Newsletter Netzwerk Recherche, Nr. 16, 19.10.2004
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Die nr-Stipendienbroschüre “Die Wahrheit dahinter : Recherche Stipendien” mit Hinweisen zum Stipendium und veröffentlichten Beiträgen:
Die Wahrheit dahinter : Recherche Stipendien (18 S., 593 KB) [PDF]
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Rede von Bundespräsident Johannes Rau beim Jahrestreffen des Netzwerk Recherche am 05. Juni 2004 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben mich eingeladen, über die Entwicklung der Medien in Deutschland zu sprechen. Ich habe spontan zugesagt – und will die Gelegenheit gerne nutzen, Ihnen einmal ausführlich darzustellen, welche Artikel mich in den vergangenen 46 Jahren, so lange habe ich jetzt politische Mandate inne, geärgert haben. Ich hoffe, Sie haben genug Zeit mitgebracht …
Nein, im Ernst: Ich habe zum einen zugesagt, weil mich dieses Thema seit langem bewegt, und weil es eine ganze Reihe von Entwicklungen gibt, die mir Sorgen machen. Zum anderen, weil ich viele Journalisten seit langem kenne und schätze, die hier im Netzwerk Recherche zusammengeschlossen sind.
Damit bin ich aber auch schon beim ersten Problem angekommen. Normalerweise freuen sich Menschen ja über Lob. Wenn aber Politiker Journalisten loben, dann fürchten die Gelobten nicht selten eine besonders perfide Form von Rufmord. Das liegt daran, dass Journalisten generell völlig uneitel sind und deshalb gut auf Lob verzichten können – da gleichen sie ja den Politikern.
Der andere Grund für dies Misstrauen liegt in der professionellen Distanz zwischen Politik und Journalismus. Erst diese Distanz macht ein unabhängiges und objektives Urteil möglich. Nichts belegt diese Distanz angeblich eindrucksvoller als harte Kritik. Wer also gelobt wird, war möglicherweise nicht kritisch und damit auch nicht distanziert genug. Wer will sich das schon – selbst in ein Lob verpackt – vorwerfen lassen?
Damit bin ich beim zweiten Problem. Wenn Politiker über Journalisten sprechen, werden sie schnell verdächtigt, Beschwerdeführer in eigener Sache zu sein. Politiker fühlen sich falsch verstanden, fehlinterpretiert oder – schlimmer noch – ignoriert. Schnell ist heute von Kampagnen die Rede. Auch die Debatte um die Autorisierung von Interviews hat gezeigt, wie aufgeladen die Atmosphäre ist. Ich kenne solche gegenseitigen Schuldzuweisungen seit vielen Jahren und auch ich selber hatte in fast fünf Jahrzehnten politischer Arbeit Anlass zu mancher Beschwerde.
Damit wären wir aber wieder in der klassischen Gesprächssituation: Journalisten schimpfen über Politiker, Politiker schimpfen über Journalisten. Das ist manchmal vielleicht ganz unterhaltsam, aber in der Sache bringt uns das nicht weiter.
Ich sehe reichlich Anlass zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme. Die Medienlandschaft hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert und mit ihr auch der Journalismus. Die Politik hat sich verändert, und das hat auch mit den Medien zu tun. Und schließlich hat sich unsere Gesellschaft verändert und das politische Klima in unserem Land. Das wiederum hat mit beidem zu tun.
Ich will hier also nicht lamentieren über die Frage, ob der Journalismus zu schlecht ist, um eine gute Politik zu vermitteln oder ob die Politik so schlecht ist, dass sie den hohen Anforderungen der Journalisten nicht genügt. Ich verzichte heute auch darauf, über manche Klischees und Etiketten zu sprechen, die mir Journalisten in all den Jahren so angehängt haben – und ich hoffe, dass Sie mir diesen Akt der Selbstzensur zugute halten!
Ich möchte Ihnen vielmehr sagen, was ich für guten Journalismus halte. Das mag ein wenig schlicht klingen, aber mir scheint es dringend notwendig zu sein, an das vermeintlich Selbstverständliche zu erinnern, bevor wir in der Diskussion nachher zu intellektuellen Höhenflügen aufbrechen. Um diese Diskussion zu erleichtern, habe ich einige Sätze formuliert, die ich näher erläutern will. Ich wollte nicht von “Thesen” sprechen, weil das doch sehr gewaltig klingt, und ich mir nicht anmaße, den Journalismus neu erfinden zu wollen. Zehn Sätze sind es aber trotzdem geworden.
Mein erster Satz lautet:
Gute Journalisten brauchen eine gute Ausbildung.
Im vergangenen November habe ich in Marbach die so genannte “Schiller-Rede” gehalten. Darin ging es unter anderem um die Entstehung von Kultfiguren und um die Wechselbeziehung von Medienwirkung und Wirklichkeit. “Bildung,” so habe ich damals gesagt “hat in dieser von den visuellen Medien geprägten Gesellschaft eine besondere, nämlich eine kritische Funktion. Und ich bin fest davon überzeugt, dass zu einem solchen Begriff von Bildung die Bildung des sprachlichen Vermögens und die literarische Bildung unverzichtbar sind.” So weit mein eigenes Zitat. Nach dieser Rede kam eine junge Reporterin auf mich zu, hielt mir das Mikrofon hin und fragt unvermittelt: “Herr Rau, was war das Wichtigste in Ihrer Rede?” Ich habe ihr geantwortet: “Die Einleitung, der Hauptteil und der Schluss.”
Man mag über die junge Frau schmunzeln. Sie ist aber leider kein Einzelfall. Sie kennen alle die Geschichte von dem jungen Kollegen, der ein kritisches Interview in der Bundestagslobby führt und sich anschließend nach dem Namen des befragten Politikers erkundigt. Selbst wenn sie nicht stimmt, ist sie zumindest gut erfunden und sie illustriert ein durchaus verbreitetes Problem. Ich halte es jedenfalls noch nicht für einen Ausdruck von emanzipiertem Journalismus, wenn das Selbstbewusstsein eines Journalisten seiner Kompetenz weit voraus ist. Auch Unhöflichkeit kann nur vorübergehend verbergen, dass man von einer Sache möglicherweise keine Ahnung hat. Forschheit und Kritikfähigkeit sind noch lange nicht dasselbe.
Deshalb plädiere ich für eine solide und umfassende Ausbildung von Journalisten. Dazu gehört zum einen das Handwerk: Das beginnt mit der Sprache und endet noch nicht mit der Kenntnis journalistischer Darstellungsformen. Es gibt eben einen Unterschied zwischen Nachricht und Kommentar, und nicht alles, was mit einem Witz endet, ist deshalb schon ein Feature.
Der Journalismus lebt – wie die Politik – von der Glaubwürdigkeit. Darum muss eine Information, die glaubwürdig sein will, auch einen sauberen handwerklichen Rahmen haben. Da mag man noch so modische Fachbegriffe benutzen: Wer Objektivität verspricht und die Fakten der Meinung unterordnet, der manipuliert. Und wer ein Interview erfindet, betreibt keinen Borderline-Journalismus, wie das neudeutsch heißt, sondern hat ein Interview erfunden. Das ist das eine: Junge Journalisten müssen ihr Handwerk beherrschen.
