Leuchtturmpreisträger 2015: Ulrich Chaussy für seine jahrzehntelange Recherche zum Oktoberfest-Attentat
Laudatorin: Annette Ramelsberger, Gerichtsreporterin der Süddeutschen Zeitung

Es war 22.19 Uhr an jenem Freitag, als auf dem Oktoberfest in München eine Splitterbombe explodierte und 13 Menschen in Stücke riss. 200 Menschen wurden schwer verletzt, die Beine abgerissen, die Haut verbrannt.

Doch schon am Morgen nach dem Attentat rückte die Münchner Straßenreinigung an und spritzte das Blut weg. Dann schüttete man frischen Teer auf die Stelle, wo die Bombe einen Krater gerissen hatte. Und am Mittag, keine 12 Stunden nach der Explosion, erinnerte nichts mehr daran, dass hier ein Attentat verübt worden war.

Das Oktoberfest ging weiter, als  wenn nichts gewesen wäre. Pünktlich um 11 Uhr öffneten wieder die Bierzelte.

Teer drauf,  Schwamm drüber.

Am 26. September 1980 verübten Rechtsterroristen den bis heute größten Terror-Anschlag in Deutschland. Und alle wollten einfach nur zur Tagesordnung übergehen. Schon vier Wochen später legten sich die Behörden  fest: Der Täter war ein Einzelgänger,  mit Liebeskummer und Misserfolg im Studium. Dass er auch seit seiner Jugend rechtsradikal war und mit der Wehrsportgruppe Hoffmann den paramilitärischen Kampf übte – nicht ganz so wichtig.  Man fand keine Hintermänner,  alles sollte der 19  Jahre alte Student ganz alleine gemacht haben: die Bombe gebaut, die Bombe  transportiert, die Bombe gezündet. Schon vier Monate später wurden fast alle Asservate vernichtet, zwei Jahre später dann die Ermittlungen eingestellt.

Nur zwei Menschen bemühten sich in den vergangenen 35 Jahren, quasi im Alleingang, doch noch Licht in das braune Dunkel zu bringen. Werner Dietrich, der Anwalt einer ganzen Reihe von Opfern, der  sich um Akteneinsicht und immer neue Zeugen bemüht. Und der Journalist Ulrich Chaussy, der all die Unklarheiten, Ungereimtheiten, die weggeschobenen Zeugen und verwischten Spuren aufgetan und akribisch beschrieben hat. Der nie nachgelassen hat. Der immer dran blieb. Bis heute.

Er soll heute geehrt werden. Dabei ist er eine echte Plage.

Eine Plage nicht  nur für den Generalbundesanwalt, für die Fahnder des Landeskriminalamtes, für den bayerischen Innenminister. Die kennen ihn und seufzen, wenn er anruft. Dieser Mann, der sich nicht zufrieden gibt. Der immer wieder nachfasst. Den man aber einfach nicht abtun kann, als einen, der spinnt oder nur nervt. Er hat ja immer was Neues. Erstzunehmendes.

Und deswegen ist der Mann auch eine Plage für die  Kollegen. Wenn Chaussy eine Geschichte über das Oktoberfestattentat macht, kann man nicht einfach sagen: Hatten wir schon. Kennen wir doch. Aufgebauscht. Man muss dann ran, rein in die Recherche und meistens heißt das: Man findet  heraus, dass er schon wieder Recht hat. Die Kollegen müssen ihn ernst nehmen: Weil er so grundsolide ist.

Ulrich Chaussy behauptet nicht einfach etwas ins Blaue. Er braucht keine steile These. Auch nicht einen Fanclub, der  ihm zujubelt. Er hängt sich nicht an all die Verschwörungstheoretiker, die immer noch eine und noch eine dunkle Macht im Hintergrund wirken sehen. Im Gegenteil, Verschwörungstheoretiker findet er lästig und zeitraubend.

