Edi­tors Picks GIJN 2023

ver­öf­fent­licht von Sarah Ulrich | 13. Dezember 2023 | Lese­zeit ca. 9 Min.

Macht­miss­brauch, Anschläge, Rus­si­sche Olig­ar­chen: Das sind die besten Recher­chen aus dem Jahr 2023

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Ausgewählt von Sarah Ulrich, Global Investigative Journalism Network/Netzwerk Recherche

Der Ori­gi­nal­bei­trag auf Eng­lisch findet sich hier

Dieser Jah­res­rück­blick fängt mit einer guten Nach­richt an: 2023 war das Jahr der Koope­ra­tionen. Inves­ti­ga­tiv­re­dak­tionen in Deutsch­land haben sich mit Kolleg*innen, inter­na­tio­nalen Partner*innen und lokalen Com­mu­nities zusam­men­getan, um in Mil­lionen von Doku­menten zu wühlen, Kata­stro­phen zu rekon­stru­ieren oder tief in struk­tu­relle Pro­bleme ein­zu­tau­chen. Ob mut­maß­li­cher Miss­brauch durch einen Musiker, Aus­beu­tung von Arbeiter*innen, rus­si­scher Ein­fluss auf Europa oder eine tief­ge­hende Recherche zu Miss­ständen in Deutsch­lands größter Zei­tung: Die besten Inves­ti­ga­tiv­re­cher­chen in diesem Jahr wären ohne Kol­la­bo­ra­tionen nicht mög­lich gewesen.

Der Trend hin zu kol­la­bo­ra­tivem Inves­ti­ga­ti­vjour­na­lismus macht Hoff­nung in einer Zeit der Krise der Medien und der Angriffe auf die Pres­se­frei­heit. Und er zeigt, wie viel stärker Jour­na­lismus sein kann, wenn Redak­tionen ein­ander als Ver­bün­dete statt als Kon­kur­rent*innen sehen. Die fol­genden Recher­chen zeigen auch, wie unter­schied­lich inves­ti­ga­tive Ansätze sein können und wie dabei ver­schie­denste For­mate bemüht werden können, um packende Recher­chen zu erzählen.

Tatort Ostsee 

Screen­shot, Tatort Ostsee/ARD Media­thek

Als im Sep­tember 2022 die Nord Stream Gas-​Pipe­lines in der Nordsee von Unbe­kannten gesprengt wurden, spe­ku­lierte man welt­weit erfolglos dar­über, wer hinter dem Anschlag steckte. Auch wenn Expert*innen sich einig sind, dass die Explo­sionen durch Sabo­tage ver­ur­sacht wurden und mit dem rus­si­schen Angriffs­krieg gegen die Ukraine zusam­men­hingen, ist die Frage, wer genau dafür ver­ant­wort­lich ist, noch immer nicht voll­ends auf­ge­klärt. Eine Recher­che­kol­la­bo­ra­tion diverser Sender und Zei­tungen hat sich die Gescheh­nisse genau ange­schaut und mit­hilfe einer Reise zum Tatort auf einem Segel­boots, Gesprä­chen mit Infor­manten und Doku­menten rekon­stru­iert, was am Tag der Explo­sion geschehen ist. So konnten die Reporter*innen einer Ant­wort auf die Frage nach Ver­ant­wort­li­chen zumin­dest so nah kommen, wie es zu diesem Zeit­punkt mög­lich war. Das Ergebnis ist eine starke Inves­ti­ga­tiv­re­cherche, die die Methode der Rekon­struk­tion auf ein­drucks­volle Weise nutzt, um neue Erkennt­nisse auf­zu­de­cken. Ver­öf­fent­licht wurden ein fünf­tei­liger Pod­cast, eine 36-​minü­tige Doku­men­ta­tion und meh­rere Artikel, die die Haupt­fragen über die Gescheh­nisse erläu­tern. Ein span­nendes Bei­spiel für redak­ti­ons­über­grei­fende Mul­ti­media-​Kol­la­bo­ra­tionen, die uns ein Stück näher bringt, den Russ­land-​Ukraine Krieg zu ver­stehen.