Das andere ist: Journalisten brauchen auch Bildung, jenseits der Berufsausbildung. Ich erwarte von politischen Journalisten, dass sie die Grundlagen unseres politischen Systems und die in ihm handelnden Hauptpersonen kennen. Der Bundespräsident heißt eben nicht Johannes Rau – SPD, weil der Bundespräsident nun mal keiner Partei angehört. Ich kann das verschmerzen. Blamabel wird es aber, wenn die Berichterstattung über zentrale politische Themen eklatante Wissensmängel über das Gesetzgebungsverfahren oder über die Zuständigkeit von Verfassungsorganen offenbart. Wie wollen Journalisten ihre Leser informieren, wenn sie selbst nicht verstehen, was passiert? Ich sage das aus Erfahrung: Als Leser, als Zuhörer und Zuschauer habe ich den Eindruck, dass sich die Kompetenz der Berichterstattung vielerorts deutlich verschlechtert hat.
Damit bin ich bei meinem zweiten Satz:
Guter Journalismus kostet Geld.
Wir wissen alle, wie sehr die schlechte Wirtschaftslage viele Verlage und Sender getroffen hat. Die Anzeigen- und Werbeerlöse sind erheblich zurückgegangen, die hohe Arbeitslosigkeit führt in vielen Städten zu sinkenden Auflagen. Zugleich ist mit dem Internet eine starke Konkurrenz vor allem im traditionellen Geschäft der Rubrikenmärkte entstanden. Die Folgen sind unübersehbar. In den Redaktionen wurden in den vergangenen Jahren massiv Stellen abgebaut, der Umfang von Zeitungen und Zeitschriften wurde reduziert, und wo es geht, arbeiten Verlage zusammen – mit gemeinsamen Korrespondenten oder mit gemeinsamen Beilagen.
Natürlich sind auch Medienunternehmen in erster Linie Unternehmen und müssen auf eine solide Ertragslage achten. Aber wir müssen uns klarmachen, wohin diese Entwicklung führt. Wenn immer weniger Journalisten immer mehr Themen bearbeiten müssen, nimmt das Fachwissen zwangsläufig ab. Flexibilität allein macht aber noch keinen guten Journalismus.
In einer globalisierten Welt werden auch die Sachverhalte immer komplexer. Wer im Lokalteil über Umweltschutz berichtet, wird sich zwangsläufig auch mit dem EU-Recht beschäftigen müssen. Wer über Gesundheits- oder Rentenreformen schreibt, hat mit einer hochkomplizierten Gesetzesmaterie zu tun. Journalisten brauchen Zeit, um sich solches Wissen anzueignen, und sie brauchen Platz, um ihre Erkenntnisse darstellen zu können. Wenn beides fehlt, sind Journalisten in einer schwachen Position – gegenüber ihren Gesprächspartnern, gegenüber den Einflüsterungen einer immer mächtiger werdenden PR-Industrie und damit letztlich auch gegenüber ihren Zuschauern und Lesern.
Das führt mich zu meinem dritten Satz:
Journalisten müssen unabhängig von ökonomischen Interessen sein
Ich spreche jetzt gar nicht von kriminellen Insider-Tips oder davon, dass Journalisten unbestechlich sein sollten – diesen Anspruch halte ich immer noch für selbstverständlich. Schwieriger wird es schon, wenn Motor- oder Reisejournalisten ihre Arbeit nur noch tun können, wenn sie von den Unternehmen dazu eingeladen werden. Es gibt heute aber andere Anfechtungen, die für das Publikum viel schwerer zu durchschauen sind.
Wenn Medien über neue Trends berichten, beeinflussen sie damit natürlich auch das Kaufverhalten ihrer Leser oder Zuschauer. Ich frage mich inzwischen immer öfter, an welchen Kriterien sich eine solche Berichterstattung orientiert. Ist ein Trend wirklich ein Trend? Oder stellt sich die Publizistik in den Dienst einer umfassenden Verwertungskette der beteiligten Medienkonzerne? Ist ein Superstar wirklich ein Talent? Oder werden Menschen aus ökonomischem Interesse mit journalistischen Mitteln zum Medienereignis gemacht?
Wie entstehen eigentlich Themen, die uns wochen-, manchmal auch monatelang beschäftigen? Natürlich durch aktuelle Ereignisse. Immer öfter aber stellt sich doch die Frage, was der eigentliche Anlass großer Debatten in unserem Land ist. Auch das hat mit Unabhängigkeit zu tun, allerdings nicht mit ökonomischer, sondern mit geistiger Unabhängigkeit.
Mein vierter Satz lautet deshalb:
Gute Journalisten brauchen einen eigenen Kopf.
Das sagt sich leicht dahin, und selbstverständlich ließe sich kein Journalist vorwerfen, er sei leicht zu beeinflussen. Aber wie kommt es dann, dass manche Themen wie aus dem Nichts auftauchen und nach einer Phase hektischer Betriebsamkeit ebenso plötzlich wieder im Nichts verschwinden? Hat das vielleicht nicht doch etwas zu tun mit dem neu entstandenen Berufsbild des Spin-Doctors, dessen Aufgabe ja darin besteht, im Sinne seines Auftraggebers Themen zu setzen und Meinung zu beeinflussen? Wenn spekulative Exklusivmeldungen zu harten Nachrichten gemacht werden – hat das vielleicht auch etwas mit fehlender Recherche zu tun?
Ich höre gelegentlich von Chefredakteuren, dass man an diesem oder jenem Thema nicht vorbeigekommen sei, obwohl es nicht wirklich relevant war oder gar den Tatsachen widersprach. Warum eigentlich? Weil eine große Zeitung es zu ihrem Thema gemacht hat? Natürlich gab es immer Medien, die Meinungsführer waren. Aber es ist schon bemerkenswert, wenn der “journalist”, die Zeitschrift des Deutschen Journalistenverbandes, schreibt: “,Bild’ gilt der erstaunten Branche inzwischen als ,Leitmedium’.” Ich habe nichts gegen den Boulevard. Aber kann es wirklich sein, dass ein Boulevardblatt zum “Leitmedium” der deutschen Presse wird?
Es gibt viele Möglichkeiten, ein Thema zu betrachten – unter politischen, weltanschaulichen oder auch nur unter regionalen Aspekten. Ich wünsche mir, dass Journalisten sich ihren eigenen Kopf darüber machen, dass sie Themen setzen, weil sie dies aus eigener Erkenntnis, geprüft durch eigene Recherche, für sinnvoll halten. Sie kennen die berühmte Antwort des Bergsteigers auf die Frage, warum er einen Berg besteigen will: “Weil er da ist”. Das gilt nach meiner Auffassung nicht zwangsläufig auch für Journalisten. Man muss nicht jeder Ente hinterherjagen, nur weil sie jemand in die Welt gesetzt hat.
Ich wünsche mir da manches Mal auch in den Chefredaktionen größeres Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit. Dabei sein ist nicht immer alles, und von Zeitungen, von Radio- und Fernsehprogrammen erwarte ich mehr als hohen Unterhaltungswert.
Das ist der Kern meines fünften Satzes:
Journalisten müssen Zusammenhänge erkennen.
Jürgen Leinemann hat das vor einigen Jahren einmal ziemlich polemisch formuliert. Er hat vorausgesagt, dass die ärgerliche Neigung der Journalisten abnehmen werde, Dinge aus dem Zusammenhang zu reißen – “denn Zusammenhänge, aus denen man etwas reißen könnte, sind den wenigsten Journalisten bekannt”. So weit will ich nun nicht gehen. Aber haben Sie nicht auch manchmal, in stillen Momenten, das Gefühl, dass es in der Politik eigentlich nicht nur und nicht ausschließlich um die Frage geht, ob nun Gerhard Schröder, Angela Merkel oder Edmund Stoiber im Politbarometer oben stehen?
