Keine Pressefreiheit ohne Menschenrechte – Barbara Lochbihler
Vortrag von Barbara Lochbihler auf der Jahreskonferenz des Netzwerk Recherche, 15. Juni 2007
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bedanke mich sehr für die Gelegenheit, heute zu Ihnen über die Pressefreiheit sprechen zu dürfen. Sie alle sind Frauen und Männer der journalistischen Praxis, und es wird in den nächsten zwei Tagen auch darum gehen, wie ganz praktisch die Pressefreiheit verletzt wird, namentlich in Osteuropa. Das mir gestellte Thema „Keine Pressefreiheit ohne Menschenrechte“ verlangt hingegen nach Grundsätzlichkeit, und ich will auch gleich ein paar grundsätzliche Anmerkungen machen. Doch auch wir von amnesty international sind Frauen und Männer der Praxis, uns interessiert zunächst und vor allem die konkrete Menschenrechtsverletzung und das davon betroffene Opfer, und auch davon soll in den nächsten 15 Minuten die Rede sein.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte erst kürzlich in einer Entscheidung fest1: „Die Meinungsfreiheit ist eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Selbstbestimmung eines jeden Individuums … Die Freiheit gilt nicht nur der ‚Information’ und den ‚Ideen’, die als vorteilhaft, genehm oder problemlos empfunden werden; sondern auch jenen Informationen und Ideen, die beleidigen, schockieren und stören. Dies verlangen die Gebote des Pluralismus, der Toleranz und der Offenheit, ohne die es eine demokratische Gesellschaft nicht geben kann.“
Der Gerichtshof hätte hier auch sagen können: Das verlangt der Gedanke der Menschenrechte. Ich habe dieses Zitat aus zwei Gründen an den Anfang gestellt. Erstens, weil es von der überragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit für freiheitliche und demokratische Gesellschaften spricht. Und zweitens, weil es den Grundgedanken der Menschenrechtsidee benennt: Die Rechte kommen einem jeden Menschen unveräußerlich zu, egal, ob jemand anderem das nun passt oder nicht, egal, ob sich Herrschende geschockt oder gestört fühlen, und auch weitgehend unabhängig davon, ob sich der Betreffende selbst an die gesellschaftlichen Normen und Regeln hält oder nicht. Und ich will gleich zu Beginn daran erinnern, dass dieser Gedanke noch immer keineswegs selbstverständlich ist. Er hat, schaut man auf die alltägliche weltweite Praxis, noch immer viel im besten Sinne revolutionäres Potential.
Die Pressefreiheit als Menschenrecht: Überspringen wir die gesamte ideengeschichtliche und kämpferische Geschichte der Menschenrechte vor 1945 und betrachten wir die für uns wesentlichen Basisdokumente, die nach der Barbareierfahrung des Zweiten Weltkriegs entstanden. Man stellt zunächst erstaunt fest: Von Pressefreiheit ist da gar nicht so sehr die Rede. Noch im ganzen 19. Jahrhundert war die „Pressfreiheit“ ein umkämpfter und zentraler Begriff emanzipatorischer Anstrengungen. Doch weder in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (AEMR) noch in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 (EMRK) noch im Internationalen Pakt über die bürgerlichen und zivilen Rechte von 1966 (Zivilpakt) kommt der Begriff direkt vor – und dies, obwohl nun individuelle Abwehr und Anspruchsrechte erstmals völkerrechtlichen Rang und Verbindlichkeit erfuhren, d.h. das Individuum als Rechtsträger im supranationalen Kontext anerkannt wurde.
Ganz anders im deutschen Grundgesetz. Artikel 5 schützt mindestens fünf Freiheitsrechte ganz ausdrücklich, nämlich die Meinungsäußerungs und verbreitungsfreiheit, die Informationsfreiheit (aus allgemein zugänglichen Quellen), die Pressefreiheit, die Rundfunkfreiheit, die Film- bzw. Fernsehfreiheit. Und er verfügt, ebenfalls ganz ausdrücklich, ein Zensurverbot.
