Newsletter Netzwerk Recherche, Nr. 144, 21.12.2016
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
am Ende des Jahres bin ich ratlos. Denn es faellt mir wirklich schwer, zu erkennen, was nun im Rueckblick das wichtigste war im Journalismus. Worauf kommt es wirklich an in unserer Zeit, wo stehen wir. Dabei ist genau das doch tagein tagaus unsere Aufgabe: immer zu sagen, was das wichtigste ist und war.
Am Montagabend, als ein LKW in den Weihnachtsmarkt raste und zwoelf Menschen mit sich riss, ist es den Medien relativ gut gelungen – zu sagen, was war. Weil sie naemlich auch gesagt haben, was sie nicht wissen. Jede Krisenlage, jeder Grosseinsatz, jeder Anschlag ist eine Herausforderung fuer unsere Glaubwuerdigkeit.
Wir sind in einer Phase, in der wir uns viel mit unserem Beruf und dessen Bedeutung beschaeftigen. Denn uns wird ein Spiegel vor Augen gehalten, in dem wir uns allerdings nicht wiedererkennen moegen. Die Luegenpresse, das sind wir doch gar nicht! Aber der Begriff klebt seit nunmehr einigen Jahren an uns und verfolgt uns auf Schritt und Tritt. Vielleicht weniger, weil er uns immer wieder neu entgegengehalten wird, sondern weil wir selbst nicht aufhoeren, uns mit ihm zu beschaeftigen – zurecht! Weil wir nicht aufhoeren, uns den Kopf darueber zu zerbrechen, wie wir das Vertrauen der Leser, Zuschauer und Hoerer wieder zurueckgewinnen koennen. Wie wir wieder “glaubwuerdig” werden – denn wir sind uns doch ziemlich sicher, dass wir doch vor allem: glaubwuerdig sind!
Haette die Tagesschau ueber den mutmasslichen Vergewaltiger aus Freiburg berichten muessen, eben weil er ein Fluechtling ist? Oder hat die Tagesschau zu Recht nicht berichtet, weil es nur einer von vielen vergleichbaren Faellen war, dieses Mal eben der eines Fluechtlings. Die Tagesschau hat sich dazu ausfuehrlich und mehrfach erklaert. Aber sie kann vermutlich erklaeren, was sie will. Sie wird diejenigen, die davon ueberzeugt sind, dass hier absichtlich totgeschwiegen werden sollte, im Leben nicht ueberzeugen.
Wir werden die Menschen, die uns Journalisten verachten, derzeit nicht erreichen – auch mit Engelszungen nicht. Tatsaechlich gibt es wenig gesellschaftliche Beruehrungspunkte zwischen uns und denjenigen, die sich von uns abgewendet haben. In unserer journalistischen Blase und Mediengesellschaft sind wir doch meist weit weg von Wutbuergern, sogar von ganz normalen Buergern. Wahrscheinlich waren es auch nicht die Wutbuerger allein, die den ersten Schritt zur Distanz gemacht haben, sondern auch die Journalisten selbst.
Nehmen wir Trump. Viele Journalisten in Deutschland erklaerten sich nach dessen Wahl “unter Schock”. Diese Empathie und Sorge will ich niemandem absprechen.
Aber es ist auch sonderbar, dass Journalisten monatelang intensiv versuchen, alles Boese rund um Trump zu erklaeren und aufzuklaeren. Damit jeder versteht: Den darf niemand waehlen, Achtung! Und dann gewinnt er und dann sind wir “unter Schock”. Wohl auch, weil wir uns nicht erklaeren koennen, dass unsere Aufklaerungen alle nicht richtig angekommen sind. Wir haben es doch gesagt, wir wussten es doch besser, warum hoert uns denn niemand? Auch zur AfD haben viele Kolleginnen und Kollegen recherchiert und publiziert. Es hat nichts daran geaendert, dass sich diese Partei flaechendeckend etabliert hat. Wer hat sie gewaehlt? Unter anderem diejenigen, denen wir fremd sind – vielleicht auch, weil ihnen unsere ewige Besserwisserei, unser zuweilen wohl auch elitaeres Gehabe auf den Geist geht.
Wir bewerten viel und beschreiben weniger. Es gibt eigentlich vergleichsweise wenig Journalisten, die in ihrem Alltag viel mit verschiedensten Menschen zu tun haben, sie treffen, zuhoeren und die versuchen, ihr Leben zu verstehen. Die Gruende sind vielfaeltig, vor allem aber hat sich unsere journalistische Kultur geaendert: Vom Beobachten und Beschreiben zum schnellen Bewerten. Der wirtschaftliche Druck und Sparzwang ist dabei sicher unser groesstes strukturelles Problem.
Es fehlt an unvoreingenommenen Recherchen und an der Finanzierung fuer ebendiese. Netzwerk Recherche will kuenftig mehr solcher unabhaengiger Recherchen mit Hilfe unseres Stipendienprogrammes ermoeglichen. In den vergangenen Jahren konnten wir unser Stipendienprogramm sukzessive ausbauen. Im 2015/2016 haben wir 19 Stipendien gefoerdert – die spannenden Ergebnisse finden Sie auf der nr-Website. Derzeit sind sieben weitere Recherchen in Arbeit – und neue Bewerbungen liegen bereits vor. Fuer einen Teil der Stipendien konnten wir Partner finden: die Olin gGmbH und die Karl-Gerold-Stiftung foerdern Umweltthemen bzw. reiseintensive Recherchen.
Wenn wir aber weiterhin alle Recherchen unterstuetzen wollen, die wir fuer foerderungswuerdig halten, brauchen wir zusaetzliche Mittel. Daher moechten wir Sie heute um Ihre Unterstuetzung bitten: Wenn jeder Newsletter-Abonnent mindestens 10 Euro spendet, koennten wir naechstes Jahr zusaetzliche 14 Stipendien vergeben!
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Uebrigens koennen Sie die Spende steuerlich geltend machen, da nr als gemeinnuetzig anerkannt ist. Ueber die Finanzierung unseres Vereins koennen Sie sich unter
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Wir freuen uns auf Ihren kleinen oder grossen Beitrag zu moeglichst grossen Recherchen!
Und jetzt wuenschen wir Ihnen frohe Feste und eine schoene mail-arme Zeit,
es gruessen
Julia Stein ,
Albrecht Ude
Tagesschau.de : Der Mordfall von Freiburg
http://blog.tagesschau.de/2016/12/04/der-mordfall-von-freiburg/
Das nr Stipendienprogramm:
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## Inhaltsverzeichnis.
01: Editorial
Abschnitt Eins: In Eigener Sache
02: nr-Jahrestreffen am 9./10. Juni in Hamburg
03: nr-Stipendien abgeschlossen
04: nr-Fachtagung Non-Profit-Journalismus
05: Geschaeftsstelle macht Ferien
Abschnitt Zwei: Veranstaltungen
06: dju Journalistentag 2017 zum Datenjournalismus
Abschnitt Drei: Nachrichten
07: Wahlentscheidung durch Facebook? Die analytischen Moeglichkeiten der Datenkonzerne
08: Prozesshilfe fuer Auskunftsrechtsklagen
09: Adventskalender und Wunschzettel gegen Ueberwachung
10: Correctiv und Schoepflin-Stiftung wollen Haus des Journalismus bauen
11: Gelueftet : die Loeschregeln von Facebook
12: Social Bots: Invasion der Meinungsroboter
13: Was zaehlt: Konstruktiver Lokaljournalismus in Lueneburg
14: Yahoo-Nutzer muessen handeln
15: Investigative Recherche des Netzwerks Investigate Europe zum Grenzsicherungssystem der EU
16: Ueber 150 Filmemacher und Fotojournalisten fordern Kameras mit Verschluesselungen
17: RoG stellt Jahresbilanz der Pressefreiheit 2016 und Sicherheitsleitfaden fuer Journalisten vor
Abschnitt Vier: Seminare, Stipendien, Preise
18: Deutsch-Polnische Tadeusz-Mazowiecki-Journalistenpreis 2017
19: Einreichungen fuer die Dart Awards 2017 moeglich
20: n-ost Journalistenpreis
21: FES-Seminar “Schreiben ueber Rechts”
22: Seminare mit Recherchebezug
Abschnitt Fuenf: Pressespiegel
23: Journalismus
24: Journalismus und PR
25: Informationsfreiheit
26: Ueberwachung
22: Link-Index
23: Technische Hinweise
24: Impressum