Chaussy hält sich an Fakten. Und vergleicht sie akribisch. Er trägt eher Bedenken, als dass er lichterloh entflammt ist für eine These. Er ist ein leiser, ein verbindlicher Mensch, liebenswürdig und freundlich, manchmal scheu – er schiebt auch keine Bugwelle von Bedeutung vor sich her wie so viele Groß-Publizisten. Dass es inzwischen einen Spielfilm gibt, über ihn, über seine Geschichte – manchmal hat man den Eindruck, Ulrich Chaussy wollte sich dafür entschuldigen. Ein Filmheld wider Willen. Nur bereit, sich auf der Leinwand vergrößern zu lassen, weil es doch im Grunde nicht um ihn geht, sondern: um seine Recherche.

Er ist nun mal ein Dickbrettbohrer.

Er war schon ein Dickbrettbohrer, bevor die Bombe in München explodierte. Er hat die erste und vermutlich beste Biographie über Rudi Dutschke geschrieben, der von einem Rechtsradikalen niedergeschossen wurde und später an den Verletzungen starb.  Er hat tief geschürft, als er sich um die Zerstörung eines Bergdorfes auf dem Obersalzberg  kümmerte und um die Vertreibung der Bauern dort durch Hitlers Entourage. Das hatte bis dahin keinen interessiert.  Er hat über die Mitglieder der Widerstandsgruppe der Weißen Rose geschrieben, die man nicht kannte –  junge Leute, die nicht wie Sophie Scholl ermordet wurden, sondern die überlebten. Er fragte, wie. Es ist kein Zufall, dass in vielen seiner Recherchen immer wieder rechtsradikale Täter vorkommen.

Wer anfängt, ein Hörfunkfeature von ihm zu hören, bleibt oft im Auto sitzen, obwohl er längst am Ziel ist: Nur, um das Feature zu Ende zu hören. Zum Beispiel das Stück im Bayerischen Rundfunk über V-Männer, rechte wie linke. Besonders eindrucksvoll: Wie da ein Verräter seinen Verrat schön akribisch auf Tonband festhält. In sanftem Salon-Bayerisch, richtig gemütlich, richtig hinterhältig. Man fand die Tonbänder im Nachlass des V-Manns. Sie fanden ihren Weg zu Chaussy, wie so vieles, das eigentlich nie auftauchen sollte. Chaussy sendete sie.

Ulrich Chaussy ist ja nicht nur der quasi hauptamtliche Ermittler in Sachen Oktoberfest, er ist immer aktueller Journalist geblieben. Er  moderiert, macht Beiträge,  fährt Schichten beim  Bayerischen Rundfunk. Er ist ein Radiomann durch und durch, aufgewachsen beim Zündfunk, der in Würde gealterten ehemals „jungen Welle“ des Bayerischen Rundfunks, recherchestark und tiefbohrend seit 40 Jahren.  Aber das Plakative, das Vordergründige ist ihm fremd. Die reine Nachricht langweilt ihn.

Er liebt das Gebrochene, die Wahrheit hinter der Wahrheit, die zweite Ebene. Und er liebt Menschen. Etwas, was angesichts von Datenjournalismus und  Akten-Recherche fast ein wenig altmodisch geworden zu sein scheint: Er  spricht gerne mit echten Menschen. Er lässt sich von ihren Geschichten überraschen. Er hat mit Rudi  Dutschke gesprochen. Mit den Überlebenden der Weißen Rose. Mit den vertriebenen Bauern vom Obersalzberg. Sein Interesse kommt  nicht über die Akten, sondern über die Menschen. Danach studiert er dann auch Akten. Und zwar beharrlich. Manche sagen: Verbissen.

Als er 1985 sein Buch schrieb: „Oktoberfest. Ein Attentat.“, da hat er einfach nur zusammengetragen, was er recherchiert hatte. Dass es Zeugen gab, die den angeblichen Einzeltäter noch kurz zuvor mit zwei jungen Männern mit sehr kurzen Haaren und in Bundeswehrparkas streiten sah. Dass Zeugen berichteten, sie hätten den Täter zusammen mit anderem im Auto gesehen. Dass später auch Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann erklärten, sie seien an dem Attentat beteiligt gewesen. Für die Ermittler waren das alles keine handfesten Hinweise. Für Chaussy schon. Allein die  Menge an widersprüchlichen Zeugenaussagen zeigt, dass es so glatt, wie  im  Abschlussbericht des Generalbundesanwalts geschrieben, nicht sein konnte.  Er stellte Fragen, er stellt sie bis heute.