Ich lese es doch auch regelmäßig in Leitartikeln und höre es in Kommentaren: Politik müsse sich den Sachproblemen zuwenden, der dauernde Streit verstelle den Blick aufs Wesentliche und die Bürger wollten konkrete Antworten und keine Wahlkampf-Slogans. Wenn ich dann aber weiterblättere oder weiterhöre, erfahre ich oft genug ausschließlich das: Wer streitet mit wem, und wer liegt vorn? Manchmal erfährt man auch noch, worüber gestritten wird. Aber den Kern der Auseinandersetzung erreicht die Berichterstattung immer seltener.
Ich räume sofort ein, dass die Politik selber einen großen Anteil an dieser Entwicklung hat.
Medien erwarten ja zu Recht, dass Politiker in verständlichen Worten erklären, was sie tun. Aber Politiker sind dabei auf die Vermittlung durch Medien angewiesen. Man kann die Probleme der Sozialversicherung nicht sinnvoll in einem Statement von einer Minute erklären. Und es ist inzwischen eher die Regel als die Ausnahme, wenn bei der Kürzung von Interviews in den Sachaussagen gestrichen wird und nicht bei den Aussagen über Personen.
Ich halte es für eine der wichtigsten Aufgaben von Journalismus, den Menschen komplexe Zusammenhänge verständlich zu vermitteln. Es mag zwar bequemer sein, Konflikte zu personalisieren und sie damit auf die Frage “Wer-gegen-wen?” zu reduzieren. Das Ergebnis ist aber auf Dauer verheerend für unsere Demokratie. Wenn Menschen Zusammenhänge nicht begreifen, wenn Transparenz fehlt, dann wird es umso schwieriger, Zustimmung für politische Lösungsvorschläge zu gewinnen. Das ist eines der Probleme, vor denen wir derzeit im Zusammenhang mit der Reformdebatte stehen. Ich habe gelegentlich den Eindruck, dass durch diesen Hang zur Boulevardisierung die Medien selbst zu der Reformblockade beitragen, die sie selber häufig in ihren Kommentaren beklagen.
Deshalb ist mein sechster Satz:
Journalisten sollten einen Standpunkt haben.
Ich meine das wahrlich nicht im parteipolitischen Sinne. Natürlich haben auch Journalisten ihre politischen Präferenzen und solange sie das nicht daran hindert, die Dinge nüchtern und unvoreingenommen einzuschätzen, ist dagegen nichts einzuwenden. Ich meine das vielmehr ganz wörtlich: Es wäre hilfreich, wenn mehr Journalisten in ihrer eigenen Arbeit so standfest wären, wie sie das von Politikern häufig fordern.
Ich glaube, es ist gibt einen Zusammenhang zwischen dem vielfach beklagten Populismus in der Politik und dem Populismus in manchen Medien. Beides wiederum hat gewiss mit zu der Situation geführt, die seit Jahren unter der Überschrift “Reformstau” beschrieben wird.
Es gehört fast schon zur Standardforderung in Leitartikeln und Kommentaren, dass die Politik angesichts der Haushaltsnöte sparen müsse. Werden aber konkrete Sparvorschläge vorgelegt, rollt eine publizistische “Wut-Welle” durchs Land. Überall ist vom notwendigen Subventionsabbau die Rede – darüber, was Subventionen sind, ließe sich übrigens trefflich streiten. Werden aber Subventionen gestrichen, erhebt sich auch in vielen Redaktionen genau darüber vielfach großes Klagen.
Ich höre und lese ständig, dass die Steuern sinken müssen, aber in der gleichen Sendung oder in der gleichen Zeitung wird mehr Geld vom Staat für dieses oder jenes gefordert. Neuerdings verteilt die “Bild”-Zeitung sogar Aufkleber, mit denen gegen den hohen Benzinpreis und die Ökosteuer protestiert werden soll. Nun will ich mich nicht zur Ökosteuer äußern. Aber wissen die Menschen, die solche Aufkleber tragen, dass ihre Ökosteuer in die Rentenkasse fließt? Und kommt dann auch konsequenterweise die nächste Aktion – Aufkleber für höhere Rentenbeiträge oder gar für Rentenkürzungen?
Jeder kennt die Wechselwirkung von Medienberichterstattung und Wahlentscheidungen. Wenn Journalisten also von Politikern unpopuläre Maßnahmen verlangen, können sie nicht am nächsten Tag die gleichen Politiker dafür kritisieren, dass sie Unpopuläres tun. Das ist zumindest gedankenlos. Meistens ist es populistisch. Beides schafft weder Glaubwürdigkeit noch Vertrauen.
Mein siebter Satz hängt damit eng zusammen:
Journalisten sind Beobachter, nicht Handelnde.
Ich habe diese Aufkleber-Aktion gerade erwähnt. Man mag das für eine Spielart des Boulevard halten und nicht weiter wichtig nehmen. Aber ich stelle doch fest, dass Medien und Journalisten immer häufiger selbst zu Handelnden werden wollen. Täuscht mein Eindruck, dass selbst in großen Magazinen die modische Trendgeschichte heute mehr gilt als die profunde Analyse? Dabei werden Fakten, die der Überschrift entgegenstünden, ganz bewusst ignoriert, um den Effekt der These zu verstärken und immer öfter kann man auch den Eindruck gewinnen, der Weltuntergang stehe unmittelbar bevor.
Ich spreche hier nicht über kritische Berichterstattung, die Missstände enthüllt und Skandale aufdeckt und damit natürlich auch Einfluss nimmt auf politische Entwicklungen. Das ist eine geradezu klassische Aufgabe des Journalismus und deshalb empfinden sich die Medien zu Recht auch als Kontrollinstanz im demokratischen System.
Gefährlich wird es da, wo Journalisten politische Prozesse oder gar Wahlentscheidungen durch aktives, von anderen Interessen geleitetes Handeln beeinflussen. Gefährlich wird es da, wo durch Zuspitzung oder Halbwahrheiten Stimmungen absichtlich verstärkt oder sogar erst gemacht werden.
In einem demokratischen System unterwerfen sich die gewählten Repräsentanten der Kontrolle durch den Bürger – sie übernehmen für eine begrenzte Zeit Verantwortung und sie können bei Wahlen abgewählt werden. Medien und Journalisten unterliegen einer solchen demokratischen Kontrolle nicht. Warum auch? Sie machen ja keine Gesetze, sie wählen keine Regierungen, sie berufen keine Minister. Was aber geschieht, wenn sie doch Einfluss nehmen? Wer kontrolliert, ob und auf welchem Wege sie das tun? Wer prüft, welche ökonomischen Interessen die beteiligten Medienunternehmen dabei möglicherweise haben? Wo verläuft die Grenze zwischen Aufklärung, Meinung und Manipulation?
Vor diesem Hintergrund muss man sehr vorsichtig umgehen mit Begriffen wie “Kampagne”. Wird dieser Vorwurf aber erhoben, dann muss man ihn umso ernster nehmen. Es geht dabei um mehr als nur um die Auseinandersetzung zwischen Politikern und Journalisten. Es geht letztlich um die Transparenz von politischen Entscheidungsprozessen und diese Transparenz ist ein Grundpfeiler unseres demokratischen Systems.
Manipulation kann auf unterschiedliche Weise stattfinden. Eine halbe Wahrheit ist oft schlimmer als eine ganze Lüge, habe ich in meiner letzten “Berliner Rede” gesagt.
Deshalb ist mir der nächste Satz so wichtig:
Journalisten sollen die Wirklichkeit abbilden.
