Leucht­turm 2015 für Ulrich Chaussy

ver­öf­fent­licht von Netz­werk Recherche | 15. Juni 2015 | Lese­zeit ca. 11 Min.

Der Leucht­turm für beson­dere publi­zis­ti­sche Leis­tungen der Jour­na­lis­ten­ver­ei­ni­gung Netz­werk Recherche geht in diesem Jahr an Ulrich Chaussy. Der Rund­funk­re­porter und Buch­autor recher­chiert seit Jahr­zehnten zum Okto­ber­fest-​Attentat von 1980. Chaussys hart­nä­ckigen Arbeit ist es maß­geb­lich zu ver­danken, dass der Gene­ral­bun­des­an­walt inzwi­schen die Ermitt­lungen zu dem Anschlag wieder auf­ge­nommen hat.

Der „Leucht­turm“ wird in diesem Jahr im Rahmen der zwei­tä­gigen Jah­res­ta­gung von Netz­werk Recherche beim NDR in Ham­burg ver­geben. Die Ver­lei­hung findet am 3. Juli 2015, um 15.00 Uhr statt. Die Lau­datio wird Annette Ramels­berger, Gerichts­re­por­terin der Süd­deut­schen Zei­tung, halten.

„Der Mut und die Aus­dauer von Ulrich Chaussy ist wohl ein­malig im inves­ti­ga­tiven Jour­na­lismus in Deutsch­land“, sagt Oliver Schröm, Erster Vor­sit­zender des Netz­werk Recherche. „Seit mehr als dreißig Jahren recher­chiert er uner­müd­lich zum schlimmsten Ter­ror­an­schlag in der Geschichte der Bun­des­re­pu­blik. Dabei hat er sich von der Blo­ckade in Politik, Justiz und Polizei nicht ent­mu­tigen lassen und ekla­tante Wider­sprüche im offi­zi­ellen Ermitt­lungs­er­gebnis auf­ge­deckt. Vor allem weil er dran geblieben ist an dem Thema, gibt es jetzt end­lich die Chance, dass die Ange­hö­rigen der Toten und die Ver­letzten die wahren Hin­ter­gründe des schwersten Anschlags in der Geschichte der Bun­des­re­pu­blik erfahren.“

Ulrich Chaussy arbeitet für den Baye­ri­schen Rund­funk und hin­ter­fragt von Anfang an das offi­zi­elle Ermitt­lungs­er­gebnis, wonach den Anschlag ein ein­ziger Atten­täter verübt habe, der Rechts­ex­tre­mist Gun­dolf Köhler. Seit Anfang der 80er Jahre sam­melt der Rund­funk­re­porter Hin­weise darauf, dass eine grö­ßere, rechts­ex­tre­mis­ti­sche Struktur hinter dem Anschlag ste­cken könnte, bei dem 13 Men­schen getötet und mehr als 200 ver­letzt wurden. Schon 1985 hat er ein Buch dar­über ver­öf­fent­licht, das 2014 um meh­rere Kapitel ergänzt neu auf­ge­legt wurde: „Okto­ber­fest. Das Attentat. Wie die Ver­drän­gung des Rechts­ter­rors begann“. Der Kino­film „Der blinde Fleck“ über die Arbeit Chaussys, an dessen Dreh­buch der Prot­ago­nist mit­schrieb, zeigte einem breiten Publikum die Wider­sprüche und Lücken in den unzu­läng­li­chen Ermitt­lungen auf. Anfang 2015 lief in der ARD Chaussys Doku­men­ta­tion „Atten­täter – Ein­zel­täter?“

Neben dem Leucht­turm für beson­dere publi­zis­ti­sche Leis­tungen ver­gibt das Netz­werk Recherche am zweiten Tag seiner Jah­res­ta­gung, am 4. Juli 2015, eine wei­tere Aus­zeich­nung. Tra­di­tio­nell wür­digt die Jour­na­lis­ten­ver­ei­ni­gung den Infor­ma­ti­ons­blo­ckierer des Jahres mit der Ver­schlos­senen Auster. Der Auster-​Preis­träger wird am Tag der Ver­lei­hung bekannt­ge­geben.

Zur Jah­res­ta­gung des Netz­werk Recherche kommen Kol­le­ginnen und Kol­legen unter anderem aus dem ganzen deutsch­spra­chigen Raum sowie aus den USA, Groß­bri­tan­nien, Spa­nien, Syrien, Iran und Afgha­ni­stan. The­ma­ti­sche Schwer­punkte sind Isla­mismus, natio­nale und inter­na­tio­nale Recherche-​Koope­ra­tionen, (Online-​)Recher­che­prak­tiken, Daten­jour­na­lismus und Pres­se­recht.

Netz­werk Recherche e.V. ist der Verein zur För­de­rung der Recherche in Deutsch­land, dem mehr als 700 Jour­na­listen aus allen Berei­chen der Medien ange­hören. Zu seinen Kern­auf­gaben zählt, Recherche zu för­dern und zu for­dern. Dazu ver­an­staltet das nr Fach­ta­gungen und Kon­fe­renzen, gibt Publi­ka­tionen heraus und ver­gibt Recherche-​Sti­pen­dien.

Lau­datio von Annette Ramels­berger

Leucht­turm­preis­träger 2015: Ulrich Chaussy für seine jahr­zehn­te­lange Recherche zum Okto­ber­fest-​Attentat
Lau­da­torin: Annette Ramels­berger, Gerichts­re­por­terin der Süd­deut­schen Zei­tung

Es war 22.19 Uhr an jenem Freitag, als auf dem Okto­ber­fest in Mün­chen eine Split­ter­bombe explo­dierte und 13 Men­schen in Stücke riss. 200 Men­schen wurden schwer ver­letzt, die Beine abge­rissen, die Haut ver­brannt.

Doch schon am Morgen nach dem Attentat rückte die Münchner Stra­ßen­rei­ni­gung an und spritzte das Blut weg. Dann schüt­tete man fri­schen Teer auf die Stelle, wo die Bombe einen Krater gerissen hatte. Und am Mittag, keine 12 Stunden nach der Explo­sion, erin­nerte nichts mehr daran, dass hier ein Attentat verübt worden war.

Das Okto­ber­fest ging weiter, als  wenn nichts gewesen wäre. Pünkt­lich um 11 Uhr öff­neten wieder die Bier­zelte.

Teer drauf,  Schwamm drüber.

Am 26. Sep­tember 1980 ver­übten Rechts­ter­ro­risten den bis heute größten Terror-​Anschlag in Deutsch­land. Und alle wollten ein­fach nur zur Tages­ord­nung über­gehen. Schon vier Wochen später legten sich die Behörden  fest: Der Täter war ein Ein­zel­gänger,  mit Lie­bes­kummer und Miss­erfolg im Stu­dium. Dass er auch seit seiner Jugend rechts­ra­dikal war und mit der Wehr­sport­gruppe Hoff­mann den para­mi­li­tä­ri­schen Kampf übte – nicht ganz so wichtig.  Man fand keine Hin­ter­männer,  alles sollte der 19  Jahre alte Stu­dent ganz alleine gemacht haben: die Bombe gebaut, die Bombe  trans­por­tiert, die Bombe gezündet. Schon vier Monate später wurden fast alle Asser­vate ver­nichtet, zwei Jahre später dann die Ermitt­lungen ein­ge­stellt.

Nur zwei Men­schen bemühten sich in den ver­gan­genen 35 Jahren, quasi im Allein­gang, doch noch Licht in das braune Dunkel zu bringen. Werner Diet­rich, der Anwalt einer ganzen Reihe von Opfern, der  sich um Akten­ein­sicht und immer neue Zeugen bemüht. Und der Jour­na­list Ulrich Chaussy, der all die Unklar­heiten, Unge­reimt­heiten, die weg­ge­scho­benen Zeugen und ver­wischten Spuren auf­getan und akri­bisch beschrieben hat. Der nie nach­ge­lassen hat. Der immer dran blieb. Bis heute.

Er soll heute geehrt werden. Dabei ist er eine echte Plage.

Eine Plage nicht  nur für den Gene­ral­bun­des­an­walt, für die Fahnder des Lan­des­kri­mi­nal­amtes, für den baye­ri­schen Innen­mi­nister. Die kennen ihn und seufzen, wenn er anruft. Dieser Mann, der sich nicht zufrieden gibt. Der immer wieder nach­fasst. Den man aber ein­fach nicht abtun kann, als einen, der spinnt oder nur nervt. Er hat ja immer was Neues. Erst­zu­neh­mendes.

Und des­wegen ist der Mann auch eine Plage für die  Kol­legen. Wenn Chaussy eine Geschichte über das Okto­ber­fest­at­tentat macht, kann man nicht ein­fach sagen: Hatten wir schon. Kennen wir doch. Auf­ge­bauscht. Man muss dann ran, rein in die Recherche und meis­tens heißt das: Man findet  heraus, dass er schon wieder Recht hat. Die Kol­legen müssen ihn ernst nehmen: Weil er so grund­so­lide ist.

Ulrich Chaussy behauptet nicht ein­fach etwas ins Blaue. Er braucht keine steile These. Auch nicht einen Fan­club, der  ihm zuju­belt. Er hängt sich nicht an all die Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker, die immer noch eine und noch eine dunkle Macht im Hin­ter­grund wirken sehen. Im Gegen­teil, Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker findet er lästig und zeit­rau­bend.

Chaussy hält sich an Fakten. Und ver­gleicht sie akri­bisch. Er trägt eher Bedenken, als dass er lich­terloh ent­flammt ist für eine These. Er ist ein leiser, ein ver­bind­li­cher Mensch, lie­bens­würdig und freund­lich, manchmal scheu – er schiebt auch keine Bug­welle von Bedeu­tung vor sich her wie so viele Groß-​Publi­zisten. Dass es inzwi­schen einen Spiel­film gibt, über ihn, über seine Geschichte – manchmal hat man den Ein­druck, Ulrich Chaussy wollte sich dafür ent­schul­digen. Ein Film­held wider Willen. Nur bereit, sich auf der Lein­wand ver­grö­ßern zu lassen, weil es doch im Grunde nicht um ihn geht, son­dern: um seine Recherche.

Er ist nun mal ein Dick­brett­bohrer.

Er war schon ein Dick­brett­bohrer, bevor die Bombe in Mün­chen explo­dierte. Er hat die erste und ver­mut­lich beste Bio­gra­phie über Rudi Dutschke geschrieben, der von einem Rechts­ra­di­kalen nie­der­ge­schossen wurde und später an den Ver­let­zungen starb.  Er hat tief geschürft, als er sich um die Zer­stö­rung eines Berg­dorfes auf dem Ober­salz­berg  küm­merte und um die Ver­trei­bung der Bauern dort durch Hit­lers Entou­rage. Das hatte bis dahin keinen inter­es­siert.  Er hat über die Mit­glieder der Wider­stands­gruppe der Weißen Rose geschrieben, die man nicht kannte –  junge Leute, die nicht wie Sophie Scholl ermordet wurden, son­dern die über­lebten. Er fragte, wie. Es ist kein Zufall, dass in vielen seiner Recher­chen immer wieder rechts­ra­di­kale Täter vor­kommen.

Wer anfängt, ein Hör­funk­fea­ture von ihm zu hören, bleibt oft im Auto sitzen, obwohl er längst am Ziel ist: Nur, um das Fea­ture zu Ende zu hören. Zum Bei­spiel das Stück im Baye­ri­schen Rund­funk über V-​Männer, rechte wie linke. Beson­ders ein­drucks­voll: Wie da ein Ver­räter seinen Verrat schön akri­bisch auf Ton­band fest­hält. In sanftem Salon-​Baye­risch, richtig gemüt­lich, richtig hin­ter­hältig. Man fand die Ton­bänder im Nach­lass des V-​Manns. Sie fanden ihren Weg zu Chaussy, wie so vieles, das eigent­lich nie auf­tau­chen sollte. Chaussy sen­dete sie.

Ulrich Chaussy ist ja nicht nur der quasi haupt­amt­liche Ermittler in Sachen Okto­ber­fest, er ist immer aktu­eller Jour­na­list geblieben. Er  mode­riert, macht Bei­träge,  fährt Schichten beim  Baye­ri­schen Rund­funk. Er ist ein Radio­mann durch und durch, auf­ge­wachsen beim Zünd­funk, der in Würde geal­terten ehe­mals „jungen Welle“ des Baye­ri­schen Rund­funks, recher­che­stark und tief­boh­rend seit 40 Jahren.  Aber das Pla­ka­tive, das Vor­der­grün­dige ist ihm fremd. Die reine Nach­richt lang­weilt ihn.

Er liebt das Gebro­chene, die Wahr­heit hinter der Wahr­heit, die zweite Ebene. Und er liebt Men­schen. Etwas, was ange­sichts von Daten­jour­na­lismus und  Akten-​Recherche fast ein wenig alt­mo­disch geworden zu sein scheint: Er  spricht gerne mit echten Men­schen. Er lässt sich von ihren Geschichten über­ra­schen. Er hat mit Rudi  Dutschke gespro­chen. Mit den Über­le­benden der Weißen Rose. Mit den ver­trie­benen Bauern vom Ober­salz­berg. Sein Inter­esse kommt  nicht über die Akten, son­dern über die Men­schen. Danach stu­diert er dann auch Akten. Und zwar beharr­lich. Manche sagen: Ver­bissen.

Als er 1985 sein Buch schrieb: „Okto­ber­fest. Ein Attentat.“, da hat er ein­fach nur zusam­men­ge­tragen, was er recher­chiert hatte. Dass es Zeugen gab, die den angeb­li­chen Ein­zel­täter noch kurz zuvor mit zwei jungen Män­nern mit sehr kurzen Haaren und in Bun­des­wehrparkas streiten sah. Dass Zeugen berich­teten, sie hätten den Täter zusammen mit anderem im Auto gesehen. Dass später auch Mit­glieder der Wehr­sport­gruppe Hoff­mann erklärten, sie seien an dem Attentat betei­ligt gewesen. Für die Ermittler waren das alles keine hand­festen Hin­weise. Für Chaussy schon. Allein die  Menge an wider­sprüch­li­chen Zeu­gen­aus­sagen zeigt, dass es so glatt, wie  im  Abschluss­be­richt des Gene­ral­bun­des­an­walts geschrieben, nicht sein konnte.  Er stellte Fragen, er stellt sie bis heute.

Chaussy  konnte nicht wissen, dass ihn das Thema sein ganzes Leben lang begleiten wird. Und dass er 30 Jahre später etwas bewirkte, was nie­mand mehr für mög­lich gehalten hat: Dass der Gene­ral­bun­des­an­walt die Ermitt­lungen zum Attentat wieder auf­nimmt.  Dass noch einmal eine  Soko gegründet wird, noch einmal Zeugen  befragt, Akten durch­forstet werden. Dass man glaubt, was Chaussy immer erklärt  hatte: Dass es nicht stimmen kann,  dass nur ein Ein­zel­täter  die Bombe gelegt hat. Dass es Hin­ter­männer geben muss.

Es ist eine erstaun­liche, eine sehr schöne Bestä­ti­gung seiner Arbeit.

Und doch darf man nicht ver­schweigen, wie frus­trie­rend die Jahre auch waren, in denen nichts pas­sierte. In denen er auch im eigenen Sender als  einer galt, der sich ver­rannt hatte und in denen sich die Behörden die Zweifel von der Jacke wischten wie Regen­tropfen vom Trench­coat – ein Wort von Ulrich Chaussy selbst.

Ich selbst habe erlebt, wie die Bun­des­an­walt­schaft reagiert hat, als vor ein paar Jahren her­auskam, dass noch 2007 die letzten Asser­vate des Okto­ber­fest­an­schlags ver­nichtet worden waren. Keiner hatte daran gedacht, noch einmal mit modernsten Methoden an die Asser­vate zu gehen, obwohl längst ganze Mord­se­rien per DNA-​Ana­lyse geklärt wurden.  Aber die Bun­des­an­walt­schaft hat die letzten Reste ver­nichten lassen, 25 Jahre nach dem Ende der Ermitt­lungen. Ganz regulär, getreu den Vor­schriften. Und die  Reak­tion,  als es rauskam: Ein Kopf­schüt­teln und ein „Tja, dumm gelaufen“.

Jetzt, da wieder ermit­telt wird,  sucht die Bun­des­an­walt­schaft  nach Split­tern und Spreng­stoff­resten und  Zeugen und Bil­dern. Chaussy kam ihnen um gute 30 Jahre zuvor.

Ich selbst habe viel über Rechts­ra­di­ka­lismus recher­chiert. Ich habe  mir von Udo Voigt die NPD-​Zen­trale in Berlin zeigen lassen und bin mit dem Rechts­ter­ro­risten Man­fred Roeder durch den deut­schen Osten gezogen. Und ich sitze seit zwei Jahren im NSU-​Pro­zess. Ganz häufig wird  man da gefragt: Hast du keine Angst?

Es ist eine eigen­ar­tige Frage, eine Frage, als lebten wir in Russ­land oder in der Wei­marer Repu­blik, als die Rechten mit  Roll­kom­mandos auf Gegner ein­dro­schen. Die Frage mag schmei­cheln, aber sie ver­brämt nor­male jour­na­lis­ti­sche Arbeit zu etwas Beson­derem, Außer­ge­wöhn­li­chen. Und ent­schul­digt so alle anderen, die lieber nicht so genau hin­schauen.

Auch Ulrich Chaussy wird immer wieder gefragt, ob er nicht Angst habe bei seinen Recher­chen. Und wenn er dann sagt, dass er nie mas­siven Dro­hungen aus­ge­setzt war, dass ihm nur mal eine Tracht Prügel  ange­droht worden ist von der Wehr­sport­gruppe Hoff­mann, damals in den 70ern, dann zeugt das nicht nur von großer Offen­heit, son­dern auch von seiner Abnei­gung, sich als Held zu sti­li­sieren.

Man muss kein Held sein in diesem Land, um dort zu recher­chieren, wo es schmutzig und dunkel und oft auch braun ist. Man muss nur seine Arbeit tun. Das ist mühsam, das dauert oft lang. Aber es ist sinn­voll. Keiner hat das so deut­lich gemacht wie Uli Chaussy.

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