Dass die menschenrechtlichen Texte hier zurückhaltender sind, mag auch mit unterschiedlichen Rechtsstraditionen zu tun haben, worauf vereinzelt verwiesen wird. Doch der Grund scheint mir ein anderer zu sein, sozusagen ein menschenrechtlicher. Pressefreiheit ist ohne einen größeren menschenrechtlichen Kontext gar nicht zu denken, und auf diesen kommt es an. Sie wird nämlich aus einem umfassenden Menschenrecht auf freie Kommunikation abgeleitet. Artikel 19 der AEMR lautet: „Jedermann hat das Recht auf Freiheit der Meinung und der Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die unbehinderte Meinungsfreiheit und die Freiheit, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut durch Mittel jeder Art sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.“ Die EMRK, Art. 10, behandelt das Recht auf freie Meinungsäußerung – das, als Grundlage, das Recht auf freie Meinung („Geistesfreiheit“) einschließt. Medien werden eher implizit bzw. negativ behandelt: Absatz 1 stellt fest, dass Staaten die Rundfunk- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen können. Die Printmedien sind nicht genannt. Der völkerrechtlich verbindliche Zivilpakt greift die Meinungsfreiheit ebenfalls in seinem Artikel 19 auf und spezifiziert sie als die Freiheit, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.“ Hier immerhin ist das gedruckte Wort genannt. Aber auch hier ist deutlich: Es geht um einen größeren Gesamtzusammenhang.
Pressefreiheit ist also als Teil der Meinungsfreiheit ein Menschenrecht. Das Bundesverfassungsgericht bewertet die Meinungsfreiheit in seiner ersten grundlegenden Entscheidung zum Artikel 5 GG in kaum zu überbietender Weise: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarer Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt…. Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend (….) Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt.“ (BverfGE 7, 198 (208), v. 15.1.1958).
Die Meinungsfreiheit – oder auch Meinungsäußerungsfreiheit – wiederum steht im Kontext und in Beziehung zu anderen Menschenrechten. Schaut man auf die unmittelbare Nachbarschaft des Artikel 19 der AEMR und des Zivilpakts, so finden wir in Art. 18 die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, in Artikel 20 (bzw. 21 und 22 im Zivilpakt) die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Der Zivilpakt schiebt übrigens als Artikel 20 das Verbot jeder Kriegspropaganda sowie von Hassreden dazwischen, genau jene Einschränkung, die amnesty international im Zweifelsfall an die Meinungsfreiheit anlegt.
Beide „Nachbarrechte“ – die Gedanken-, Gewissen- und Religionsfreiheit wie die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit zählen sowohl im privatpersönlichen wie im öffentlichkeitsbezogenen Verständnis zu den fundamentalen Menschenrechten.
Ich will noch kurz auf einen anderen Kontext verweisen. Ab Artikel 22 benennt die AEMR eine ganze Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Rechten: Das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 22); Das Recht auf Arbeit und gerechte Entlohnung (Art. 23); Das Recht auf Gesundheit (25), auf Bildung (Art. 26). Diese „Wirtschaftlichen, Sozialen und Kulturellen Rechte“ bezeichnen Juristen gerne als Anspruchsrechte, im Unterschied zu den Abwehrrechten, zu denen die vorgenannten, darunter die Meinungsfreiheit gehören. Die AEMR stellt bis heute den umfassendsten Katalog freiheitlich-politischer und wirtschaftlich-sozial-kultureller Rechte dar. Und dieses Zusammengehen verweist auch darauf, dass die einen ohne die anderen nicht funktionieren können. Wer sein Recht auf Bildung nicht wahrnehmen kann, also nicht lesen kann, zudem so arm ist, dass Zeitungen zu einem Luxus zählen, der für ihn finanziell unerreichbar ist, für den ist die Pressefreiheit materiell wertlos, solange nicht seine anderen Menschenrechte verwirklicht sind.
Wie steht es um die Pressefreiheit in der Welt? Nicht gut, das wissen Sie aus Ihrer Arbeit. Es würde meine Zeit und Ihre Geduld überfordern, wollte ich hier umfassend Auskunft geben. Mit Osteuropa vor allem werden Sie sich ohnehin ausführlich befassen. Ich greife mal eine Region heraus, die wir im kürzlich vorgestellten Jahresbericht 2007 unter dem Stichwort Meinungs- und Pressefreiheit im Fokus hatten: Den Nahen Osten.
Die meisten Regierungen im Nahen Osten waren im Jahr 2006 darauf bedacht, die Kontrolle über die öffentliche Meinung zu behalten, und setzten der Äußerung abweichender Meinungen enge Grenzen. Medien riskierten strafrechtliche Verfolgung, wenn sie Vertreter der Regierung oder anderer staatlicher Stellen kritisierten. In Algerien, Ägypten und Marokko wurden Journalisten auf der Grundlage von Gesetzen über Verleumdung strafrechtlich verfolgt, während im Iran nach wie vor Zeitungen ihr Erscheinen einstellen mussten oder Journalisten inhaftiert oder misshandelt wurden. Die staatlichen Kontrollen erstreckten sich auch auf das Internet. Die Regierung von Bahrain verbot mehrere Webseiten, und die syrischen Behörden blockierten den Zugang zu Homepages, auf denen Nachrichten und Kommentare über Syrien angeboten wurden. In Ägypten und im Iran wurden Blogger, die die Behörden kritisiert hatten, in Haft genommen. Menschen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung einforderten, riskierten ihre Festnahme und Inhaftierung sowie Schikanen und Einschüchterungsmaßnahmen. Besonders groß war diese Gefahr im Iran, in Syrien, Tunesien und der Westsahara.
Der Rückschlag, den die Menschenrechte seit 9/11 erfahren haben, hat auch die Pressefreiheit berührt. Konnte man vor 2001 von einem zumindestens theoretischen und zumindest unter Rechtsstaaten vorfindlichen Konsens sprechen, dass internationale Politik den Leitsätzen der Menschenrechte zu folgen habe, so ist dieser Konsens verloren gegangen. Im Gegenteil, es scheint so, als sei heute derjenige begründungspflichtig, der genau darauf pocht – auch im Kampf gegen Terrorismus. Der Primat einer militärisch verstandenen Sicherheitspolitik hat zu Gesetzen geführt, die auch in westlichen Demokratien die Pressefreiheit einschränken – und zu Forderungen, die Pressefreiheit müsse hinter dem Erfordernis der Terrorbekämpfung zurückstehen. In vielen Ländern nehmen Regierungen den Antiterrorkampf als willkommene Legitimierung, die ohnehin betriebene Unterdrückung politischer Opposition und Meinungsfreiheit zu intensivieren. In Usbekistan hat sich das Klima für unabhängigen Journalismus derart verschlechtert, dass die BBC im November ihr Büro in Taschkent schließen musste. In Pakistan sind auch Journalisten unter den Hunderten, die in den letzten Jahren im Zuge des Antiterrorkampfes „verschwunden“ sind. Andere sind noch da, werden aber immer wieder schikaniert und willkürlich verhaftet.
Die Zahl getöteter Journalisten in Kriegsgebieten ist in den letzten Jahren stark gestiegen; allein im Irak kamen seit Beginn des Krieges 2003 mindestens 139 Journalisten gewaltsam ums Leben. Immer öfter sterben Journalisten nicht nur im Kreuzfeuer oder durch Unfälle, sondern durch gezielte Angriffe bewaffneter Gruppen. Stellvertretend für alle erinnere ich an die Korrespondentin des arabischen Nachrichtensenders Al-Arabiya, Atwar Bahjat, ihren Kameramann Adnan Khairallah und den Tontechniker Khaled Mohsen. Sie wurden im Februar 2006 in Samarra nördlich von Bagdad entführt und umgebracht. Ständig steigt auch die Zahl entführter Journalisten, was unterstreicht, dass Journalisten zunehmend Opfer gezielter Maßnahmen werden. amnesty international unterstützt die Forderung, dass internationale Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. amnesty international hat den UN-Sicherheitsrat aufgerufen,solche Maßnahmen zu ergreifen. Der Sicherheitsrat hat am 23.12.2006 die Angriffe auf Journalisten verurteilt und alle Konfliktparteien aufgerufen, solche Angriffe zu beenden. amnesty international hat mit anderen Organisationen eine Kampagne für ein Protective Press Emblem (PEMBLEM) für Medienvertreter in Konfliktgebieten begonnen. Das alles reicht natürlich nicht. Wie alle Zivilisten müssen Journalisten im Krieg geschützt werden, so sieht es das Völkerrecht vor, und wie bei allen völker- und menschenrechtlichen Bestimmungen müssen wir unablässig daran arbeiten, das die Bestimmungen in substantiellen Schutz umgesetzt werden.
In vielen Ländern erlauben nationale Bestimmungen, dass Journalisten eingeschüchtert und verfolgt werden. In der Türkei gibt es ungeachtet zahlreicher substantieller Reformen weiterhin den Strafbestand der „Verunglimpfung des Türkentums“, nunmehr Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches. Diese Bestimmung dient seit Jahrzehnten dazu, kritische Journalisten zu verfolgen. Im Iran sind es Bestimmungen zur „Beleidigung“ der Religion wie Artikel 513 des iranischen Stragesetzbuches, die denselben Effekt haben. Dieser Artikel sieht sogar die Möglichkeit vor, die Todesstrafe zu verhängen. amnesty international fordert seit langem die ersatzlose Streichung des Artikels 301 in der Türkei und anderer vergleichbarer Bestimmungen.
Die Nachrichtentechnik verändert sich, die Verletzungen der Pressefreiheit auch. Wir haben es heute zunehmend mit dem Phänomen der Internetrepression zu tun. Derzeit hoch im Kurs ist das „Chinesische Modell“: ein regierungskontrolliertes Internet, das wirtschaftlichem Wachstum alle Freiheiten, der freien Meinung hingegen keine Chance einräumt. 25 Staaten sind es mindestens, die derzeit im Staatsauftrag inhaltliche Filter für das Internet einsetzen. In China selbst sind Hunderte von Webseiten gesperrt. Angeblich überwachen mehr als 30.000 Polizisten das Internet rund um die Uhr. Wer in China „Demokratie“, „Menschenrechte“ oder „amnesty international“ in eine Suchmaschine eingibt, erhält praktisch keine Treffer. Die Technologie für das Filtern von Suchbegriffen oder das Blocken von websites kommt von ausländischen Unternehmen wie Yahoo, Google, Microsoft oder Cisco. In der deutschen amnesty-Sektion läuft zur Zeit eine erfolgreiche Kampagne, die die Schicksale einiger verfolgter Journalisten herausstellt. Shi Tao ist einer von ihnen, ein 38-jähriger chinesischer Journalist und Dichter. Er bekam eine Redaktionssitzung mit, in der kurz vor dem Jahrestag des Massakers auf dem Tiananmen-Platz ein Richtlinie der Partei zur Kenntnis gegeben wurde. Sie sah strikte Verhaltensvorschriften für die Berichterstattung rund um den Jahrestag vor. Shi Tao mailte die Inhalte dieser Richtlinie unter Pseduonym an die Stiftung „Asia Democracy“ in New York. Monate später stand die Polizei vor seiner Tür. Yahoo hatte die IP-Adresse von Shi Taos Rechner weitergegeben und ihn damit an die Behörden ausgeliefert. Shi Tao erhielt 10 Jahre Haft. Man habe eine Selbstverpflichtung unterschreiben müssen, um in China tätig sein zu können, heißt es bei Yahoo. amnesty international hat im letzten Jahr die Kampagne „irrepressible dot info“ gestartet, die sich gegen die wachsende Zensur im Internet richtet. Auf http://irrepressible.info können Sie online dagegen protestieren.
Erlauben Sie mir zum Schluss ein anlassgemäßes Wort zu meiner Organisation. Wollte man es etwas überspitzen, könnte man sagen: der Embryo von amnesty international ist ein Zeitungsartikel. Jedenfalls setzen wir unser Geburtsdatum auf den 28. Mai 1961, auf den Tag also, an dem in der britischen Zeitung „The Observer“ ein ganzseitiger Artikel des Rechtsanwalts Peter Benenson erschien. Darin rief Benenson dazu auf, sich der Initiative „Appeal for Amnesty“ anzuschließen. Bei der Schilderung der Schicksale stützte sich Benenson wiederum auf Zeitungsberichte. Binnen weniger Wochen wurde Benensons Artikel ganz oder in Auszügen von rund 30 Zeitungen in Europa und den USA übernommen. In diesem Kreis sei noch darauf hingewiesen, dass zu den 14 Gründern der deutschen amnesty-Sektion, die sich noch im selben Jahr 1961 konstituierte, sieben Journalisten und Publizisten gehörten, darunter Carola Stern und Gerd Ruge.
Menschenrechte sind eine öffentliche Angelegenheit. Menschenrechtsarbeit – auch zum Schutz der Pressefreiheit – kann nicht nur den Weg der stillen Diplomatie gehen. Menschenrechtsarbeit ist deshalb notwendig Öffentlichkeitsarbeit. Es liegt in der Idee der Menschenrechte selbst, dass sie Gegenstand einer weltöffentlichen Debatte sind. Öffentlichkeit ist aber auch für die konkrete Arbeit zum Schutz von und Gerechtigkeit für Opfer unverzichtbar. Es ist banal, aber immer wert, sich ins Gedächtnis zu rufen: Der schlimmste Feind der Menschenrechtsverletzung ist Öffentlichkeit. Öffentlichkeit ist Prävention. Öffentlicher Druck ist oft das wichtigste, zu oft das einzige Mittel im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen. Doch die Öffentlichkeitsarbeit von Organisationen wie amnesty international, von Anwälten oder anderen Menschenrechtsverteidigern allein reicht nicht aus. Die Unterstützung durch die Medien ist unabdingbar. Deswegen ist unabhängiger Journalismus aus Sicht der Menschenrechtsarbeit so unverzichtbar, und deshalb gehören Journalisten zu den gesellschaftlichen Gruppen, die Menschenrechtsverletzer besonders im Visier haben. Kritische Journalisten sind für sie nämlich gleichsam existenzbedrohend.
Wir von amnesty international würden Sie nie auffordern, sich mit uns „gemein zu machen“, auch wenn es natürlich „eine gute Sache“ ist, für die wir eintreten. Sie merken, ich spiele auf Ihr Podium morgen Vormittag an. Im Gegenteil, wir wollen, dass Sie unser Material zum Anlass nehmen, selbst über Menschenrechtsverletzungen und Menschenrechtsthemen zu recherchieren um dann unabhängig darüber zu berichten. Wir sind bemüht, seriöse Informationen zu geben, die Ihre Arbeit unterstützen. Wir wünschen uns allerdings, dass Sie vielleicht ein bisschen öfter und prominenter die Themen aufgreifen, die wir „anzubieten“ haben. Denn in der Tat sind wir der Meinung, dass das Thema Menschenrechte nicht beliebig ist, sondern eines, das im Zentrum jeder Politik steht. Denn Menschenrechte sind, um noch einmal den Europäischen Gerichtshof aufzugreifen, „die wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Selbstbestimmung eines jeden Individuums“. Menschenrechte sind also Voraussetzung und Leitlinie für all das, was Politik sinnvollerweise erreichen soll. Und insofern ein Muss für den Journalismus, den Sie hier vertreten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
1) Albert Engelmann-Gesellschaft vs. Österreich, Entscheidung vom 19. Januar 2006, der Vorfall – der Generalvikar der Erzdiözese Salzburg war 1996 in einer katholischen Zeitschrift u.a. als „Rebell“ bezeichnet worden und hatte auf Verleumdung geklagt und in zwei Instanzen Recht erhalten; die beklagte Zeitschrift wertete die Urteile als Verletzung der Presse- und Informationsfreiheit nach Art. 10 EMRK und bekam beim EGMR Recht.