Chaussy  konnte nicht wissen, dass ihn das Thema sein ganzes Leben lang begleiten wird. Und dass er 30 Jahre später etwas bewirkte, was niemand mehr für möglich gehalten hat: Dass der Generalbundesanwalt die Ermittlungen zum Attentat wieder aufnimmt.  Dass noch einmal eine  Soko gegründet wird, noch einmal Zeugen  befragt, Akten durchforstet werden. Dass man glaubt, was Chaussy immer erklärt  hatte: Dass es nicht stimmen kann,  dass nur ein Einzeltäter  die Bombe gelegt hat. Dass es Hintermänner geben muss.

Es ist eine erstaunliche, eine sehr schöne Bestätigung seiner Arbeit.

Und doch darf man nicht verschweigen, wie frustrierend die Jahre auch waren, in denen nichts passierte. In denen er auch im eigenen Sender als  einer galt, der sich verrannt hatte und in denen sich die Behörden die Zweifel von der Jacke wischten wie Regentropfen vom Trenchcoat – ein Wort von Ulrich Chaussy selbst.

Ich selbst habe erlebt, wie die Bundesanwaltschaft reagiert hat, als vor ein paar Jahren herauskam, dass noch 2007 die letzten Asservate des Oktoberfestanschlags vernichtet worden waren. Keiner hatte daran gedacht, noch einmal mit modernsten Methoden an die Asservate zu gehen, obwohl längst ganze Mordserien per DNA-Analyse geklärt wurden.  Aber die Bundesanwaltschaft hat die letzten Reste vernichten lassen, 25 Jahre nach dem Ende der Ermittlungen. Ganz regulär, getreu den Vorschriften. Und die  Reaktion,  als es rauskam: Ein Kopfschütteln und ein „Tja, dumm gelaufen“.

Jetzt, da wieder ermittelt wird,  sucht die Bundesanwaltschaft  nach Splittern und Sprengstoffresten und  Zeugen und Bildern. Chaussy kam ihnen um gute 30 Jahre zuvor.

Ich selbst habe viel über Rechtsradikalismus recherchiert. Ich habe  mir von Udo Voigt die NPD-Zentrale in Berlin zeigen lassen und bin mit dem Rechtsterroristen Manfred Roeder durch den deutschen Osten gezogen. Und ich sitze seit zwei Jahren im NSU-Prozess. Ganz häufig wird  man da gefragt: Hast du keine Angst?

Es ist eine eigenartige Frage, eine Frage, als lebten wir in Russland oder in der Weimarer Republik, als die Rechten mit  Rollkommandos auf Gegner eindroschen. Die Frage mag schmeicheln, aber sie verbrämt normale journalistische Arbeit zu etwas Besonderem, Außergewöhnlichen. Und entschuldigt so alle anderen, die lieber nicht so genau hinschauen.

Auch Ulrich Chaussy wird immer wieder gefragt, ob er nicht Angst habe bei seinen Recherchen. Und wenn er dann sagt, dass er nie massiven Drohungen ausgesetzt war, dass ihm nur mal eine Tracht Prügel  angedroht worden ist von der Wehrsportgruppe Hoffmann, damals in den 70ern, dann zeugt das nicht nur von großer Offenheit, sondern auch von seiner Abneigung, sich als Held zu stilisieren.

Man muss kein Held sein in diesem Land, um dort zu recherchieren, wo es schmutzig und dunkel und oft auch braun ist. Man muss nur seine Arbeit tun. Das ist mühsam, das dauert oft lang. Aber es ist sinnvoll. Keiner hat das so deutlich gemacht wie Uli Chaussy.