Editors Picks GIJN 2023
Machtmissbrauch, Anschläge, Russische Oligarchen: Das sind die besten Recherchen aus dem Jahr 2023
Der Originalbeitrag auf Englisch findet sich hier
Dieser Jahresrückblick fängt mit einer guten Nachricht an: 2023 war das Jahr der Kooperationen. Investigativredaktionen in Deutschland haben sich mit Kolleg*innen, internationalen Partner*innen und lokalen Communities zusammengetan, um in Millionen von Dokumenten zu wühlen, Katastrophen zu rekonstruieren oder tief in strukturelle Probleme einzutauchen. Ob mutmaßlicher Missbrauch durch einen Musiker, Ausbeutung von Arbeiter*innen, russischer Einfluss auf Europa oder eine tiefgehende Recherche zu Missständen in Deutschlands größter Zeitung: Die besten Investigativrecherchen in diesem Jahr wären ohne Kollaborationen nicht möglich gewesen.
Der Trend hin zu kollaborativem Investigativjournalismus macht Hoffnung in einer Zeit der Krise der Medien und der Angriffe auf die Pressefreiheit. Und er zeigt, wie viel stärker Journalismus sein kann, wenn Redaktionen einander als Verbündete statt als Konkurrent*innen sehen. Die folgenden Recherchen zeigen auch, wie unterschiedlich investigative Ansätze sein können und wie dabei verschiedenste Formate bemüht werden können, um packende Recherchen zu erzählen.
Tatort Ostsee
Als im September 2022 die Nord Stream Gas-Pipelines in der Nordsee von Unbekannten gesprengt wurden, spekulierte man weltweit erfolglos darüber, wer hinter dem Anschlag steckte. Auch wenn Expert*innen sich einig sind, dass die Explosionen durch Sabotage verursacht wurden und mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zusammenhingen, ist die Frage, wer genau dafür verantwortlich ist, noch immer nicht vollends aufgeklärt. Eine Recherchekollaboration diverser Sender und Zeitungen hat sich die Geschehnisse genau angeschaut und mithilfe einer Reise zum Tatort auf einem Segelboots, Gesprächen mit Informanten und Dokumenten rekonstruiert, was am Tag der Explosion geschehen ist. So konnten die Reporter*innen einer Antwort auf die Frage nach Verantwortlichen zumindest so nah kommen, wie es zu diesem Zeitpunkt möglich war. Das Ergebnis ist eine starke Investigativrecherche, die die Methode der Rekonstruktion auf eindrucksvolle Weise nutzt, um neue Erkenntnisse aufzudecken. Veröffentlicht wurden ein fünfteiliger Podcast, eine 36-minütige Dokumentation und mehrere Artikel, die die Hauptfragen über die Geschehnisse erläutern. Ein spannendes Beispiel für redaktionsübergreifende Multimedia-Kollaborationen, die uns ein Stück näher bringt, den Russland-Ukraine Krieg zu verstehen.
Am Ende der Show
Ende Mai 2023 schrieb die Nordirin Shelby Linn auf Twitter, sie habe im Umfeld eines Rammstein-Konzertes angeblich Drogen ins Getränk gemischt bekommen. Ein Reporter*innenteam von NDR und SZ begab sich auf die Suche nach weiteren Frauen, die über ihre Erfahrungen mit Rammstein-Sänger Till Lindemann berichten wollen. Die Recherchen wurden schon wenige Tage später veröffentlicht - und von vielen weiteren Medien aufgegriffen. Sie basierten auf den Aussagen von mehreren mutmaßlichen Betroffenen und legten das System “Row Zero” offen - eine angebliche Auswahl junger Frauen, die rekrutiert worden sein sollen, Lindemann für Sex zugeführt zu werden. Die Recherchen von NDR/SZ führten zu Ermittlungen gegen Lindemann. Allerdings wurden diese wieder fallen lassen – weil die Betroffenen zwar mit Reporter*innen sprachen, nicht jedoch mit den Ermittler*innen. Was folgte war eine öffentliche Debatte über die Frage, ob und wie sich über Missbrauchsvorwürfe überhaupt berichten lässt. Eine wichtige Debatte, die in Deutschland längst überfällig war – und noch viel weiter diskutiert werden sollte. Denn auch wenn die Staatsanwaltschaft keine strafrechtlich relevanten Vorwürfe ermitteln konnte: Diese Recherchen sind ein Meisterstück der Verdachtsberichterstattung.
Inside Tesla
Die Tesla-Fabrik in Brandenburg wurde von Politikern oft als zukunftsweisend angepriesen. Dabei wurde das Prestigeprojekt – eine von Teslas sogenannten “Gigafactories” – in einem Gebiet gebaut, das durch massive Trockenheit und Wasserknappheit bereits jetzt fast einer Wüste gleicht. Schon seit Längerem wird die Fabrik für negative Auswirkungen auf die Umwelt kritisiert, aber nun hat das neu gegründete Stern Investigativ-Team tief im Bauch der Tesla-Fabrik recherchiert: Reporter*innen haben sich undercover als Arbeiter*innen eingeschleust und konnten so unmittelbar von Arbeitsbedingungen und Arbeitsrechtsverletzungen berichten. Diese Beobachtungen fütterte das Team mit geleakten Dokumenten und Zeug*innenaussagen. Das Ergebnis ist ein spannender fünfteiliger Podcast, der Missstände ebenso aufdeckt wie das Wegschauen der Verantwortlichen. Ein herausragendes Beispiel für Undercover-Berichterstattung, die durch harte Belege noch glaubwürdiger wird und mit ihrer spannenden Erzählweise das ideale Format im Podcast findet.
Cyprus Confidential
Die Investigativredaktion Paper Trail Media hat eine internationale Kollaboration in Zusammenarbeit mit ZDF Frontal, dem Spiegel und dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) initiiert, die Details zum illegalen Einfluss Russlands auf europäische Staaten offenlegt. Die Reporter*innen dieses cross-border Projektes erlangten Dokumente, durch die sie die Finanztransaktionen russischer Oligarchen mittels Firmen und Banken auf Zypern aufdecken konnten. Die Dokumente, die zwischen den Jahren 1995 und 2002 erstellt wurden, fokussieren sich auf Firmen im Steuerparadies Zypern, das sich durch einen vereinfachten Zugang zu juristischen wie administrativen Services und Pässen zum Paradies für russische Oligarchen etabliert hat. In Deutschland war die wichtigste Enthüllung der umfassenden Recherche, dass dem deutschen Journalisten und Putin-Experten Hubert Seipel 600.000 US-Dollar von Putin-nahen Geldgebern gezahlt wurden. Zahlreiche Artikel wurden international unter dem Namen Cyprus Papers veröffentlicht, ebenso wie eine Dokumentation – weitere Details kommen fortlaufend ans Licht. Insgesamt haben die Reporter*innen in 3,6 Millionen Dokumenten recherchiert – eine Herausforderung, die nur durch Kollaboration überhaupt gemeistert werden kann.
Rekonstruktion einer Katastrophe
Am 14. Juni 2023 ereignete sich das tödlichste Schiffsunglück unserer Zeit im Mittelmeer: Die ‘Adriana’, ein Fischerboot mit hunderten Migrant*innen auf ihrem Weg von Libyen nach Europa, sank. Mehr als 600 Menschen starben in dieser Katastrophe, nur 50 Seemeilen vor der Küste bei Pylos, Griechenland. Aber wer war für diese Hunderten Toten verantwortlich? Dieser Frage ging ein Reporter*innenteam des jungen Videoformats Strg_F/ARD gemeinsam mit Teams des Guardian, Forensis und Solomon nach. Die Reporter*innen konnten beweisen, dass das Schiffsunglück aufgrund des (Nicht-)Handelns der griechischen Küstenwache geschah und dass die zuständigen Behörden inkonsistente Aussagen dazu gemacht hatten. Mittels Interviews mit Überlebenden und Zeug*innen, Gerichtsdokumenten, und einem 2D-Modell von Forensis gelang es ihnen, die Tragödie mittels Daten des Schiffsverkehrs zu rekonstruieren. Diese kombinierten Methoden und gemeinsame Herangehensweise der cross-border Teams sind ein herausragendes Beispiel dafür, wie Datenjournalismus und digitale Analyse für Investigativjournalismus genutzt werden kann. Dafür gewann die Recherche mehrere Preise – inklusive des Daphne Caruana Galizia prize.
Kitanotstand
Diese Recherche dreht sich um ein korrumpiertes System, das die Schwächsten der Gesellschaft betrifft: Kinder. Die gemeinnützige Correctiv-Redaktion hat diese Recherche mithilfe ihres Crowd-Newsrooms, einem community-gestützten Recherchetool, durchgeführt und konnte so belegen, dass Kitas in Deutschland chronisch unterfinanziert und dem Zusammenbruch nahe sind. Neben den Erfahrungsberichten aus dem Crowd Newsroom analysierten die Reporter*innen außerdem Dokumente, die sie in Kollaboration mit FragdenStaat erlangten. So konnten sie aufzeigen, dass das System Kita so falsch läuft, dass ein Großteil der Kinder nicht etwa die nötige Fürsorge in Kitas bekommen, sondern lediglich eine Betreuung, in dem etwa jede zwanzigste Kita-Mitarbeiterin berichtet, dass sie Grundbedürfnisse der Kinder nicht mehr erfüllen konnte. Viele Kitas müssen außerdem aufgrund von Betreuungsmangel und Burnout-Fällen immer häufiger schließen. Die Reporter*innen konnten schockierende Erfahrunsgberichte von Betreuer*innen und Eltern über Zustände zusammentragen, unter welchen Kinder am meisten leiden. Die Correctiv-Recherche ist ein gutes Beispiel dafür, wie community-basierter Journalismus manchmal besser als jedes Dokument funktionieren kann, um ein schwieriges Thema zu erzählen.
Das Krebs-Kartell
Manchmal braucht es einen Whistleblower, um eine Recherche loszutreten. In diesem Fall war das ein Apotheker, der von seinen Beobachtungen im Job so schockiert war, dass er sich an das Rechercheteam von Süddeutscher Zeitung, WDR und NDR wandte. Er berichtete den Reporter*innen, dass manche Onkolog*innen eine Prämie von Apotheken für die Verschreibung von Chemotherapie-Medikamenten verlangen. Hintergrund ist, dass nur bestimmte Apotheken in Deutschland die teure Medikation überhaupt herausgeben dürfen. Diese Apotheken verdienen daran offenbar sehr gut – und weil Ärzt*innen in diesem Bereich anders als bei anderen Medikamenten selbst auswählen, an welche Apotheker sie das Rezept schicken, entstehen Anreize für Korruption. Die Recherche deckte dementsprechend ein korruptes System rund um die als “Pharmagold” bezeichneten Krebs-Rezepte auf: Ein großer Teil des Geldes, das Krankenversicherungen für die Medikamente zahlen, fließt nicht etwa in die Herstellung, sondern zu den Apotheken. Die Reporter*innen untersuchten die Preislisten und konnten so belegen, dass dieser Teil viel höher ist, als er sein sollte. Demnach hätten Krankenversicherungen jedes Jahr mindestens 540 Millionen Euro sparen können. Die Recherche wurde im Rahmen der Recherchekooperation in verschiedenen Medien veröffentlicht und resultierte in einer Forderung der Krankenkassen nach einer strukturellen Änderung des Systems. Gesundheitsminister Karl Lauterbach versprach, die Vorwürfe zu untersuchen – bisher hat sich am Vorgehen jedoch nichts geändert.
Vorwurf Machtmissbrauch: Die Akte Julian Reichelt und Boys Club
Normalerweise wählen wir nur eine Recherche pro Thema aus. Aber in diesem Fall gibt es zwei so gute Recherchen, die nur kurz nacheinander erschienen sind und ganz unterschiedliche Ansätze nutzen, dass wir uns für beide entschieden haben. Es geht um die Recherchen zu mutmaßlichem Machtmissbrauch bei der BILD. 2021 wurde der damalige Chefredakteur Julian Reichelt entlassen, nachdem interne Ermittlungen zu Vorwürfen des Machtmissbrauchs, sexueller Belästigung und Fehlverhalten bekannt wurden. In diesem Jahr hat sich das NDR-Format Reschke Fernsehen noch einmal intensiv damit beschäftigt, mit insgesamt fünfzig Quellen gesprochen und so ein schockierendes System aus Sexismus und Machtmissbrauch um den Ex-BILD-Chef aufgedeckt. Reichelt reagierte auf die zahlreichen recherchierten Vorwürfe mit einem Verfahren, das bis heute andauert. Einen anderen Ansatz wählte der achtteilige narrative Podcast Boys Club. Die Reporterinnen sprachen intensiv mit zwei Betroffenen und tauchten so tief in die Materie ein, um zu erklären, wie das System BILD funktioniert. Damit zeichnet der Podcast ein Bild der Hierarchien, sektenähnlichen Strukturen und sexistischen Normen, die den Machtmissbrauch überhaupt erst möglich machten. Beide Recherchen sind sehr stark - und die unterschiedlichen Ansätze zeigen, wie Investigativjournalismus verschiedenste Formen annehmen kann, die sich in nichts nachstehen.
Autor: sulrich / Datum: 13.12.2023 / Kommentieren