Laudatio zur Verleihung der Verschlossenen Auster 2010
Austerpreisträger: die Katholische Kirche
Laudator: Prof. Dr. Heribert Prantl leitet die Redaktion Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung
Der heilige Christophorus ist, wie allgemein bekannt, der Schutzpatron der Autofahrer. Aber nicht nur die Autofahrer haben einen Schutzpatron, sondern auch die Journalisten – die meisten Journalisten wissen das gar nicht. Viele Journalisten wollen wohl gar keinen katholischen Schutzpatron haben und empfinden ihn als aufgedrängte Bereicherung. Diese Bereicherung heißt jedenfalls Franz von Sales: Papst Pius XI. hat ihn im Jahr 1923 zum Journalistenpatron gekürt.
Der heilige Franz von Sales lebte im 16. Jahrhundert und war Bischof von Genf. Im Jahr 1564, ganz am Beginn seiner priesterlichen Tätigkeit, erhielt er den Auftrag, die Menschen im Chablais, also südlich vom Genfer See, wieder für den katholischen Glauben zu gewinnen; sie waren im Zug des Reformation zum Calvinismus übergetreten. Als die politischen Machthaber von dieser Mission des Franz von Sales erfuhren, verboten sie der Bevölkerung unter Strafe, dessen Predigten zu besuchen. Der junge Prediger musste andere Wege finden, seine Botschaft unters Volk zu bringen. Er druckte also seine Predigten auf Flugblätter, heftete sie an Bäume, Tore und Haustüren. Und er hatte Erfolg damit: Nach drei Jahren konnte er seinem Bischof die Rückkehr der Bevölkerung zum katholischen Glauben berichten.
Dieser Erfolg beruhte nicht allein auf dem damals gerade modern gewordenen Medium Flugblatt, sondern vor allem darauf, dass der Mann die richtigen Worte fand: Erstens übernahm er nicht den damals bei Glaubensauseinandersetzung allgemein üblichen polemischen Stil; zweitens war seine Recherche über den Calvinismus, mit dem er sich auseinandersetzte, sehr präzise; drittens verfasste er seine Flugblatt-Texte in der Landessprache, was in der vom Latein beherrschten katholischen Kirche sensationell war.
Franz von Sales konnte also das, was die katholische Kirche heute nicht mehr kann: er war glaubwürdig; er kannte die richtigen Worte; er hatte die Sprache, um Gehör und Glauben zu finden. Diese große Gabe ist der katholischen Kirche nicht mehr gegeben. Eine Gemeinschaft, die vom Wort lebt wie keine andere, hat die Sprache verloren. Sie ist sprach- und sprechunfähig geworden, nicht nur, aber vor allem, wenn es um ihr Verhältnis zur Sexualität geht. Die Diskussion über den Zölibat samt der Sexualität der Priester ist ein Tabu, die Diskussion über die katholische Sexuallehre ist ein Tabu, das Reden über Verhütung ist tabu. Wenn es so viele Tabus gibt, gibt es keine Wahrhaftigkeit mehr. Die Institution, die diese Tabus aufgestellt hat, geht den heiklen Fragen aus dem Weg, weil sie keine Antworten geben will. Und wenn die Fragen gleichwohl drängend werden, schlagen die Antworten Haken wie der Hase auf der Flucht. Ausgerechnet die Kirche als Fachinstitution für das Benennen und Eingestehen von Verfehlungen, als Fachinstitution für Schuldbekenntnis, Buße, Reue und Vergebung musste und muss von Opfern und Medien gezwungen werden, Stellung zu beziehen.
Ritus und Liturgie der Kirche bauen auf den Glauben daran, dass Worte eine Kraft haben, die sogar Materie verwandeln kann. Das Wort hat die Kraft zur Wandlung. „Im Anfang war das Wort” – so beginnt denn auch das Johannesevangelium. Das bedeutet unter anderem: Der Evangelist Johannes war der erste Kommunikationswissenschaftler. Und das bedeutet vor allem: Kirche ist Kommunikation. Ohne Kommunikation gibt es keine Mission, keine Klarheit, keine Wahrheit. Unterdrückung von Kommunikation ist daher nicht Mission, sondern Demission. Wenn beispielsweise das Bistum Regensburg gegen das Online-Portal Regensburg Digital klagt, wenn sie es Kritiker zum Schweigen bringen will, und sich die deutsche Bischofskonferenz weigert, dazu eine Stellungnahme abzugeben, dann mag das zwar juristisch zulässig sein, aber es ist eine Demission.