Über die in Deutschland verbreitete Lust zur Schwarzmalerei habe ich ja vor einigen Wochen gesprochen. Es gibt aber noch ein anderes Phänomen, das mich beunruhigt. Es gehört ja inzwischen zum guten Ton, dass Medien ständig Exklusives melden und damit in eigener Sache werben. Daran ist nichts auszusetzen, wenn die Meldung denn auch stimmt. Inzwischen hat sich aber ein verhängnisvoller Medien-Mechanismus entwickelt, der die Politik und das Land in einen atemlosen Zustand Art permanenter Dauererregung versetzt.
Ich will versuchen, diesen Mechanismus an einem Beispiel ganz plastisch zu erläutern. Vor drei Wochen erklärte der Bundesverkehrsminister in einem Interview mit einer Sonntagszeitung, was seit Jahren die Rechtslage in Deutschland ist: Privatunternehmen, die ein neues Verkehrsprojekt privat finanzieren und betreiben, können eine Mautgebühr für dieses Projekt erheben. “Allerdings”, so sagte Manfred Stolpe, “ist diese Variante auf Grund europäischer Rahmenbedingungen beschränkt auf Tunnel, Brücken oder Gebirgspässe und einige wenige Bundesstrassen und Autobahnen.” So weit der Originalton.
Die Zeitung macht daraus die Überschrift “Stolpe will Maut für Pkw” und gibt eine Vorabmeldung an die Nachrichtenagenturen. Am Samstag meldet die erste Agentur: “Stolpe – Maut auch für Pkw denkbar”. Die nächste spitzt schon weiter zu: “Stolpe plant Maut auch für Pkw”. Am Abend, das Interview ist noch immer nicht erschienen, beliefert eine andere Zeitung die Agenturen vorab mit einer exklusiven Stellungnahme des ADAC, der “mit allen Mitteln gegen die Pkw-Maut kämpfen” wolle.
Am Sonntag, das Interview ist endlich erschienen, stellt das Ministerium klar, dass keine Maut geplant sei. Wenige Stunden später weist ein Grüner die Pläne Stolpes zurück, der CSU-Generalsekretär spricht von “hemmungsloser Abzockerei”, die CDU kritisiert die “neue Schröpfkur”.
Am Montag ist die offenbar unmittelbar bevorstehende Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland das Thema aller Kommentare, es gibt Sonderberichte im Fernsehen, Experten werden befragt, die Opposition beschimpft die Regierung und umgekehrt.
So geht das noch drei, vier Tage. Danach kehrt langsam wieder Ruhe ein. Der Nebel lichtet sich. Es gibt keine allgemeine Pkw-Maut, das hat auch niemand geplant. Der Verkehrsminister sei “lädiert”, schreibt eine Zeitung, und nicht nur die Bürger sind verunsichert und fragen sich: “Sind denn alle verrückt geworden?”
Es gibt inzwischen leider viele Beispiele dieser Art. Virtuelle Debatten, deren Ursprung keinerlei Aufregung rechtfertigen würde, beschäftigen Journalisten und Politiker tagelang, manchmal wochenlang. Aus Referentenentwürfen werden in den Nachrichten Gesetzesvorhaben, aus Interviewäußerungen werden in der flotten Moderation gleich Pläne. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Die Bürger verstehen immer weniger, was wirklich und was wirklich wichtig ist. Sie wenden sich ab und beschließen, vorsichtshalber gar nichts mehr zu glauben. Dafür tragen Journalisten eine erhebliche Mitverantwortung.
Das führt mich zu meinen beiden letzten Sätzen. Der eine lautet:
Journalisten tragen Verantwortung für das, was sie tun.
Es ist in den vergangenen Wochen viel von Ethik in Politik und Wirtschaft die Rede gewesen. Auch ich habe mich dazu ja häufig geäußert. Die Medien verweisen gern darauf, dass es solche Richtlinien dort längst gibt und auch Kontrollinstanzen wie den Presserat. Aber sind Sie sicher, dass das, was sich in Jahren bewährt hat, auch heute noch zuverlässig wirkt? Im Kampf um Quoten, und damit um den lukrativen Werbemarkt, geht es heute um viel Geld. Ich fürchte, dass immer mehr Verantwortliche in der Medienbranche bereit sind, dafür auch einen hohen Preis zu zahlen.
Ich finde es nicht akzeptabel, wenn Fotos von toten deutschen Polizeibeamten im Irak veröffentlicht werden. Ich finde es abstoßend, wenn Menschen zur Belustigung anderer im Dschungel oder in heimischen Talkshows in demütigenden Situationen vorgeführt werden. Auch der Einwand, dass dies doch freiwillig geschehe, überzeugt mich nicht. Ich bezweifle, dass die Betroffenen immer richtig einzuschätzen können, was mit ihnen geschieht.
Die Würde des Menschen ist unantastbar, steht im Grundgesetz. Und dennoch wird die Menschenwürde in Medien immer öfter angetastet – nicht selten unter dem Vorwand journalistischer Kritik. Persönliche Angriffe auf Menschen sind aber etwas anderes als sachliche Kritik. Ich weiß, dass der Grat zwischen beidem manchmal schmal ist. Aber kein journalistisches Interesse kann die gezielte Verletzung von Menschen rechtfertigen. Übrigens: auch Politiker sind Menschen. Und eine Schlagzeile wie “Frau Minister, Sie machen uns krank”, ist kein Kommentar zur Gesundheitspolitik. Das ist schlicht und einfach eine Entgleisung.
Wer im Privatleben anderer Menschen wühlt, kann sich nicht einfach auf ein öffentliches Interesse berufen und die Tragödien ignorieren, die sich aus solchen Berichten nicht selten ergeben. Wer einem Menschen, der den Bundeskanzler tätlich angreift, über mehrere Seiten Raum zur unreflektierten Selbstdarstellung gibt, muss sich der Folgen einer solchen Berichterstattung bewusst sein. Wer grausame Gewaltverbrechen oder Kriegsgräuel um des Schockeffektes willen detailreich ausbreitet, muss wissen, was er damit anrichtet.
Das häufigste Argument zur Verteidigung solcher journalistischen Grenzverletzungen ist für mich zugleich das armseligste: Die Zuschauer oder die Leser, so heißt es, wollten das so. Selbst wenn es so wäre – was ich in vielen Fällen bezweifle: Ist es nicht ein Armutszeugnis, wenn sich Blattmacher oder Programmplaner damit aus der eigenen Verantwortung für ihr Blatt oder ihr Programm stehlen?
Mein letzter Satz ist letztlich nur eine Erweiterung dieses Themas:
Journalisten tragen Verantwortung für unser Gemeinwesen.
Ich weiß, dass da mancher zusammenzuckt, denn Journalisten wollen ja gerade nicht staatstragend daherkommen. Aber sollten Sie das nicht gelegentlich doch? Bei aller gebotenen Distanz: Es ist auch Ihr Staat, über den Sie berichten, dessen Bild Sie durch Ihre Arbeit prägen. Es kann Ihnen eigentlich nicht gleichgültig sein, wie es um diesen Staat bestellt ist.
Wenn Sie erlauben, will ich mich ein zweites mal selber zitieren: : “Vieles in unserer Gesellschaft, vieles in Politik und Wirtschaft gibt wahrlich Anlass zu Kritik. Die kritische Auseinandersetzung mit Fehlern und Mängeln kann das Vertrauen stärken. Es gibt aber auch in den Medien eine fatale Lust an Schwarzmalerei und klischeehafter Übertreibung. Diese Lust fördert die Entfremdung der Bürger von Politik und Staat.” Das habe ich vor wenigen Wochen in der “Berliner Rede” gesagt.
