Studie: Recherchejournalisten sind in Deutschland „exotische Außenseiter“
Untersuchung kritisiert veraltete Redaktionsstrukturen, dünne Personaldecken und zu knappe Budgets – Vergleich der Bedingungen des investigativen Journalismus in deutschen und US-amerikanischen Tageszeitungen
Deutsche Tageszeitungen versagen bei ihrer wichtigsten Aufgabe: Der Kontrolle von lokalen und regionalen Eliten. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Journalistenorganisation Netzwerk Recherche, die jetzt im LIT-Verlag veröffentlicht wurde. Ursache für das Versagen sind veraltete Redaktionsstrukturen, schlechtes Personalmanagement, dünne Personaldecken und zu wenig Geld für die Recherche. Als Konsequenz findet ein aufdeckender Journalismus, der seine Kontrollaufgabe wahrnimmt, nur in seltenen Ausnahmefällen statt – zumeist dann, wenn idealistische Redakteure ihre Freizeit für die Recherche opfern.
„Bedingt ermittlungsbereit. Investigativer Journalismus in Deutschland und in den USA“ lautet der Titel der Studie von Lars-Marten Nagel. Sie erscheint in der Reihe „Recherche-Journalismus und kritische Medienpolitik“, die vom Netzwerk Recherche herausgegeben wird. Die Studie untersucht sechs Fallbeispiele deutscher und amerikanischer Tageszeitungen auf ihre Umsetzung investigativer Berichterstattung. Der Autor hat die Zeitungen Washington Post, St. Louis Post-Dispatch, Kansas City Star, Süddeutsche Zeitung, Berliner Zeitung und Sächsische Zeitung besucht und die Mitarbeiter bei ihrer Tätigkeit begleitet. Insgesamt 35 Reporter, Redakteure und Chefredakteure, oftmals Pulitzeroder Wächterpreisträger, wurden für die Studie interviewt.
Die Studie kommt zu einem für Deutschland ernüchterndem Ergebnis: Während US-Zeitungen gezielt Geld und Personal für die Recherche bereitstellen und die Jagd nach preis- und prestigeträchtigen Skandalen als lohnende Investition ansehen, bleiben Recherchejournalisten deutscher Tageszeitungen exotische Außenseiter. Der deutsche Redakteur ist bestenfalls bedingt ermittlungsbereit. Die schwache Ausrichtung auf investigative Berichterstattung betrifft vor allem die regionalen Tageszeitungen. In der überregionalen Qualitätspresse sieht die Situation etwas besser aus, kann aber auch nicht als befriedigend bezeichnet werden.
Die wichtigsten Kritikpunkte der Studie:
- Die herkömmlichen Ressortstrukturen und das Modell eines Redakteurs, der als Generalist für Nachrichtenauswahl, Recherche, Schreiben, Redigieren, ggf. sogar Layout und Fotografie zuständig ist, verhindern die notwendige Konzentration und Spezialisierung auf Recherche.
- Innovative Redaktionsstrukturen wie News Desk oder Rechercheteams werden nur eingesetzt, um Personal abzubauen, nicht aber um die Rechercheleistung der Zeitungen zu verbessern.
- Deutsche Recherchejournalisten sind zumeist auf sich gestellte Einzelkämpfer. Ihr Recherchepensum schwankt, weil sie parallel ihre Arbeitsaufgaben als Ressortredakteure erfüllen müssen. Reine Recherchejournalisten, wie in den USA üblich, sind eine Ausnahmeerscheinung.
- Eine gezielte Honorierung von Recherche-Erfolgen fehlt. Vor dem Hintergrund, dass bei investigativer Recherche Arbeitszeit und Textmenge in keinem Verhältnis zueinander stehen, führt die allerorts übliche zeilenabhängige Honorierung ins Absurde: Recherchen freier Mitarbeiter werden regelrecht verhindert, weil Textmenge – nicht Recherchetiefe oder Qualität – belohnt wird.
- Die Volontärsausbildung vernachlässigt die Recherche bislang weitgehend. Es mangelt an Ausund Fortbildungsangeboten.
- Die in den USA seit Jahren praktizierte Recherchetechnik des „Computer-Assisted Reporting“ hat bislang keinen Eingang in die deutsche Presse gefunden. Dabei besteht ein großes Entwicklungspotential.
- Deutsche Journalisten haben nach wie vor häufig eine Selbstwahrnehmung, die Leitartikel und Seite-3-Reportage überbewertet und Rechercheleistung unterbewertet. Chefredaktionen steuern kaum gegen.
- Investigative Recherche wird von allen Beteiligten als extrem kostenaufwändig beschrieben. Genaue Erhebungen dieser Kosten, etwa über ein Budget der investigativen Mitarbeiter, fehlen aber vollständig.
Die schwache Ausprägung des Recherchejournalismus bei den deutschen Tageszeitungen ist umso unbefriedigender, weil sich einige Rahmenbedingungen, die investigative Rechercheure bei ihrer Arbeit beeinflussen, in den letzten Jahren positiv entwickelt haben.
Initiativen und Interessenverbände wie das Netzwerk Recherche, das Whistleblower-Netzwerk oder das Sportnetzwerk haben sich etabliert und setzen sich für Recherche- und Qualitätsjournalismus ein.
Neue Gesetze wie das bundesweite Informationsfreiheitsgesetz (IFG) geben dem Recherchejournalisten frische Werkzeuge in die Hand. Ähnlich wie beim Freedom of Information Act, der in den USA seit den 60er Jahren existiert, wird in Deutschland das IFG wohl erst nach einer Anlaufphase die volle Wirksamkeit entfalten. Für die Tagespresse kommt es darauf an, sich diese Gesetze zu Eigen zu machen und sich den Informationszugang konsequent zu erstreiten. Auch die öffentliche Anerkennung für Rechercheleistung nimmt – messbar an der Zahl der dafür vergebenen Journalistenpreise (Wächterpreis, Henri-Nannen-Preis, Leuchtturmpreis, Otto-Brenner-Preis) – langsam zu.
Die Studie mahnt an, diese Chance nicht zu verpassen. Deutsche Regionalzeitungen sollten reagieren und ihre Recherchekapazitäten erhöhen, Redaktionsstrukturen und Personalmanagement überdenken. Um ihnen eine Hilfestellung zu geben, geht das Buch über eine rein deskriptive Zustandskritik hinaus. Es entwickelt Vorschläge, mit denen Redaktionen gezielt, systematisch und dauerhaft ihre Rechercheleistungen verbessern können.
Nagel, Lars-Marten (2007): Bedingt ermittlungsbereit. Investigativer Journalismus in Deutschland und in den USA. (Reihe „Recherchejournalismus und kritische Medienpolitik“, Bd. 6, hrsg. vom Netzwerk Recherche). Münster: LIT-Verlag.