Die Kirche redet wenig, die Opfer reden viel. Aus der Schweigespirale ist eine Redespirale geworden; darüber mäkeln kann nur der, der die Opfer nicht kennt. Seitdem der mutige Pater Klaus Mertes als Rektor des Berliner Canisiuskollegs der Jesuiten im Januar 2010 in einem Brief an 600 ehemalige Schüler die jahrelangen sexuellen Übergriffe durch Lehrkräfte an seiner Schule öffentlich bekannt hat, haben Opfer im ganzen Land den Mut zum Reden gefunden. Die Erschütterung, die Mertes zu seinem Schritt getrieben hat, sie hat die Mauern der reformpädagogische orientierten Odenwald-Schule genauso zum Einsturz gebracht wie die des konservativen Klosters Ettal. Die Schweigespirale wurde umgedreht; und angesichts der vielen Jahrzehnte, die geschwiegen worden war, kann nach den paar Monaten des Erkennens und Bekennens gewiss nicht sagen, dass nun schon zu viel geredet wird. Dieses Reden ist das beste Mittel gegen sexuelle Gewalt.
Man muss mit den Opfern reden, dann versteht man, worum es geht. Matthias Drobinski, der Kirchenredakteur der Süddeutschen Zeitung, hat das so geschildert: „Sie rufen an und reden und hören gar nicht mehr auf, sie schreiben Mails, die kein Ende finden, die schreien vor Not und Bitterkeit. Die Verletzung von vor 20, 30 oder 40 Jahren ist ihnen Gegenwart geblieben, die Demütigung, die ins Intime, ins letzte Eigene vordringt und es zerstört. Ein Erwachsener übt totale Macht aus über den Körper und die Seele eines Kindes – das allein ist furchtbar. Dass er es im Namen er Institution, der guten Sache, der Religion, gar Gottes tut, macht das Verbrechen unfassbar.”
Die Kirche war nicht die Täterin des sexuellen Missbrauchs. Aber sie war und ist die Heimat der Täter. Sie hat ihnen die heiligen Räume zur Verfügung gestellt, in denen die Täter so geschützt agieren konnten und in denen die Opfer so ungeschützt waren; sie, die Kirche hat den Tätern die Würde des Amtes verliehen, mit der sie sich tarnen und in der sie sich verstecken konnten. Es sind so viele Amtsträger, die als unwürdig entlarvt worden sind, und bei fast allen hat die Amtskirche so lange weggeschaut hat. Und lügnerische Figuren wie der zurückgetretene Augsburger Bischof Walter Mixa haben das Wort Hierarchiezu einem Synonym für Heuchelei gemacht. Und so sind auch zahllose untadelige, hochengagierte Seelsorger und Jugenderzieher unter Generalverdacht geraten. Das ist gewiss nichts, was evangelische Christen klammheimlich freuen kann; denn dieser Generalverdacht infiziert alles Kirchliche.
Die Kirche hat eine Garantenstellung dafür, dass ihre Amtsträger die heiligen Räume, die Würde des Amtes und das damit verbundene Vertrauen nicht missbrauchen. Sie muss Vorsorge treffen, dass das nicht geschieht; und sie muss Nachsorge treffen, wenn es geschehen ist. Sie hat das so lange nicht getan: Die Amtskirche, bis hinauf zu dem Mann, der heute Papst ist, hat seinerzeit neue Verbrechen an Kindern nicht konsequent verhindert, als sie von den alten Verbrechen erfahren hatten. Sie hat pädophile Priester einfach wo anders hin versetzt, sie hat die Fälle von sexueller Gewalt an Schutzbefohlenen der Kirche viele Jahre systematisch verschleiert. Und erst in jüngster Zeit hat sie begonnen, die Schleier abzulegen und weg zu reissen – gedrängt von den Opfern und den Medien.
In der Kirche wird nun Klage geführt darüber, dass dieses Drängen nicht immer in ziemlicher Form geschehe, es wird Klage geführt über den Zorn, die Wut und den Hass, der angeblich in diesem Drängen steckt. Ja, es gibt diesen Zorn, diese Wut und es gibt vielleicht auch Hass – es wäre ein Wunder, wenn es nicht so wäre. Häßliches erzeugt Hass. Eine Kirche, die sich ja als Fachinstitution für den Umgang mit Verfehlungen begreift, darf sich darüber eigentlich zu allerletzt wundern. Ich selber wundere mich eher darüber, wie wenig reißerisch, wie sachlich und sorgfältig die Berichte über sexuelle Gewalt und Misshandlung trotz alledem ganz überwiegend waren und sind.