Noch einmal: Natürlich tragen Politiker eine erhebliche Verantwortung dafür, wenn durch Missmanagement oder das Fehlverhalten einzelner die Politik insgesamt in Misskredit gerät. Das habe ich ja vor kurzem nochmals sehr deutlich kritisiert.
Die häufig zu beobachtende Politikverdrossenheit wird aber auch durch ein undifferenziertes Bild gefördert, das Medien von Politik vermitteln. Häme und Zynismus können ein Gemeinwesen ebenfalls in Gefahr bringen.
Kritik an Politik darf sein, ja sie muss sein. Die Grenze verläuft aber da, wo Politik und Politiker insgesamt verächtlich gemacht werden. Das Bild vom Parlament als “Quasselbude” hat eine traurige Tradition in Deutschland.
Wer Politiker unter Pauschalverdacht stellt, zerstört ebenso Vertrauen wie jene Politiker, die den Verdacht im einzelnen Fall bestätigen. Übrigens: Auch Journalisten können gelegentlich irren. Allerdings erfahren die Leser und Zuschauer davon bemerkenswert selten. Dabei könnte die Glaubwürdigkeit der Medien sogar zunehmen, wenn sie falsche Meldungen bei besserem Wissen revidierten. Allzu häufig bleibt es aber bestenfalls bei einer verschämten Kurzmeldung, wenn sich ein zunächst groß aufgemachter Vorwurf hernach als falsch erweist.
Ich will hier gar nicht von eigenen Erfahrungen sprechen. Ich nenne Ihnen als Beispiel den früheren Bundeskanzler Helmut Kohl. Über lange Zeit hinweg wurde der ungeheuerliche Verdacht erhoben und immer wieder publiziert, er und seine Bundesregierung seien im Zusammenhang mit dem Thema Leuna bestochen worden. Dieser Verdacht hat sich als haltlos erwiesen. Ich habe nicht wahrgenommen, dass Helmut Kohl in dieser Frage mit großen Aufmachern rehabilitiert worden wäre – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Dafür ist beispielsweise Hans Leyendecker zu danken. Die Mehrheit ist dagegen irgendwann zur Tagesordnung übergegangen und die alte Weisheit könnte sich einmal mehr bestätigen: Irgendwas bleibt immer hängen.
Was da hängen bleibt, beschädigt nicht nur den Ruf von Personen. Es beschädigt den Ruf und die Glaubwürdigkeit von Institutionen und zerstört so Vertrauen. Wir brauchen aber dringend neues Vertrauen, gerade in schwierigen Zeiten. Wir brauchen aktive Bürger, die sich in ihre eigenen Angelegenheiten einmischen und Verantwortung übernehmen. Die Demokratie lebt nicht von Gesetzen, sondern von leidenschaftlichen Demokraten.
Meine Damen und Herren,
wir brauchen in dieser Demokratie auch leidenschaftliche Journalisten, die sich einmischen und Verantwortung übernehmen. Ich habe manche Sorge geäußert, aber ich sehe auch viel Positives. Wir haben noch immer eine bemerkenswert vielfältige Medienlandschaft. Es gibt viele Journalisten, bekannte und unbekannte, die in ihrem Beruf weit mehr leisten, als der Tarifvertrag von ihnen fordert. Sie leisten einen unverzichtbaren Beitrag zu unserem Gemeinwesen, auch indem sie Missstände aufdecken und Fehlentwicklungen aufzeigen. Viele von ihnen sind heute hier, und ich freue mich darüber, dass Sie bei dieser Jahrestagung des netzwerks recherche Ihre eigene Arbeit so kritisch hinterfragen.
Politiker, und seien sie Bundespräsidenten, sind nur bedingt als Medienkritiker geeignet – ich habe das am Anfang erwähnt. Unsere Gesellschaft braucht eine selbstkritische Debatte innerhalb der Medien. Wir brauchen eine Diskussion über die Rolle und über das Verhalten von Medien aber nicht nur bei Treffen wie diesem, bei Gewerkschaftsversammlungen, auf Medientagen oder im Rundfunkrat. Ich wünsche mir, dass im Alltag, in Redaktionskonferenzen, aber auch bei Vorstandstreffen, kritisch über die eigene Arbeit und ihre Folgen und Wirkungen gesprochen wird.
Deutschlands Presse hat noch immer einen guten Ruf. Aber das ist keine Selbstverständlichkeit, und das ist auch nicht für immer gesichert. Die Medien vermitteln ein Bild der Wirklichkeit, aber sie vermitteln damit gleichzeitig auch ein Bild von sich selbst. Beides erscheint mir reformbedürftig.
Rede von Erwin Bixler beim Jahrestreffen des Netzwerk Recherche am 05.06.2004 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg
Sehr geehrte Damen und Herren,
einer der heute stattfindenden Workshops wird das Thema “Whistleblower – Quellen ohne Schutz” bearbeiten. Deshalb wurde ich eingeladen.
Dafür danke ich dem “Netzwerk Recherche” ganz herzlich. Seiner Bitte, Ihnen über meine Entwicklung zum so genannten Whistleblower und meine einschlägigen Erfahrungen zu berichten, werde ich während der nächsten Minuten gerne nachkommen.
Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zur Vorgeschichte:
Seit 1986 arbeitete ich in verschiedenen Funktionen in der Abteilung Arbeitsvermittlung eines Arbeitsamtes. Dabei bekam ich mit, wie das Geld der Beitrags- und Steuerzahler auch für viele unsinnige Aktivitäten ausgegeben wurde: marktferne Umschulungen und Fortbildungen, ineffektive Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und dergleichen. An die Stelle von echten Erfolgen traten zunehmend mehr oder weniger systematisch geschönte Statistiken.
Anfang der 90er Jahre war ich es Leid geworden, meinen Lebensunterhalt überwiegend durch das Mitwirken am Bau und bei der Pflege der >Potemkinschen Dörfer< der Bundesanstalt für Arbeit und durch das weitgehend wirkungslose Ausgeben uns anvertrauten Geldes bestreiten zu sollen. Ich wollte mein Gehalt für eine sinnvolle Arbeit erhalten.
Damals verfasste ich gemeinsam mit einem damaligen Vorgesetzten für eine Fachzeitschrift einen Artikel über die Probleme der öffentlichen Arbeitsvermittlung.
Ich war schon so weit, mich damit abzufinden, dass das Schreiben von Artikeln und Leserbriefen zwar das eigene Gewissen zeitweise zu beruhigen vermag, aber ansonsten gar nichts bringt. Da bot sich mir 1997 die Chance, mein Anliegen intensiver verfolgen zu können:
Der Gesetzgeber hatte der Bundesanstalt nach bald 50 Jahren ihres Bestehens eine Innenrevision verordnet. Aus meiner Führungsposition in einem Arbeitsamt bewarb ich mich als Prüfer in der gerade im Aufbau befindlichen Innenrevision der BA, obwohl das für mich finanzielle Einbußen und wesentlich längere Fahrtzeiten bedeutete.
Dafür durfte ich fortan von Amts wegen tun, was ich bis dato gewissermaßen nebenbei getan hatte: recherchieren, analysieren, bewerten, Verbesserungen vorschlagen … Aber vor allem musste – und durfte – ich meinen Vorgesetzten jetzt ganz offiziell berichten, was wir von der Innenrevision bei unseren sehr gründlichen Recherchen vorgefunden und entdeckt hatten.
