„Die Kontrollfunktion des Wirtschaftsjournalismus braucht einen Konjunkturaufschwung“
Netzwerk Recherche veröffentlicht zum Tag der Pressefreiheit Dokumentation zur Lage des Wirtschaftsjournalismus in Deutschland – „Die Informationspflicht von Unternehmen muss verbessert werden.“
Vorsicht vor dem PR-Einfluss von Unternehmen und der dringende Appell zu mehr und intensiverer Recherche – das ist das gemeinsame Credo von Wirtschaftsjournalisten unterschiedlicher Medien, die für die neue Dokumentation der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche „Kritischer Wirtschaftsjournalismus. Analysen und Argumente. Tipps und Tricks“ befragt wurden. Die Dokumentation veröffentlicht das Netzwerk Recherche anlässlich des Tages der Pressefreiheit am 3. Mai. „Pressefreiheit ist kein Selbstzweck, sondern auch Auftrag, dieses Grundrecht aktiv wahrzunehmen.“ Die Dokumentation des Netzwerk Recherche zeigt: Die „Kontrollfunktion des Wirtschaftsjournalismus braucht einen Konjunkturaufschwung,“ so der Vorsitzende des Netzwerk Recherche, Dr. Thomas Leif, anlässlich der Vorstellung der Dokumentation.
Der 160-Seiten starke Band analysiert die Defizite des Wirtschaftsjournalismus und sucht nach Lösungen. So bemängelt der langjährige Chefredakteur des Manager-Magazins, Wolfgang Kaden, wie wenig der heutige Unternehmens-Journalismus aus dem Inneren der Unternehmen aufdeckt. „Wo blieb nach der atemberaubenden, an Dreistigkeit nicht zu überbietenden Machtübernahme des Ferdinand Piech bei VW die enthüllende Geschichte über die Vorgänge in Wolfsburg? Wo konnte ich lesen, was sich bei den dramatischen Geschehnissen rund um EADS und Airbus hinter den Kulissen wirklich abgespielt hat?“ Kaden gibt in der Dokumentation des Netzwerk Recherche selbst die Antwort: „Nirgendwo. Womöglich haben wir inzwischen zu viele Schönschreiber und zu wenig harte Rechercheure.“
Den Grund für die Defizite im Wirtschaftsjournalismus macht Roland Freund, Chefredakteur der Wirtschaftsagentur dpa-AFX, vor allem in der Unkenntnis der Zusammenhänge aus: „Die für alle Redaktionen wichtige langjährige Berufserfahrung wird immer spärlicher. Zu schnell lassen sich heute viel versprechende Kollegen von der PRBranche und von Unternehmen wegkaufen. Die alten Hasen unter den Wirtschaftsjournalisten werden immer seltener – und wir bräuchten sie dringender denn je.“
Das Problem ist nach Ansicht von Volker Wolff, Professor für Wirtschaftsjournalistik an der Uni Mainz, nicht auf die Unternehmensberichterstatter beschränkt. „Es fällt (…) auf, dass die Distanzlosigkeit vieler Wirtschaftsjournalisten, die wir aus der Hochzeit des Neuen Marktes kennen, weiterlebt. Inzwischen prägt sie auch viele der neuen Verbraucherseiten. Die Folgen sind für die Rezipienten verheerend: PR dominiert ausgerechnet Verbraucherseiten.“
Auch Klaus Schweinsberg, Chefredakteur der Zeitschrift Capital, beklagt in der Dokumentation: „Gerade bei nutzwertigen Finanzgeschichten findet man Beiträge, die wirken, als wären sie in der PR-Abteilung einer Bank geschrieben. Da dürfen sich opulent irgendwelche Bereichsvorstände über die Vorzüge ihrer Produkte ausbreiten. Und wie von Wunderhand geführt, liegen dann genau diese Hefte in den Filialen des entsprechenden Instituts. (…) Wir alle müssen wieder mehr Energie auf mühselige, langwierige Recherchen verwenden, deren Ergebnisse die Leser überraschen, bei den Firmen etwas auslösen und deshalb den Anlegern und Kunden nutzen.“ Nach Ansicht von Schweinsberg braucht es „wieder mehr Schreiber in den Redaktionen, die sich über Jahre in eine Industrie einarbeiten und trotzdem die Kompetenz behalten, wirklich kritische Fragen zu stellen und Zusammenhänge verständlich zu vermitteln.“
Laut Armin Mahler, Ressortleiter Wirtschaft beim Spiegel, ist die Lösung auch, aber nicht nur mit wirksamer Selbstkritik der Journalisten verknüpft. Seiner Ansicht nach müssten auch die Verlage begreifen, „dass immer neue Sparrunden die Grundlagen für eine qualitativ hochwertige Berichterstattung zerstören.“
„Es muss klar werden, dass nur eine gute, sachliche und informierte Recherche einen kritischen Wirtschaftsjournalismus möglich macht. Verlage und Sender stehen in der Verantwortung, hierfür die Voraussetzungen zu schaffen. Ein Wirtschaftsjournalismus, der hinter die Kulissen blickt und vor schwierigen Themen nicht zurückweicht, ist Nutzwertjournalismus für die Demokratie“, so Thomas Leif. Auch die Wirtschaft sollte hierbei stärker in die Verantwortung genommen werden: „Die Informationspflicht von Unternehmen muss verbessert werden“, so Leif.
Viele der in der neuen Dokumentation veröffentlichten Texte und Analysen wurden auf einer NR-Fachtagung im Herbst vergangenen Jahres intensiv diskutiert. In ihr geben Praktiker einen spannenden Einblick in die Schwierigkeiten und Spannungsfelder, in denen sich ein Wirtschaftsjournalist heute bewegt. So zeichnen Marc Brost und Arne Storn von der ZEIT die Welt der Bosse nach. Spiegel-Redakteur Nils Klawitter berichtet über die Erfolge der PR-Industrie und Hermann-Josef Tenhagen, Chefredakteur der Zeitschrift Finanztest, erklärt, wie Schlampigkeit den Journalismus kaputt machen kann.
Weitere Informationen incl. Download auf der Werkstatt-Seite.