Der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller sieht seine Kirche von den Medien viel zu hart angepackt, er sieht bösartige Kräfte am Werk; er sieht die Kirche einer Verfolgung ausgesetzt wie unter dem Nationalsozialismus. In der Wortwahl steht er alleine. Aber in vielen Predigten wird die Kirche als verfolgte Unschuld präsentiert, bedrängt von einer feindlichen Kampagne, gejagt von antiklerikalen Journalisten, die angeblich aus Lust an der Zerstörung der letzten moralischen Anstalt handeln. Der Regensburger Bischof Müller hat den Journalisten, die über die Regensburger Domspatzen recherchierten, öffentlich „kriminelle Energie” bescheinigt. Gegen die Kirche, so sagt er, wird gezischt, „als ob man gerade in einem Gänsestall hier die Gänse aufgeweckt hätte”. In einer Predigt sprach er von „missbrauchter Pressefreiheit” und von einer „Diffarmierungs-Lizenz, mit der man scheinbar legal all diejenigen Personen und Glaubensgemeinschaften ihrer Würde beraubt, die sich dem totalitären Herrschaftsanspruch des Neo-Atheismus und der Diktatur des Relativismus nicht fügen.” Es wird bei dieser Medienschelte, bei dieser Verfluchung so getan, als seien die Skandale nicht in der Kirche entstanden, sondern ihr von außen angetan worden.
Der Vorwurf „antikatholischer Propaganda” wird auf den Webseiten der Regensburger Ordinariats erhoben, von einer „primitiven Manipulation und gezielten Volksverdummung” ist die Rede und von einer Journalismus, der „die Wahrheit so unverschämt niederhält”, expressis verbis auch in Bezug auf die Süddeutsche Zeitung. Man möchte den Heiligen Franz von Sales zu Hilfe rufen: nicht für die Journalisten – sondern für einen maßlosen und uneinsichtigen Episkopus.
Sicher gibt es journalistische Fehlleistungen: Wenn etwa die Schüler vom Regensburger Domspatzen-Gymnasium am Schulhof abgefangen werden, wenn ihnen regelrecht aufgelautert wird, dann ist das eher Stalking als fairer Journalismus. Solche Verirrungen gibt es, leider, bei anderen Skandalen auch. Aber bei den angeblichen Verfehlungen, die der Regensburger Bischof geißelt, handelt es sich nicht um Verfehlungen, sondern um Journalismus. Eine „ständige Wiederholung von Vorgängen aus alter Zeit” hat der Bischof beklagt, welche nur den Sinn habe, die Kirche als verderbten Laden darzustellen. Er verkennt, wie Journalismus funktioniert; er verkennt, wie Aufklärung funktioniert. Franz von Sales hätte es gewusst. Es ist gewiss richtig, dass die Fakten, dass die einschlägigen „Fälle” aus den diversen Diözesen und Klöstern immer wieder wiederholt worden sind, weil die neu entdeckten „Missbrauchsfälle” in die alten eingereiht wurden. Das ist aber kein Tort, der der Kirche angetan wird. Es wird auf diese Weise nur der Fortsetzungszusammenhang hergestellt. Das ist bei Skandalen in der Kirche nicht anders als bei denen in der Politik, bei Siemens, BP, VW oder den Banken.
Die Amtskirche hat aber geglaubt und glaubt zum Teil immer noch, ihr gebühre ein schonender Sonderstatus, sie sei unantastbar, weil sie so alt, erhaben und wertvoll sei. Anders herum wird ein Schuh daraus. Wer, wie es die Kirche tut und immer getan hat, sich die Rolle der Hüterin der öffentlichen Moralzuschreibt, wer, wie es die Kirche tut und immer getan hat, gern darauf verweist, dass er über ein gereiftes Orientierungswissen und über besondere Problemlösungskompetenz verfüge, der muss sich schon genau anschauen lassen, wenn es um die Unmoral in den eigenen Reihen geht, und der muss sich fragen lassen, wie es denn um die Qualität dieses Orientierungswissens bestellt ist und wo die Problemlösungskompetenz bleibt.
Viel zu lange hat sich die Kirche nur selbst beweihräuchert, hat ihrem Nimbus das Wohl der Menschen untergeordnet und sich für sakrosankt erklärt, hat Gehorsam befohlen und Gefolgschaft reklamiert, hat vertuscht, was nicht zum Bild von ihr passte. Dabei ist das Herz der Kirche erstarrt. Es hat sein Mitgefühl verloren. Statt für sie Zufluchtsort zu sein, sich zu öffnen, zuzuhören, ihre Nöte wahrzunehmen, Trost zu spenden, Hilfe zu geben und selbst bußfertig zu sein, hat sie sich verbarrikadiert, kritische Fragen an sich abprallen lassen und darauf mit rechthaberischen Worten gekontert. Das unselige Ultimatum von Erzbischof Zollitsch, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, an Bundesjustizminsiterin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war ein letzter Ausläufer dieser Haltung: Sie sollte sich binnen 24 Stunden für den Vorwurf entschuldigen, die Kirche würde mit den Strafverfolgungsbehörden nicht konstruktiv zusammenarbeiten. Dieses katholische Ultimatum hatte bei aller Empörung etwas Hilfloses, es war ein Ausdruck hilfloser Empörung. Die Zeiten, in denen die Kirche mit Fluch und Bann beeindrucken konnte, sind eigentlich lang vorbei.
Nach langen Jahren des Schweigens und des Verdrängens hat sich die Kirche schließlich doch zur Aufklärung und Verfolgung von sexueller Gewalt durchgerungen. Sie hat in den vergangenen Monaten Stärke gezeigt beim adminstrativen Reagieren auf den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Aber über den katholischen Geschmack des Missbrauchsskandals, wie das der Jesuit Klaus Mertes formuliert hat, kann sie nach wie vor nicht reden.
Die Kirche und ihre Krise: Kirche ist Kirche nur dann, wenn sie für andere da ist. Denn Kirche ist ursprünglich und eigentlich die Stimme der Schwachen. Aber im sogenannten Missbrauchsskandal überwiegt in der Amtskirche noch immer die Sorge um die Institution die Anteilnahme mit den Opfern. Es zeigt sich hier das kalte Herz der Kirche. Wenn sie aber vor allem für sich und zu ihrer Selbstverteidigung da ist, verliert sie sich. Mehr als jede Kirchenkritik der Kirche schaden kann, schadet sie sich selbst, wenn sie sich der Diskussion verschließt und versperrt.
Das Problem der Kirche ist nicht die Öffentlichkeit, ihr Problem sind nicht die Medien, ihr Problem ist die sexuelle Gewalt und ihr Umgang damit.Andere Diözesen, andere Bischöfe haben ganz anders reagiert als Bischof Müller in Regensburg. Erzbischof Reinhard Marx in München-Freisung hat die Devise ausgegeben: „Nichts verschweigen, nichts vertuschen, der Wahrheit ins Auge sehen”. Marx hat diese Devise auch praktiziert. Aber das zentrale Problem bleibt, es ist die „Unfähigkeit, die eigenen pathogenen Strukturen und die Folgen der klerikalen Vertuschungen zu erkennen, zu erörtern und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen”, wie es Franz-Xaver Kaufmann auf den Punkt gebracht hat. Pädophilie ist das Risiko einer zwangszölibatären und monosexuellen Kirche, der in 2000 Jahren zwar die Vertreibung der Frauen aus allen Machtpositionen, aber nicht die Entsexualisierung des Menschen gelingen konnte.
Die Kirche und ihre Krise: Kirche ist Kirche nur dann, wenn sie für andere da ist. Denn Kirche ist ursprünglich und eigentlich die Stimme der Schwachen. Aber im sogenannten Missbrauchsskandal überwiegt in der Amtskirche noch immer die Sorge um die Institution die Anteilnahme mit den Opfern. Es zeigt sich hier das kalte Herz der Kirche. Wenn sie aber vor allem für sich und zu ihrer Selbstverteidigung da ist, verliert sie sich. Mehr als jede Kirchenkritik der Kirche schaden kann, schadet sie sich selbst, wenn sie sich der Diskussion verschließt und versperrt.