Aber auch diese ganz offizielle Kritik wurde systematisch ignoriert. (Dasselbe Schicksal erlitt übrigens ein “Panorama”-Bericht, der im September 98 gesendet wurde. Dieser Beitrag beschäftigte sich – völlig unabhängig von meinen unmittelbar zuvor durchgeführten Untersuchungen – ebenfalls mit der Erzeugung >virtueller Arbeitsvermittlungen<. – Als es allerdings gut zwei Jahre später darum ging, bestimmte Leute von der Substanz meiner Vorhaltungen zu überzeugen, sollte sich dieser “Panorama”-Bericht doch noch als sehr hilfreich erweisen. Deshalb an dieser Stelle: Herzlichen Dank an die Redaktion von “Panorama”!)
Nachdem die oberste Anstaltsleitung meine Berichte “so nicht” hinnehmen wollte, war ich zeitweise gewillt, diesen aussichtslos erscheinenden Kampf aufgeben.
Als es mir dann aber doch wieder zu bunt wurde, raffte ich mich noch mal auf: Am 5. Oktober 2000 schrieb ich meinem damaligen Referatsleiter einen Vermerk. In diesem Schriftstück wies ich darauf hin, dass unser Controlling “auf die Beteiligung am Bau ‚Potemkinscher Dörfer’ hinaus” laufe.
Wieder keine für mich erkennbare Reaktion.
Als nächstes veröffentlichte ich in der Mai/Juni-Ausgabe 2001 der Mitarbeiterzeitschrift “DIALOG” einen weiteren Leserbrief. Darin stellte ich geschäftspolitische Schwerpunkte, Praktiken und Zahlen in Frage, die vom damaligen Präsidenten hoch geschätzt und eingefordert wurden.
Erneut keine erkennbare Reaktion.
(Ein gutes Jahr später, genau am 11. Juli 2002, erfuhr ich aber, dass mein letzter Vermerk und mein letzter Leserbrief wenigstens nicht ganz folgenlos geblieben waren: Am 29. Oktober 2001 unterschrieben nämlich die damalige Präsidentin meiner Dienststelle und mein Referatsleiter eine neue Beurteilung meiner dienstlichen Leistungen und meines Potenzials. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass diese Beurteilung wesentlich schlechter ausfiel, als alle Beurteilungen in den davor liegenden 25 Jahren.)
In diesen Monaten nach meinem Vermerk und der Veröffentlichung meines Leserbriefes war mir aber auch ohne das Wissen um diese insgeheim erfolgte neue Beurteilung völlig klar geworden, dass es mir demnächst an den Kragen gehen wird. Dafür hatte ich mehrere Anzeichen.
Als ich dann Mitte Dezember 2001 davon hörte, dass der Bundesrechnungshof auf einem von ihm untersuchten Teilgebiet ähnliche Feststellungen getroffen haben soll wie ich drei Jahre zuvor, wagte ich endlich den mir bis dahin unvorstellbar großen Schritt. Es war eine Mischung aus Verzweiflung, Trotz, Hoffnung und >fatalistischen Anwandlungen<, die mich etwa folgendes denken ließ: Wenn schon, denn schon! Jetzt gilt’s! Kaltstellen und versenken werden sie dich ohnehin – also muss ich auch diese Gelegenheit noch nutzen!
Wenige Tage später, nämlich am frühen Morgen des Heiligen Abends 2001, schrieb ich dem damaligen Staatsminister beim Bundeskanzler Hans Martin Bury einen eineinhalbseitigen Brief. In diesem Schreiben teilte ich Bury unter anderem mit, dass ich über eine “durchaus skandalträchtige Sache” informiert bin, dass der Bundesrechnungshof in der gleichen Sache auch schon unterwegs sei und so weiter. Ich bat um ein Gespräch.
Trotz mehrmaligen Nachfragens reagierte weder Bury noch einer seiner Mitarbeiter. Deshalb schrieb ich vier Wochen später an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, aber direkt an den damaligen Arbeitsminister Walter Riester. Dieser Brief an Riester fiel wesentlich ausführlicher aus als das Schreiben an Bury.
(Am Vormittag des 23. Januar 2002, ich saß noch am Schreiben an den Arbeitsminister, erhielt ich einen Anruf. Man unterrichtete mich darüber, dass in der Hauptstelle in Nürnberg eine heillose Aufregung herrsche. Vor ein, zwei Wochen sei dort eine Prüfungsbeanstandung des Bundesrechnungshofes eingetroffen, in der die Validität der Vermittlungszahlen erheblich in Zweifel gezogen werde. Nun habe der Präsident die Innenrevision beauftragt, die Beanstandung des Rechnungshofes durch eigene Untersuchungen zu entkräften.
Ach, du meine Güte! dachte ich, in Nürnberg bereitet man bereits die Widerlegung des Bundesrechnungshofes vor – und ich schreib’ hier noch rum. Dann rief ich kurzerhand im Ministerium in Berlin an, ließ mich mit dem Ministerbüro verbinden, erklärte einer Dame den Grund meines Anrufes, bat sie um Ihre E-Mail-Adresse und avisierte ihr bereits für die nächsten Minuten eine E-Mail mit dem noch nicht ganz fertigen Schreiben an den Minister.
Am nächsten Tag, dem 24. Januar 2002, gab ich dann mein – um eine Passage zu dem einen Tag zuvor erhaltenen Anruf ergänztes und mit etlichen Anlagen versehenes – Schreiben zur Post.)
Plötzlich ging alles rasend schnell: Bereits am 28. Januar wurde ich telefonisch für den 30. Januar nach Berlin ins Ministerium eingeladen.
(In diesen für mich unvergesslichen Tagen erwies sich ein weiterer Fernseh-Beitrag als hilfreich. Er hieß “Die sinnlose Milliarden-Schlacht” und wurde an eben diesem Montag, dem 28. Januar 2002, gesendet. Sein Gegenstand war die >Sinnhaftigkeit< von Umschulungsmaßnahmen. Auch zu dieser Thematik hatte ich dem Schreiben an den Arbeitsminister als Anlage einen umfangreichen Revisionsbericht beigelegt. Der Fernseh-Beitrag erschien mir dermaßen authentisch, dass mir schon peinlich zumute wurde. Ich dachte, die im Ministerium werden wohl denken, dass ich … Aber ich hatte mit dem Beitrag nichts zu tun. Gleichwohl ein Kompliment und ebenfalls ein herzliches Dankeschön an die Redaktion von “Report Mainz” für “Die sinnlose Milliarden-Schlacht”!)
Am Mittwoch, dem 30. Januar 2002, saß ich einigen leitenden Beamten des Arbeitsministeriums sechs Stunden lang Rede und Antwort. Man gab sich wider Erwarten freundlich.
Nach diesem Gespräch war “Feuer unterm Dach”. So ein Vertrauter Riesters laut “Spiegel”.
Noch am selben Tag wurden der ebenfalls einbestellte Präsident Jagoda und sein Tross mit meiner Eingabe konfrontiert und aufgefordert, dazu bis zum nächsten Tag Stellung zu nehmen. Diese Stellungnahme fiel, so Riester in verschiedenen Interviews, nicht befriedigend aus.
Am 4. Februar rief mich dann doch noch ein leitender Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes an und bedankte sich für das Schreiben an Bury. Später erfuhr ich aus der “Tagesschau”, dass die “Süddeutsche Zeitung” am selben Tag gemeldet hatte, dass der Bundesrechnungshof die Vermittlungszahlen der Bundesanstalt beanstandet habe. Die “Süddeutsche” verfügte plötzlich über eine Kopie der bereits Wochen zuvor bei der BA und im Ministerium eingetroffenen Prüfungsbeanstandung des Bundesrechnungshofs.
Jetzt überschlugen sich die Ereignisse: Mittwochs, 6. Februar, gab Riester eine Pressekonferenz. Dabei erwähnte er, dass nicht nur der Bundesrechnungshof Beanstandungen getroffen habe, sondern auch ein Revisor der BA bei ihm vorstellig geworden sei, der viel weiter gehende Vorwürfe mache.
Einer der Arbeitsmarktexperten aus seinem Ministerium teilte mir das noch am frühen Nachmittag desselben Tages telefonisch mit. Der Anrufer gab deutlich zu erkennen, dass ihm das Vorpreschen des Ministers gar nicht gelegen kam. Ich müsse nun damit rechnen, dass mich Journalisten ausfindig machen würden. Die “Journaille” sei in diesen Dingen sehr hartnäckig. Ich solle gar nichts sagen. “Notfalls”, stellte er mir in Aussicht, würde man mich für einige Tage “aus dem Verkehr ziehen.”
Da ich mich ungern aus dem Verkehr ziehen lasse, versuchte ich, ihn mit dem Hinweis zu besänftigen, dass es wohl nicht so einfach sein dürfte, einen einzelnen Mitarbeiter der Anstalt ausfindig zu machen.
Tags darauf rief die erste Journalistin an. Freitags stand mein Name im Berliner “Tagesspiegel” und das Telefon nicht mehr still. Das “Handelsblatt” und die “Financel Times Deutschland” zitierten bereits aus meinem Schreiben an Riester. Das Kanzleramt geriet unter Beschuss, und ich in die “Tagesschau”.
Zu alledem meldete sich noch die saarländische Kripo bei mir. Man hatte ihr gesteckt, dass der an diesem Freitag verübte Selbstmord eines Arbeitsamtsdirektors mit meiner Aktion zusammenhängen könne.
Inzwischen war ein Hausbesuch meines Arztes dringend angesagt. Dass mich der “Bericht aus Berlin” an diesem Abend schließlich noch als den “Mann” vorstellte, “der heute die Regierung ins Wanken brachte”, nahm ich dann schon relativ gleichmütig hin.
Samstags fand ich auch mein Schreiben an Bury in der Bild-Zeitung abgedruckt.
Diese Indiskretionen brachten mir zwar einige anstrengende Tage und eine beträchtliche Gewichtsreduzierung ein. Aber die Veröffentlichung meines Namens und meiner Schreiben hat mir darüber hinaus nicht geschadet. Ganz im Gegenteil: Zuerst war ich ja einigermaßen sauer auf die unbekannten Informanten der Journalisten, die meinen Namen und meine Schreiben veröffentlichten.
Aber schon wenig später sah ich mich diesen Informanten und den Journalisten zu großem Dank veranlasst. Was hätte man später mit mir angestellt, wenn meine Rolle in dieser Sache und meine Identität allein einigen Führungskräften des ehemaligen Arbeitsministeriums und der Bundesanstalt für Arbeit bekannt geblieben wären?
Mit der Öffentlichkeit und mit Journalisten hatte ich in diesen Wochen also keine nachhaltigen Probleme. Sorgen bereiteten mir weiterhin ausschließlich einige Leute in der Bundesanstalt:
Auf regionaler Ebene überzog man mich mit einem öffentlich geführten Streit um die Frage, ob ich berechtigt gewesen sei, den Dienstweg abzukürzen. Während die Hauptstelle nach anfänglichem Abstreiten einräumte, 1998 aus Saarbrücken einschlägige Hinweise erhalten zu haben, wollte in Saarbrücken niemand etwas von meinen Revisionsberichten, Artikeln, Leserbriefen und Vermerken gewusst haben.
Indessen versuchte die Hauptstelle, sich unter anderem mit der selbst gestrickten Kompliziertheit der Weisungen zur Statistik herauszureden. Und zu allem Elend traten auch noch die beharrlichen Verteidiger des >Sozialstaates< auf den Plan, um die BA, diese Säule der sozialen Sicherung, gegen >widerliche Vorwürfe< in Schutz zu nehmen.
Dennoch: Keine drei Wochen nach dem plötzlichen Ausbruch des “Arbeitsamt-Skandals” mussten Präsident Jagoda und der für die Bundesanstalt über Jahrzehnte hinweg verantwortliche Staatssekretär ihren Hut nehmen. Einen Tag später, am 22. Februar 2002, verkündeten der Bundeskanzler und sein damaliger Arbeitsminister vor der Bundespressekonferenz die vollständige Erneuerung der Bundesanstalt für Arbeit.
Bei mir war inzwischen wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt. Aber die Anstrengungen und Anfeindungen der zurückliegenden Wochen und Monate hatten deutliche Spuren hinterlassen. Trotzdem meinte ich nach zweieinhalbmonatiger Erkrankung, dass ich für den vorzeitigen Ruhestand noch zu jung sei. Deshalb begab ich mich im April 2002 wieder unter die Fittiche der angeblich bereits in der Erneuerung begriffenen Anstalt.
Es folgten 18 Monate, in denen ich mich einem eher subtilen Mobbing ausgesetzt sah:
Am Tag meiner Rückkehr wurde ich zu meiner Überraschung in ein “Back-Office” versetzt. Die personelle Konstellation war unverkennbar so angelegt worden, dass ich Probleme mit den dortigen Kollegen bekommen sollte. Aber diese miese Rechnung der Strategen ging nicht auf. In meinem neuen Referat begegneten mir ausgezeichnete Kolleginnen und Kollegen. Wir arbeiteten bis zuletzt gut und messbar erfolgreich zusammen.
Wenig später ließ man sich etwas ganz Neues einfallen: Unter dem Vorwand, etwas für mich tun zu wollen, wollte mich der damalige Personalchef dazu bewegen, mich auf eine höher dotierte Stelle im 700 Kilometer entfernten Chemnitz zu bewerben. Angeblich sollte ich schon bald wieder heimatnäher eingesetzt werden. Ich lehnte ab, und einige Monate später wurde das “Vorprüfungsamt” der Bundesanstalt, in dessen Dienst ich treten sollte, gänzlich abgeschafft …
Von der Welt außerhalb der Anstalt wurde ich so gut das ging abgeschottet. Dazu verfüge ich über einen aufschlussreichen Schriftwechsel.
Schließlich vollstreckte man die bereits erwähnte Beurteilung meiner dienstlichen Leistungen und meines Potenzials. Damit schuf man sich eine formal-juristisch schwerlich angreifbare Grundlage für weitere Formen subtilen und weniger subtilen Mobbings.
Nach drei erfolglosen Versuchen, gegen diese Beurteilung vorzugehen und einigen weiteren Blicken in eine trostlose Zukunft, fühlte ich mich endlich alt genug. Ich folgte dem dringenden Rat meines Arztes, mich dieser auf Dauer enervierenden Situation keinesfalls länger auszusetzen. Seit dem 1. Juni befinde ich mich im vorzeitigen Ruhestand.
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielleicht wurde es nicht deutlich – aber ich habe Ihnen gerade die Geschichte eines grandiosen Erfolges erzählt.
Sehen Sie: Manche Menschen sollen ja davon träumen, einmal in ihrem Leben einen bestimmten Berg zu erklimmen und auf seinem Gipfel zu stehen. Diese Menschen sind unter Umständen bereit, für die Verwirklichung ihres Traumes ihre Gesundheit und manchmal sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
Mein >Gipfeltraum< war, es eines Tages zu erreichen, dass sich genügend einflussreiche Kreise bestimmter Probleme und Verhältnisse annehmen.
