Migrationshintergrund zu haben, das haben Sie in den letzten Jahren vielleicht das ein oder andere Mal gehört. Manchmal beschreibe ich es so, dass ja irgendwo in den Hinterkammern unseres Bewusstseins, im Echsenhirn, ein letzter Rest Urmensch ist, und bei mir glaubt der versehentlich im falschen Stamm gelandet zu sein. Die meiste Zeit findet er sich damit ab, aber manchmal, wenn es mal wieder besonders deutsch ist in Deutschland, gerät er in Panik und will wegrennen zu seinem Urstamm. Ich glaube, dieser Teil meines Gehirns führt eine heimliche Korrespondenz mit Martin Sellner, der ja genau so findet, dass ich hier falsch bin. Und solche Momente wie an dem kalten Januartag auf der Leopoldstraße zeigen eben, dass das nicht stimmt. Dass der Rest-Urmensch in meinem Gehirn einfach falsch liegt und sein Brieffreund Martin Sellner auch. Dass ich hier richtig bin, auch wenn meine Wurzeln woanders sind und dass hier lauter Leute sind, die mich in ihrem Stamm dabei haben wollen.
Ich möchte aber noch auf einen anderen Verdienst der Correctiv-Recherche eingehen, und dieser Verdienst macht leider weniger gute Laune. Die Enthüllungen zeigen in bisher beispielloser Klarheit: Wenn die Zeiten für die Faschisten günstig sind, ist das nie nur das Werk der Faschisten selber. Und es nützt auch nie nur den Faschisten selber. Das Potsdamer Treffen, arbeiteten die Kolleginnen und Kollegen von Correctiv heraus, war in erster Linie eine Werbeveranstaltung für klandestine Spender. Spender, die die feindliche Übernahme im Geheimen finanzieren möchten, und zwar mit Summen, die keine Zweifel daran lassen, zu welcher Schicht sie gehören. Reiche Förderer sind das Fleisch am Gerippe des Faschismus und sie wissen es. Ihre Millionen ermöglichen den Aufbau eigener Institutionen, Verlage und Medien, die unabdingbar sind auf dem von rechtsextremen Intellektuellen vorgezeichneten Weg zur Macht.
Die zweite Gruppe, die auf diesem Weg gerade mindestens Geleitschutz leistet, sind radikalisierte Konservative. Wenn bei diesem Treffen zwei CDU-Mitglieder dabei sind, wenn eine Vorständin des Vereins deutsche Sprache dabei ist, sind das keine ärgerlichen Einzelfälle. Wenn ein CDU-Vorsitzender Friedrich Merz beinahe im Wochenrhythmus Gemeinheiten gegen Asylsuchende oder Menschen mit Migrationshintergrund loslässt, sind das keine Einzelfälle.
Wenn sein Parteikollege Jens Spahn zur besten Sendezeit bei Markus Lanz die Geltung der Genfer Flüchtlingskonvention infrage stellt oder Fraktionsvorsitz Thorsten Frei in der FAZ für die Abschaffung des individuellen Asylrechts plädiert. Asylrecht ist eine Lehre aus dem Nationalsozialismus, es ist eine Lehre aus der Katastrophe, die von hier, von diesem Boden aus über die Welt kam. Es darf nicht sein, dass es keine hundert Jahre später mit der Begründung, es sei nicht mehr zeitgemäß, plötzlich in Frage steht. Nicht hier, nicht auf diesem Boden.
Und das bringt mich zu einer bitteren Lehre aus dieser großartigen Recherche. Denn viele zu viele von uns, von Ihnen in den sozialen Medien, in Kolumnen, in Talkshows, skandalisierten genau einen Aspekt der Pläne: die Vertreibung von Menschen mit deutschem Pass. Ich bin Juristin. Im zweiten Semester meines Studiums habe ich gelernt, was Menschenwürde eigentlich wirklich heißt. Menschenwürde bedeutet, dass der Achtungsanspruch jedes Menschen es verbietet, ihn vom Subjekt zum Objekt staatlichen Handelns zu machen.
Aus der Recherche geht sehr klar hervor, dass Sellner und seine Kameraden Ausländer und Asylsuchende als Objekt, als zu lösendes Problem betrachten. Das ist menschenunwürdig. Im Grundgesetz steht nicht, die Würde des deutschen Staatsangehörigen ist unantastbar. Ich möchte es für alle noch einmal klarstellen: Als Bertolt Brecht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ schrieb: „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen“, war das ironisch gemeint.
Lassen Sie uns deswegen nicht nur auf die Noch-Randfiguren Rechtsaußen schauen. Lassen Sie uns, auch und gerade in der journalistischen Arbeit, auf den Rassismus schauen, der dieses Land und seine Gesetze, seine Wirtschaft und seine Produktionsweise strukturiert. Lassen Sie uns nicht länger darüber sprechen wie über ein Gift, das unserem Wesen fremd ist und mit uns nichts zu tun hat. Lassen Sie uns auch nicht darüber sprechen wie über ein Volksmärchen, das in der Luft wabert und lediglich aus den Köpfen verschwinden muss. Lassen Sie uns der Tatsache ins Auge sehen, dass Martin Sellners Remigrationsträume und das Olaf Scholz’ Plädoyer dafür, im großen Stil abzuschieben, auf der materiellen Ebene gar nicht so weit voneinander entfernt sind – bis auf die Sache mit dem edelsten Teil des Menschen, der ja auch Material ist, nämlich Plastik.
Lassen Sie uns aber auch über die Wirtschaft sprechen. Lassen Sie uns über bulgarische Feldarbeiter, albanische Pflegekräfte, türkische Lieferfahrer, rumänische Bauarbeiter sprechen. Anstatt in reinster Verwertungslogik zu fragen, wer diese Jobs machen soll, wenn die Ausländer remigriert sind, als bestünde der Wert dieser Menschen allein in ihrer Produktivkraft, lassen Sie uns etwas anderes tun. Etwas Mutiges. Lassen Sie uns fragen, wieso hier in Deutschland, in Frankreich, in Großbritannien, in den USA, überall in der westlichen Welt genau diese Jobs von genau diesen Leuten gemacht werden. Lassen sie uns fragen, wer davon profitiert. Und weil wir Journalistinnen und Journalisten sind, müssen wir uns das nicht im stillen Kämmerlein fragen, wir können es recherchieren. Wir können diese im doppelten Sinne systemrelevanten Ausbeutungsverhältnisse herausarbeiten und nachweisen.
Es bringt nichts, die Augen und Ohren vor Systemfragen zu verschließen. Lassen Sie mich präzisieren: Es bringt der Demokratie nichts. Mit der bulgarischen Feldarbeiterin konkurrieren deutsche Feldarbeiterinnen, mit dem türkischen Lieferfahrer deutsche Lieferfahrer und so weiter. Um Arbeit, um gute Löhne, um Wohnungen, um Teilhabe. Wenn Remigration in den Ohren vieler Arbeiterinnen und Arbeiter in diesem Land verlockend klingt, dann nicht nur, weil sie dem herumwabernden Volksmärchen eben Glauben schenken. Sondern auch, weil sie sich davon eine Verbesserung ihrer Konkurrenzposition erhoffen.
Verweigern wir uns in unserer Berichterstattung diesem Zusammenhang, verweigern die betroffenen Menschen sich unserer Berichterstattung. Vertrauen geht verloren, Glaubwürdigkeit nimmt ab. Das ist nicht nur deshalb ein Problem, weil es unsere Arbeit schwerer und in manchen Fällen gefährlich wird. Es bedroht unseren Sinn für eine gemeinsame Wirklichkeit. Wenn Geschichtsbücher unser kollektives Gedächtnis sind, sind Medien unser kollektives Auge. Eine Gesellschaft, in der Medien nicht richtig arbeiten können, stolpert blind durch die Zeiten. Etwas besseres als eine solche Gesellschaft kann Faschisten nicht passieren. Auch der Vertrauensverlust in uns Journalisten führt sie zu der völlig richtigen Feststellung, dass die Zeiten günstig für sie sind.
Es gibt aber noch eine andere richtige Feststellung, die Martin Sellner im November in Potsdam getroffen hat. Damit aus der Idee der Remigration eine politische Strategie wird, müsse, Zitat, „metapolitische, vorpolitische Macht“ aufgebaut werden. Das hat er sich nicht in diesem Moment ausgedacht, im Gegenteil, das kurze Zitat zeigt die intellektuelle Tiefe dieses Mannes. Über Metapolitik als im aktuellen Stadium wichtigstes Betätigungsfeld sprechen faschistische Theoretiker seit etwa 40 Jahren. Sie leiten diese Erkenntnis ausgerechnet aus den Hegemonietheorien des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci ab. Alain de Benoist, Vordenker der französischen Neuen Rechten, definiert in seinem Aufsatz „Metapolitik – Was ist das?“ von 1984 die Rechte eben gerade nicht als politische Bewegung. Sondern als, Zitat, „Kulturbewegung, die nicht direkt an den Problemen unmittelbarer Politik interessiert ist, sondern theoretische, grundsätzliche Studien bevorzugt, die einen gewissen Abstand von der Tagespolitik erfordern.“ Zitat Ende. Im rechtsextremen Theorieheft Sezession greift Wiggo Mann im Jahr 2008 die Idee auf, Zitat: „Wer Metapolitik betreibt, arbeitet grundsätzlich und versucht, die prinzipiellen Zielsetzungen zu bestimmen und die Legitimitätsfragen zu klären.“ Zitat Ende.
Und all das, diese Einblicke in die rechtsextreme theoretische Debatte, die zur Einordnung rechtsextremer Strategien so elementar wichtig ist, hätte ich Ihnen hier heute nicht erzählen können, wenn es die Correctiv-Recherche nicht gäbe. Dann hätte ich nämlich den Aufsatz „Kulturrevolution von Rechts: Mit der Metapolitik an die Macht?“ des Kollegen Mathias Brodkorb nie gelesen, der schon 2009, als ich gerade frisch aufs Gymnasium kam, im Portal Endstation Rechts erschien.
Gute investigative Recherche macht eben genau das. Sie macht Lust, mehr zu lesen, tiefer zu graben, klüger zu werden. Wir Journalistinnen und Journalisten können das schaffen, wir können den Diskurs klüger machen. Wenn wir es richtig anstellen. Wenn wir sorgfältig arbeiten. Wenn wir uns von Anstand und Wahrheit antreiben lassen und von nichts anderem. Kurzum, wenn wir uns die Kolleginnen und Kollegen von Correctiv zum Vorbild nehmen.
Deshalb geht der diesjährige Leuchtturm-Recherchepreis an die Correctiv-Recherche „Geheimplan gegen Deutschland“. Stellvertretend für das ganze Team sind heute hier: Marcus Bensmann, Justus von Daniels, Anette Dowideit, Jean Peters, Gabriela Keller und Mohamed Anwar.
Herzlichen Glückwunsch.
Die gesamte Laudatio von Özge Inan finden Sie auch hier im Video: