Der Investigative
Die Geschichte der im fünften Monat schwangeren Jessica Zeppa ist vielleicht typisch für das, was Andrew Lehrens Arbeit ausmacht: Recherchen an der Schnittstelle zwischen Investigativ- und Datenjournalismus. Zeppa musste sterben, weil in einem US-Militärkrankenhaus eine Sepsis – eine schwere Blutvergiftung– nicht erkannt wurde. Ein Einzelschicksal, das man nicht dramatisieren sollte, oder ein Indiz für die allgemein mangelnde Versorgung in Militärkrankenhäusern?
Um die Frage zu beantworten, kämpften sich Andrew Lehren und sein Team durch Datenberge; Akten, in denen unerwartete Todesfälle verzeichnet wurden, glichen sie mit jenen Akten ab, in denen unerwartete Todesfälle letztlich auch gemeldet wurden. Die Ergebnisse wurden sortiert, visualisiert und kombiniert mit einer investigativen Reportage über mangelnde Patientensicherheit – bedingt durch Strukturprobleme in Verwaltungsapparaten, Hierarchiekonflikte in Krankenhäusern und mangelnde Aufarbeitung durch die zuständigen Stellen des Pentagons. Datenrecherchen und Investigativrecherche verschmolzen so zu einer Einheit. Das Ergebnis: Im Zeitraum von 2011 bis 2013 waren 239 unerwartete Todesfälle dokumentiert, jedoch nur 100 an das „patient-safety-center“ des Pentagons weitergleitetworden – wo Experten herausfinden sollen, wie die Behandlung in Militärkrankenhäusern verbessert werden kann. Und das obwohl die betreffenden Krankenhäuser tatsächlich deutlich höhere Quoten von Komplikationen und Schäden bei Geburten und Operationen zu verzeichnen hatten. Zeppas Fall war somit charakteristisch für mangelhafte medizinische Versorgung sowie symbolhaft für viele vermeidbare Fehler mit Todesfolge.
Für Andrew Lehren bergen Daten unendlich viele Geschichten, die erzählt werden müssen, weil sie den Leser etwas angehen, ihn berühren. Doch anstatt nur ein Diagramm anzufertigen, geht er raus in die Welt und sucht die Menschen hinter den abstrakten Daten. Er beschäftigt sich mit konkreten Fällen, menschlichen Schicksalen und sucht gezielt nach ungeklärten Fragen. Um diese beantworten zu können, schreibt Andrew Lehren die Geschichten dieser Menschen auf. So will er sein Publikum informieren und auch emotional erreichen. Dabei kombiniert er immer wieder alte und neue Methoden der Recherche.
Angefangen hat alles 1988 mit dem Besuch einer Tagung der Vereinigung „Investigative Journalists and Editors“, die ihm klar machte, wie häufig Interessenkonflikte tatsächlich sind und wie unsicher Quellen sein können. Er begann zunehmend, die Dinge investigativ zu recherchieren und entwickelte eigene Strategien. Darüber ließe sich, wie er heute sagt, unendlich lange reden. Am wichtigsten ist ihm aber, dass Journalisten ständig und bei jeder Quelle kritisch denken – und nicht die Komplexität einer Geschichte aus Bequemlichkeiten fallen lassen. Anstatt die in den USA (und nicht nur dort) weit verbreiteten „He-said-she-said-stories“ zu schreiben, soll ein Journalist mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, dem Leser die Wahrheit zu liefern.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie Andrew Lehren althergebrachte Recherche mit neuen Methoden verknüpft, ist die Geschichte von Sergant Bergdahl. Der in Afghanistan stationierte Soldat äußerte in Briefen an seine Eltern Zweifel am Vorgehen der amerikanischen Army. Als er danach plötzlich verschwand, wurde in Amerika eine Diskussion losgetreten, ob der Soldat wirklich von der Taliban entführt worden sei, wie es offiziell hieß. Um die Wahrheit zu finden, ging Andrew Lehren einen Schritt zurück und arbeitete sämtliche auf Wikileaks zugänglichen War Logs zur Einheit Bergdahls durch, die vor seinem Verschwinden geschrieben worden waren. Um ausschließen zu können, dass Bergdahl in Wahrheit aus Unzufriedenheit desertiert war, sondern tatsächlich entführt worden war, untersuchte Lehren das Thema –ohne Rücksicht auf die darauf projizierten politischen Probleme Amerikas zu. Anhand der analysierten Dokumenteließ sich die Entführung Bergdahls bestätigen, aber auch, dass seine stationierte Einheit bekannt für einige Schwierigkeiten war. Mehr noch: Sie spiegeltestrukturelle Probleme des gesamten amerikanischen Militärsystems wieder, weswegen die politische Diskussion um Bergdahls Unschuld erst losgetreten wurde.
Bei seinem persönlichen Kampf für die Wahrheit und für den Qualitätsjournalismus hilft Andrew Lehren die Beschaffung und Analyse von Datensätzen immer wieder – auch wenn es mal nicht um ein Militärthema geht. Bei der New York Times arbeiten dazu Hacker und Journalisten im Team an ihren Geschichten, um zu dafür zu sorgen, dass bei der Verarbeitung der Daten möglichst nichts schief geht. Der Leser soll an erster Stelle stehen und sich drauf verlassen könne, dass alles richtig ist. Andrew Lehrens Leidenschaft, die alte Schule der Journalismus zu pflegen, und zugleich ständig neue Recherchekünste zu lernen, erweist sich dabei inzwischen als die vielleicht beste Strategie.