Zur Preisverleihung: Das Netzwerk Recherche verleiht die verschlossen Auster an die katholische Kirche in toto. „Die” katholische Kirche als einen kompakten Block des Wegschauens, als ein monolithisches Kartell des Schweigens gibt es nicht mehr. Es gibt auf der einen Seite einen Pater Klaus Mertes, den Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, der mit seinem Mut zu Aufdeckung und Aufklärung den Schritt hin zu einer kirchlichen Verantwortungskultur getan hat. Es gibt den Jesuitenprovinzial Stefan Dartmann, der weltweit alle Jesuiten, die Kinder missbraucht haben, aufgefordert hat, sich selbst anzuzeigen. Es gibt den wackeren Alois Glück vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken, der den Pflichtzölibat in Frage stellt. Es gibt den München Erzbischof Reinhard Marx, der das höchst widerstrebende Kloster Ettal zum öffentlichen Bekenntnis gezwungen hat. Es gibt einen Papst Benedikt XVI., der vor kurzem auf dem Flug zum Wallfahrsort Fatima bekannt hat, dass „die größte Verfolgung” der Kirche nicht „von den äußeren Feinden” kommt, sondern aus dem Inneren, „aus der Sünde in der Kirche”.
Und es gibt die ganz andere Seite der Kirche, auch in der Person des genannten Papstes Benedikt XVI., der zuletzt die deutschen Bischöfe Zollitsch und Marx dafür gerügt hat, dass sie mit dem lügnerischen Amtsbruder Mixa nicht gnädig genug umgegangen seien. Es gibt den Papst, der beharrlich schweigt, wenn alle Welt eine Erklärung erwartet, der keinen Sinn hat für rechten Augenblick, keinen Sinn für den Kairos, für das große Mea Culpa, vor dem sein Vorgänger nicht zögerte. Es gibt die Mönche von Ettal, die sich so verfolgt wähnen wie der Regensburger Bischof Müller, es gibt eine Kirchenpresse, die schnell beleidigt ist. Es gibt einen Vatikan, dessen Verhalten in Skandal und Krise an die Echternacher Springprozession erinnert. Dort sprangen einst die Gläubigen drei Schritte vor und zwei zurück und kamen dann irgendwann ein Grab des heiligen Willibrod an, der zu Hilfe bei Krämpfen und Nervenleiden angerufen wird. Im Missbrauchsskandal ist es so, dass die die Kurie nicht nur vor und zurück, sondern auch seitlich springt: Einem Bekenntnis folgen zwei Beschwichtigungen und drei Ausreden.
Es gibt eine Kirche, deren Selbstmitleid größer ist als das Mitleid mit den Opfern. Es gibt eine Kirche, die glaubt, sie habe lediglich ein Problem mit angeblich missliebigen Medien. Dieser Kirche widme ich diesen Negativ-Preis, die „verschlossene Auster”. Ich widme ihn, pars pro toto, dem Bischof meiner Heimatdiözese Regensburg, dem Bischof Gerhard Ludwig Müller. In diesem Bistum Regensburg liegt Wackersorf, der Ort, an dem einst eine Wiederaufbereitungsanlage gebaut und mit aller Macht und Staatsgewalt gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt werden sollte. Was Wackersdorf für die CSU war, ist Bischof Müller für die katholische Kirche: ein Fiasko.
Kirche kann ihr gesellschaftliches Gewicht nicht mit Geld, Geschichte und Steuermitteln erhalten oder zeugen. Es entsteht von selber durch Glaubwürdigkeit, und es verfällt mit Unglaubwürdigkeit. Die Kirche braucht das, was die Mediziner „restitutio in integrum” nennen, die vollständige Ausheilung. Mit der Forderung nach Öffnung und Demokratisierung hat Papst Johannes Paul II einst den Ostblock gesprengt. Diese Forderung „liegt jetzt auf den Stufen des Petersdoms” (so Jobst Paul im DISS-Journal 19/2010). Damals, im Ostblock, hieß das Neue „Glasnost” und „Perestrojka”. Heute, in der katholischen Kirche, heißt es, unter anderem, Aufhebung des Pflicht-Zölibats und Frauen-Ordination. Glaubwürdig wird die Kirche nur dann, wenn sie den Ursachen für die sexuelle Gewalt und deren jahrzehntelange Vertuschung auf den Grund geht. Sie muss dazu die verstörten und empörten Fragen der Menschen hören.
Ich habe mit dem Heiligen Franz von Sales begonnen; mit ihm will ich meine Rede jetzt auch beschließen. Dieser heilige Franz von Sales ist nämlich nicht nur Patron der Journalisten. Er ist auch Patron der Gehörlosen. Als solchen möchte man ihn bitten, sich doch der katholischen Kirche anzunehmen.
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Laudatio anlässlich der Verleihung der “Verschlossenen Auster” wurde auch in der Süddeutschen Zeitung publiziert: