Leucht­turm-​Preis 2018 für MeToo-​Recher­che­team der ZEIT

ver­öf­fent­licht von Netz­werk Recherche | 19. Juni 2018 | Lese­zeit ca. 8 Min.

Der „Leucht­turm für beson­dere publi­zis­ti­sche Leis­tungen“ der Jour­na­lis­ten­ver­ei­ni­gung Netz­werk Recherche geht in diesem Jahr an das MeToo-​Recher­che­team der ZEIT und des ZEIT­ma­ga­zins. Damit wür­digt der Verein die Recher­chen und Ver­öf­fent­li­chungen der ZEIT zur Affäre um Dieter Wedel.

Jana Simon, Annabel Wahba und Chris­tian Fuchs erhalten – stell­ver­tre­tend für das gesamte Team – den mit 3.000 Euro dotierten Preis auch für ihren vor­bild­li­chen Umgang mit den Regeln der Ver­dachts­be­richt­erstat­tung. Anstatt vor­schnell Gerüchte in die Welt zu setzen, recher­chierten sie akri­bisch über Monate hinweg die Vor­würfe der Ver­ge­wal­ti­gung und sexu­ellen Beläs­ti­gung gegen den Regis­seur und Film­pro­du­zenten Dieter Wedel. Die ver­öf­fent­lichten Texte über­zeugten durch ihre sach­liche, an den Fakten ori­en­tierte Dar­stel­lung der Recher­che­er­geb­nisse, die in ihrer Dichte eine immense Wucht ent­fal­teten. Dank der Arbeit des ZEIT-​Recher­che­teams kam die in den USA nach den Ent­hül­lungen rund um Harvey Wein­stein gestar­tete MeToo-​Debatte end­gültig auch in Deutsch­land an.

Die Vor­sit­zende von Netz­werk Recherche, Julia Stein: „Es ist den Autorinnen und Autoren der ZEIT zu ver­danken, dass mit ihrer Recherche ein altes Wer­te­system ins Wanken geraten ist: Was an Sexismus und bis­weilen sogar an Des­po­tismus lange hin­ge­nommen wurde, darf nun nicht mehr sein. Für das Unrecht der Ver­gan­gen­heit gibt es durch diese Ver­öf­fent­li­chung einen neuen Grad­messer. Bemer­kens­wert – und auch sehr erfreu­lich – ist, dass an dieser Recherche vor allem Frauen betei­ligt waren, die doch im Inves­ti­ga­tiven sonst meist leider unter­re­prä­sen­tiert
sind.“

Ver­geben wird die Aus­zeich­nung auf der zwei­tä­gigen Jah­res­kon­fe­renz von Netz­werk Recherche beim NDR in Ham­burg. Die Ver­lei­hung findet am 29. Juni 2018 um 14 Uhr statt. Die Lau­datio hält die Fern­seh­jour­na­listin Anja Reschke.

Der Leucht­turm wird seit 2002 jähr­lich ver­geben. Im ver­gan­genen Jahr ging er an den öster­rei­chi­schen TV-​Jour­na­listen Armin Wolf für seine uner­schro­ckene und hart­nä­ckige Art der Inter­view­füh­rung, im Jahr zuvor an den tür­ki­schen Jour­na­listen Can Dündar für seinen Kampf um die Pres­se­frei­heit in der Türkei.

Lau­datio von Anja Reschke

Leucht­turm­preis­träger 2018: MeToo-​Recher­che­team der ZEIT
Lau­da­torin: Anja Reschke

Ham­burg, 29. Juni 2018

Seien wir ehr­lich. Warum sind wir Jour­na­listen? Wir wollen Auf­merk­sam­keit. Manch einer viel­leicht nur für sich, die meisten aber, für eine Sache. Wir wollen ein Schlag­licht werfen auf Themen, die wir als wichtig für die Öffent­lich­keit erachten und die viel­leicht sonst im Ver­bor­genen bleiben würden. Wir wollen Miss­stände auf­de­cken, Ent­wick­lungen auf­zeigen, Debatten anstoßen, infor­mieren, Argu­mente lie­fern, damit der Bürger zu mün­digen Ent­schei­dungen finden kann, damit sich eine Gesell­schaft weiter ent­wi­ckeln kann. Dafür brau­chen wir Auf­merk­sam­keit.

Das ist Ihnen gelungen. Sie haben jede Menge Auf­merk­sam­keit erreicht. Sie haben sozu­sagen mitten in einem pia­nis­simo Geplät­scher ordent­lich auf die Pauke gehauen. Sie haben die metoo Debatte, die sich bis dahin nur im schil­lernden, aber fernen Hol­ly­wood abspielte, und von den meisten hier rein aus bou­le­var­desker Neu­gier ver­folgt wurde, nach Deutsch­land geholt. Da waren alle wach. Seitdem wird auch hier dis­ku­tiert. Nicht nur, oder inzwi­schen längst nicht mehr über den Fall eines Regis­seurs,  son­dern all­ge­mein. Wie gehen Männer und Frauen mit­ein­ander um? Haben wir als Gesell­schaft zu viel und zu lang die Augen ver­schlossen. Welche Macht­struk­turen machen solche Miss­bräuche  eigent­lich mög­lich. Geht das Thema sexu­elle Über­griffe nicht viel tiefer? Ist in der Arbeits­welt, in der Männer und Frauen nach dem Gesetz eigent­lich doch längst gleich­ge­stellt sein sollten, doch vieles beim Alten geblieben?

Dass ein Ver­ge­wal­ti­gungs­vor­wurf im Saar­län­di­schen Rund­funk sogar akten­kundig war, dass er sozu­sagen auf­ge­schrieben, gelocht und abge­heftet wurde, ohne dass damals irgend­eine Kon­se­quenz erfolgte, zeigt, wie wenig Beach­tung dem Thema Sexismus geschenkt wurde. Das haben Sie mit ihren Artikel ver­än­dert. Es ist etwas in Bewe­gung geraten. Und zwar nicht nur in der Film­branche.

Sie haben es sich dabei nicht leicht gemacht. Sie sind nicht der Ver­su­chung erlegen, den Mann ein­fach als Schwein dar­zu­stellen und die ganze kom­plexe Materie zwi­schen Frauen und Män­nern schwarz weiß auf­zu­malen. Sie machen nicht SIE zum guten, armen Opfer und IHN zum bösen, mäch­tigen Täter. Sie zeichnen diesen Grau­be­reich sehr genau nach: Zwi­schen dem Moment, in dem eine hofft, sich mit kör­per­li­chen Reizen einen Vor­teil zu ver­schaffen und dem Moment, in dem genau das zu ihrem Nach­teil umschlägt.

Ober­fläch­lich betrachtet mag es in ihrem Text nur um einen Regis­seur und ein paar Schau­spie­le­rinnen gehen. Wer sich damit zufrieden gibt, hat die Bot­schaft ihres Textes nicht ver­standen. Es geht nicht um DEN EINEN Skandal. Es geht um viel mehr. Es geht um Struk­turen in unserer Gesell­schaft. Darum, dass viele Frauen – bis heute – glauben, ihren Körper, ihr Äußeres ein­setzen zu müssen, um wei­ter­zu­kommen, weil das, worauf es im Beruf eigent­lich ankommt, das Können, bei Frauen oft nicht genug zählt oder nicht gesehen wird. Weil Frauen eben immer noch auf das schöne Geschlecht redu­ziert werden oder sich selbst darauf redu­zieren. Das ist ein Muster, das so tief sitzt, schon so lange gelebt wird in unseren Gesell­schaften, dass es auch für einen selbst oft schwer ist, das zu erkennen. So heißt es in ihrem Text

„Thi­e­le­mann geht hart mit sich selbst ins Gericht, auch heute noch in dem Ber­liner Café: “Warum habe ich mich hübsch gemacht und bin mit ihm in die Suite gegangen? Zu einem, der als Schür­zen­jäger bekannt war?” Sie gibt sich die Ant­wort sogleich selbst: “Weil ich so drin­gend mit­spielen wollte.”

Beim Film gebe es ein Über­an­gebot an Sex, sagt auch Jany Tempel. Sie selbst war mit mäch­tigen Män­nern aus der Branche zusammen und gibt zu, dass sie manchmal nicht so genau unter­scheiden konnte, ob sie einen Mann ein­fach attraktiv fand oder ob sie der Attrak­tion der Macht erlag und sie sich eine Rolle ver­sprach. Genau hier ver­läuft sie, die Grenze: zwi­schen ein­ver­nehm­li­chem Sex auf der einen Seite – auch wenn er ein Mittel sein mag, um eine Rolle zu bekommen – und erzwun­genem Sex auf der anderen Seite.

Wohl­ge­merkt, all die Fälle und Vor­komm­nisse spielen Mitte der 90er, wir reden hier nicht mehr von den 50ern. Ist diese Zeit vorbei?

Für die Auf­merk­sam­keit  beim Publikum sind Geschichten über Sex und Über­griffe oder gar Ver­ge­wal­ti­gung  hoch­gradig attraktiv. Also sehr ver­füh­re­risch für Jour­na­listen. Aber gleich­zeitig sau­ge­fähr­lich.

Der Fall Kachelmann sitzt uns allen in den Kno­chen, oder besser, er sollte es. Eine der schlimmsten Ver­leum­dungs­kam­pa­gnen unter Betei­li­gung vieler vieler Medi­en­schaf­fender. Es ist gut, dass dieser Schock wachsam macht. Dass sich viele fragen: Darf man das? Einen Namen nennen. Nur weil einer beschul­digt wird? Wann ist es Ruf­mord? Muss nicht die Unschulds­ver­mu­tung vor allem anderen gelten.

Sie wissen, wie oft man Geschichten erzählt kriegt. Wir alle haben sie schon zuge­raunt bekommen. Der und der soll das und das. Die hat sich hoch­ge­schlafen, der steigt jedem Rock hin­terher, sogar die Beset­zungs­couch hat es zur all­ge­meinen Belus­ti­gung in den Sprach­ge­brauch geschafft. Anschei­nend hat nie jemand genauer nach­ge­fragt, wie sich das denn anfühlt, wenn man auf so einer Couch landet. Aber das nur am Rande

Das schwie­rige an diesen Gerüchten und dem Geraune ist: Ab wann ist es eine Geschichte, die jour­na­lis­ti­schen Stan­dards ent­spricht? Die man guten Gewis­sens ver­öf­fent­li­chen kann. Jeder, der schon mal im Bereich sexu­eller Über­griffe, Miss­brauch, egal ob gegen Jungen oder Mäd­chen, Männer oder Frauen recher­chiert hat, weiß, wie schwer es ist, dass sich Men­schen öffnen und dass gerade die, die sich gede­mü­tigt und beschmutzt fühlen, den Mut und die Kraft auf­bringen, mit Namen in der Öffent­lich­keit zu stehen.

Der Pres­se­kodex sieht klare Richt­li­nien vor, für Ver­dachts­be­richt­erstat­tung. Sie haben sich nicht auf die Schil­de­rungen einer ein­zigen Frau ver­lassen, son­dern, wie es Jour­na­listen tun sollten, ver­sucht, sich ein Bild zusammen zu setzen. Sie haben sogar – und das ist eine Neue­rung unserer Zeit – ihre Zweifel öffent­lich gemacht. Beschrieben, wie sie vor­ge­gangen sind, wie sie mit sich gerungen haben. Nichts deutet auf Leicht­fer­tig­keit hin. Nichts darauf, dass es ihnen darum ging, schnell die Knal­ler­ge­schichte raus zu jagen, mit der man als Jour­na­list Ruhm erringen kann. Ruhm der schnellen Auf­merk­sam­keit. Wenn es sich dann später als falsch her­aus­stellt, ist doch egal! Haupt­sache erster.

Sie haben sich Zeit gelassen, sie haben ver­sucht, die Aus­sagen ihrer Kron­zeu­ginnen zu über­prüfen. Die Orte, den Zeit­punkt, sie haben nach Per­sonen gesucht, die Aus­sagen bestä­tigen, die Behaup­tungen plau­sibel machen. All das klingt nach Sorg­falt. Nach Recherche.

Und das unter­scheidet ihren Text von einem rei­ße­ri­schen Bou­le­vard­be­richt. Auch ihrem Text nimmt man ab, dass es Ihnen um mehr ging, als eine Person an den Pranger zu stellen. Son­dern darum, eine Struktur auf zu zeigen. Aber – und das wissen wir alle hier im Raum – ohne Fall hätte man nicht zuge­hört. Ohne Fall – hätte dieser Text nicht diese Wir­kung ent­faltet. Ohne Fall hätte er keine Auf­merk­sam­keit bekommen. Und darum geht es doch im Jour­na­lismus.

Herz­li­chen Glück­wunsch an Jana Simon, Annabel Wahba und Chris­tian Fuchs und das Recher­che­team der Zeit.

Die Lau­datio von Anja Reschke ist als Video­mit­schnitt hier ver­fügbar:

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