Am Ende der Show 

Screen­shot, Süd­deut­sche Zei­tung

Ende Mai 2023 schrieb die Nord­irin Shelby Linn auf Twitter, sie habe im Umfeld eines Ramm­stein-​Kon­zertes angeb­lich Drogen ins Getränk gemischt bekommen. Ein Reporter*innen­team von NDR und SZ begab sich auf die Suche nach wei­teren Frauen, die über ihre Erfah­rungen mit Ramm­stein-​Sänger Till Lin­de­mann berichten wollen. Die Recher­chen wurden schon wenige Tage später ver­öf­fent­licht – und von vielen wei­teren Medien auf­ge­griffen. Sie basierten auf den Aus­sagen von meh­reren mut­maß­li­chen Betrof­fenen und legten das System “Row Zero” offen – eine angeb­liche Aus­wahl junger Frauen, die rekru­tiert worden sein sollen, Lin­de­mann für Sex zuge­führt zu werden. Die Recher­chen von NDR/SZ führten zu Ermitt­lungen gegen Lin­de­mann. Aller­dings wurden diese wieder fallen lassen – weil die Betrof­fenen zwar mit Reporter*innen spra­chen, nicht jedoch mit den Ermittler*innen. Was folgte war eine öffent­liche Debatte über die Frage, ob und wie sich über Miss­brauchs­vor­würfe über­haupt berichten lässt. Eine wich­tige Debatte, die in Deutsch­land längst über­fällig war – und noch viel weiter dis­ku­tiert werden sollte. Denn auch wenn die Staats­an­walt­schaft keine straf­recht­lich rele­vanten Vor­würfe ermit­teln konnte: Diese Recher­chen sind ein Meis­ter­stück der Ver­dachts­be­richt­erstat­tung.

Inside Tesla 

Screen­shot, Inside Tesla/Stern Inves­ti­gativ

Die Tesla-​Fabrik in Bran­den­burg wurde von Poli­ti­kern oft als zukunfts­wei­send ange­priesen. Dabei wurde das Pres­ti­ge­pro­jekt – eine von Teslas soge­nannten “Gigafac­to­ries” – in einem Gebiet gebaut, das durch mas­sive Tro­cken­heit und Was­ser­knapp­heit bereits jetzt fast einer Wüste gleicht. Schon seit Län­gerem wird die Fabrik für nega­tive Aus­wir­kungen auf die Umwelt kri­ti­siert, aber nun hat das neu gegrün­dete Stern Inves­ti­gativ-​Team tief im Bauch der Tesla-​Fabrik recher­chiert: Reporter*innen haben sich under­cover als Arbeiter*innen ein­ge­schleust und konnten so unmit­telbar von Arbeits­be­din­gungen und Arbeits­rechts­ver­let­zungen berichten. Diese Beob­ach­tungen füt­terte das Team mit gele­akten Doku­menten und Zeug*innen­aus­sagen. Das Ergebnis ist ein span­nender fünf­tei­liger Pod­cast, der Miss­stände ebenso auf­deckt wie das Weg­schauen der Ver­ant­wort­li­chen. Ein her­aus­ra­gendes Bei­spiel für Under­cover-​Bericht­erstat­tung, die durch harte Belege noch glaub­wür­diger wird und mit ihrer span­nenden Erzähl­weise das ideale Format im Pod­cast findet.

 

Cyprus Con­fi­den­tial

Screen­shot, Cyprus Con­fi­den­tial/ICIJ

Die Inves­ti­ga­tiv­re­dak­tion Paper Trail Media hat eine inter­na­tio­nale Kol­la­bo­ra­tion in Zusam­men­ar­beit mit ZDF Frontal, dem Spiegel und dem Inter­na­tional Con­sor­tium of Inves­ti­ga­tive Jour­na­lists (ICIJ) initi­iert, die Details zum ille­galen Ein­fluss Russ­lands auf euro­päi­sche Staaten offen­legt. Die Reporter*innen dieses cross-​border Pro­jektes erlangten Doku­mente, durch die sie die Finanz­trans­ak­tionen rus­si­scher Olig­ar­chen mit­tels Firmen und Banken auf Zypern auf­de­cken konnten. Die Doku­mente, die zwi­schen den Jahren 1995 und 2002 erstellt wurden, fokus­sieren sich auf Firmen im Steu­er­pa­ra­dies Zypern, das sich durch einen ver­ein­fachten Zugang zu juris­ti­schen wie admi­nis­tra­tiven Ser­vices und Pässen zum Para­dies für rus­si­sche Olig­ar­chen eta­bliert hat. In Deutsch­land war die wich­tigste Ent­hül­lung der umfas­senden Recherche, dass dem deut­schen Jour­na­listen und Putin-​Experten Hubert Seipel 600.000 US-​Dollar von Putin-​nahen Geld­ge­bern gezahlt wurden. Zahl­reiche Artikel wurden inter­na­tional unter dem Namen Cyprus Papers ver­öf­fent­licht, ebenso wie eine Doku­men­ta­tion – wei­tere Details kommen fort­lau­fend ans Licht.  Ins­ge­samt haben die Reporter*innen in 3,6 Mil­lionen Doku­menten recher­chiert – eine Her­aus­for­de­rung, die nur durch Kol­la­bo­ra­tion über­haupt gemeis­tert werden kann.

 

Rekon­struk­tion einer Kata­strophe 

Screen­shot, STRG_F

Am 14. Juni 2023 ereig­nete sich das töd­lichste Schiffs­un­glück unserer Zeit im Mit­tel­meer: Die ‘Adriana’, ein Fischer­boot mit hun­derten Migrant*innen auf ihrem Weg von Libyen nach Europa, sank. Mehr als 600 Men­schen starben in dieser Kata­strophe, nur 50 See­meilen vor der Küste bei Pylos, Grie­chen­land. Aber wer war für diese Hun­derten Toten ver­ant­wort­lich? Dieser Frage ging ein Reporter*innen­team des jungen Video­for­mats Strg_F/ARD gemeinsam mit Teams des Guar­dian, Forensis und Solomon nach. Die Reporter*innen konnten beweisen, dass das Schiffs­un­glück auf­grund des (Nicht-​)Han­delns der grie­chi­schen Küs­ten­wache geschah und dass die zustän­digen Behörden inkon­sis­tente Aus­sagen dazu gemacht hatten. Mit­tels Inter­views mit Über­le­benden und Zeug*innen, Gerichts­do­ku­menten, und einem 2D-​Modell von Forensis gelang es ihnen, die Tra­gödie mit­tels Daten des Schiffs­ver­kehrs zu rekon­stru­ieren. Diese kom­bi­nierten Methoden und gemein­same Her­an­ge­hens­weise der cross-​border Teams sind ein her­aus­ra­gendes Bei­spiel dafür, wie Daten­jour­na­lismus und digi­tale Ana­lyse für Inves­ti­ga­ti­vjour­na­lismus genutzt werden kann. Dafür gewann die Recherche meh­rere Preise – inklu­sive des Daphne Caruana Galizia prize.

 

Kita­not­stand

Screen­shot, COR­RECTIV

Diese Recherche dreht sich um ein kor­rum­piertes System, das die Schwächsten der Gesell­schaft betrifft: Kinder. Die gemein­nüt­zige Cor­rectiv-​Redak­tion hat diese Recherche mit­hilfe ihres Crowd-​News­rooms, einem com­mu­nity-​gestützten Recher­che­tool, durch­ge­führt und konnte so belegen, dass Kitas in Deutsch­land chro­nisch unter­fi­nan­ziert und dem Zusam­men­bruch nahe sind. Neben den Erfah­rungs­be­richten aus dem Crowd News­room ana­ly­sierten die Reporter*innen außerdem Doku­mente, die sie in Kol­la­bo­ra­tion mit Frag­den­Staat erlangten. So konnten sie auf­zeigen, dass das System Kita so falsch läuft, dass ein Groß­teil der Kinder nicht etwa die nötige Für­sorge in Kitas bekommen, son­dern ledig­lich eine Betreuung, in dem etwa jede zwan­zigste Kita-​Mit­ar­bei­terin berichtet, dass sie Grund­be­dürf­nisse der Kinder nicht mehr erfüllen konnte. Viele Kitas müssen außerdem auf­grund von Betreu­ungs­mangel und Burnout-​Fällen immer häu­figer schließen. Die Reporter*innen konnten scho­ckie­rende Erfah­runs­gbe­richte von Betreuer*innen und Eltern über Zustände zusam­men­tragen, unter wel­chen Kinder am meisten leiden. Die Cor­rectiv-​Recherche ist ein gutes Bei­spiel dafür, wie com­mu­nity-​basierter Jour­na­lismus manchmal besser als jedes Doku­ment funk­tio­nieren kann, um ein schwie­riges Thema zu erzählen.

 

Das Krebs-​Kar­tell

Screen­shot, Süd­deut­sche Zei­tung

Manchmal braucht es einen Whist­le­blower, um eine Recherche los­zu­treten. In diesem Fall war das ein Apo­theker, der von seinen Beob­ach­tungen im Job so scho­ckiert war, dass er sich an das Recher­che­team von Süd­deut­scher Zei­tung, WDR und NDR wandte. Er berich­tete den Reporter*innen, dass manche Onkolog*innen eine Prämie von Apo­theken für die Ver­schrei­bung von Che­mo­the­rapie-​Medi­ka­menten ver­langen. Hin­ter­grund ist, dass nur bestimmte Apo­theken in Deutsch­land die teure Medi­ka­tion über­haupt her­aus­geben dürfen. Diese Apo­theken ver­dienen daran offenbar sehr gut – und weil Ärzt*innen in diesem Bereich anders als bei anderen Medi­ka­menten selbst aus­wählen, an welche Apo­theker sie das Rezept schi­cken, ent­stehen Anreize für Kor­rup­tion. Die Recherche deckte dem­entspre­chend ein kor­ruptes System rund um die als “Phar­magold” bezeich­neten  Krebs-​Rezepte auf: Ein großer Teil des Geldes, das Kran­ken­ver­si­che­rungen für die Medi­ka­mente zahlen, fließt nicht etwa in die Her­stel­lung, son­dern zu den Apo­theken. Die Reporter*innen unter­suchten die Preis­listen und konnten so belegen, dass dieser Teil viel höher ist, als er sein sollte. Dem­nach hätten Kran­ken­ver­si­che­rungen jedes Jahr min­des­tens 540 Mil­lionen Euro sparen können. Die Recherche wurde im Rahmen der Recher­che­ko­ope­ra­tion in ver­schie­denen Medien ver­öf­fent­licht und resul­tierte in einer For­de­rung der Kran­ken­kassen nach einer struk­tu­rellen Ände­rung des Sys­tems. Gesund­heits­mi­nister Karl Lau­ter­bach ver­sprach, die Vor­würfe zu unter­su­chen – bisher hat sich am Vor­gehen jedoch nichts geän­dert.

Vor­wurf Macht­miss­brauch: Die Akte Julian Rei­chelt und  Boys Club

Screen­shot, Reschke Fern­sehen

Nor­ma­ler­weise wählen wir nur eine Recherche pro Thema aus. Aber in diesem Fall gibt es zwei so gute Recher­chen, die nur kurz nach­ein­ander erschienen sind und ganz unter­schied­liche Ansätze nutzen, dass wir uns für beide ent­schieden haben. Es geht um die Recher­chen zu mut­maß­li­chem Macht­miss­brauch bei der BILD. 2021 wurde der dama­lige Chef­re­dak­teur Julian Rei­chelt ent­lassen, nachdem interne Ermitt­lungen zu Vor­würfen des Macht­miss­brauchs, sexu­eller Beläs­ti­gung und Fehl­ver­halten bekannt wurden. In diesem Jahr hat sich das NDR-​Format Reschke Fern­sehen noch einmal intensiv damit beschäf­tigt, mit ins­ge­samt fünfzig Quellen gespro­chen und so ein scho­ckie­rendes System aus Sexismus und Macht­miss­brauch um den Ex-​BILD-​Chef auf­ge­deckt. Rei­chelt reagierte auf die zahl­rei­chen recher­chierten Vor­würfe mit einem Ver­fahren, das bis heute andauert. Einen anderen Ansatz wählte der acht­tei­lige nar­ra­tive Pod­cast Boys Club. Die Repor­te­rinnen spra­chen intensiv mit zwei Betrof­fenen und tauchten so tief in die Materie ein, um zu erklären, wie das System BILD funk­tio­niert. Damit zeichnet der Pod­cast ein Bild der Hier­ar­chien, sek­ten­ähn­li­chen Struk­turen und sexis­ti­schen Normen, die den Macht­miss­brauch über­haupt erst mög­lich machten. Beide Recher­chen sind sehr stark – und die unter­schied­li­chen Ansätze zeigen, wie Inves­ti­ga­ti­vjour­na­lismus ver­schie­denste Formen annehmen kann, die sich in nichts nach­stehen.

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