Mein Traum ging in Erfüllung! Ich stand auf dem Gipfel >meines Berges Der Erfolg ist mir auch und gerade aus heutiger Sicht den gezahlten Preis wert. Ich hoffe, dass er sich eines Tages dergestalt auszahlen wird, dass es mehr und mehr Menschen wagen können, politische und sonstige Entscheidungsträger über gravierende Fehlentwicklungen zu informieren. Denn Reformen können am besten gelingen, wenn man mit dem Reformieren an den Stellen beginnt, an denen es wirklich brennt. Aber eben diese Stellen sollten den Entscheidungsträgern unseres Landes benannt werden dürfen, ohne dass der >Bote< Gefahr läuft, sich anschließend ziemlich schutzlos dem Zorn bloßgestellter Bürokraten ausgesetzt zu sehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Dieses Grußwort hielt Maria von Welser, NDR-Landesfunkhausdirektorin, auf der Jahrestagung des netzwerks recherche am 05.06.2004 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg:
Wenn Sie sich seit gestern in dieser enormen Zahl hier im Norden der Republik einfinden, um sich dem Luxusgut Recherche zu nähern. Denn sind wir auch ein wenig Stolz, hier beim NDR. Denn Sie wären nicht hier, würden Sie nicht zu recht vermuten, dass Recherche und klassisch guter Journalismus auch hier zuhause sind.
Dass dies aber Ihrer aller Thema ist, liegt sicher auch an der schwierigen wirtschaftlichen Situation bei den Print-Medien und in den privaten Sendern. Kann man sich die Wahrheit noch leisten? Lange genug recherchieren, richtig men- oder womenpower einsetzen, den Dingen und Sachverhalten auf die Spur zu kommen?
Kein ganz neues Thema, hat doch der im vergangenen Jahr verstorbene und oft zitierte Neil Postman beim Thema Wahrheit schon einiges pessimistische zur Papier gebracht:
„Das Fernsehen, so schreibt er, verändert die Bedeutung von Informiertsein, indem es eine neue Spielart von Information hervorbringt, die man richtiger als Desinformation bezeichnen sollte. Desinformation aber bedeutet irreführende Information- unangebrachte, irrelevante, bruchstückhafte oder oberflächliche Information, die vortäuscht, man wisse etwas während sie einen in Wirklichkeit vom Wissen weglockt.
Neil Postman kommt zu dem Schluss:„ ich will damit sagen, dass dies, wenn die Nachrichten als Unterhaltung präsentiert werden, das unvermeidliche Ergebnis ist….„
Das würde bedeuten, dass sich zwischen Fernsehen und so etwas wie Wahrheit kaum noch eine Brücke bauen lässt. Was wir hier alle vehement verneinen würden, das sehe ich doch richtig.? Aber: natürlich müssen wir uns nicht erst seit dem Debakel bei der BBC nach dem Irakkrieg und dem Selbstmord des Waffenkontrolleurs Kelly fragen: wie halten wir es wirklich mit der Wahrheit? Denn die Affäre in Großbritannien wurde ausgelöst durch einen nicht in jeder Hinsicht wahrhaftigen Bericht eines Reporters. Wie es ausging wissen Sie: der Reporter musste gehen, die BBC-Spitze auch, ein Lord leitete einen Untersuchungsausschuss zur Frage: ob hier ein Parlamentsbericht aufgebläht worden sei, to sexy it up, heißt es seitdem, wenn an der Wahrheit vorbei geschrieben wird. Und der Premierminister Tony Blair kam mit mehr als einem blauen Auge, nein mit einem fast weißen Hemd davon.
Was verführt einen Journalisten, eine Journalistin, nicht die Wahrheit zu schreiben, zu sagen, zu zeigen? Drei Gründe können es sein:
Was sind die Gründe, wenn die Wahrheit zuerst stirbt? Einen Satz , den wir immer zu Beginn von Kriegen und Krisen besonders oft lesen und hören.
Über die wirtschaftlich schwierigen Zeiten berichten, schreiben Sie, wir alle fast täglich. Wir müssen allesamt sparen. Aber: Recherche kostet Geld. Und Zeit. Arbeitszeit von Journalistinnen und Journalisten. Die Anzeigenerlöse sinken dramatisch, es wir immer mehr gespart. Dies zeitigt Folgen. Für die „Wahrhaftigkeit„.
Ich spreche hier jetzt über Tendenzen, nicht über schwarz und weiß sondern über eine Grauzone.
Dabei geht es nicht um das Versagen einzelner Journalistinnen und Journalisten. Wir wissen, dass sie stark abhängen von den sozialen Bezugsrahmen ihrer Redaktionen und den Erwartungen ihrer Arbeitgeber. In der Krise spürt man das dann ganz besonders. Wahrhaftigkeit ist damit nicht nur eine Frage individueller Moral. Wahrhaftigkeit ist auch eine Frage der Qualität diese Systems. Das bedeutet: ein Mediensystem muss sich Wahrhaftigkeit leisten.Wenn Neil Postman sagt: das Fernsehen fördere die Desinformation, dann erscheint dies in der aktuellen Krise in einem noch anderen Licht. Zeitungen entlassen zu Hunderten Journalisten, in vielen Landkreisen berichtet nur noch eine einzige Zeitung, ein Monopol – und die Bundesregierung denkt über eine Reform der Pressefusionsgesetze nach — die, so fürchten viele, weitere Konzentrationen nach sich ziehen könnte.
In solchen Zeiten ist es sicher nicht schlecht, wenn Magazine wie Panorama, Monitor oder Report heute mehr denn je zur „Wahrheitsfindung„ beitragen. Krisensicherer Journalismus muss also einen hohen Stellenwert besitzen in einer funktionierenden Demokratie.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, meine Damen und Herren.
Wenn sich ein Mediensystem „Wahrhaftigkeit„ leisten muss, dann hat dies natürlich auch etwas mit Finanzierung zu tun. In unserem Fall bei den öffentlich-rechtlichen mit der Rundfunkgebühr. Sie ist eben auch ein Garant für krisensicheren Journalismus, eine Qualitätssicherung für das gesamte System.
Lassen sie mich nochmals auf die Vorgänge um die britische BBC zurückkommen. Die übrigens Vorbild war für den Aufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland, ganz besonders hier im Norden bei der Gründung von „Radio Hamburg„ und später des NWDR.
Die Kelly-Affäre ist auch durch handwerkliche Fehler des BBC-Journalisten Andrew Gilligan verursacht worden. Am Ende hat jedoch sogar der Generaldirektor Greg Dyke seinen Hut nehmen müssen. Ihm waren weniger die Fehler seines Mitarbeiters vorgeworfen worden, sondern vor allem mangelnde Aufarbeitung nach der Eskalation des Skandals und Kellys Selbstmord.
Seinen Rücktritt aber nur auf diese Fragen allein zu reduzieren ist nicht die Wahrheit. Es ging und geht immer um mehr – um politischen Druck und um Abhängigkeiten. Aber es ging und geht auch um die Glaubwürdigkeit der BBC. Obwohl bis zum heutigen Tage die meisten Briten vor allem Tony Blair misstrauen und nicht der guten Tante Auntie The Beep…..
Ich denke, wir sind uns alle einig: Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit sind zentrale Unternehmenswerte für ein Medienhaus. Wir sehen das jedenfalls so für den NDR und für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland.
Wenn es nach den Umfragen geht, dann steht das ERSTE bei den Bürgern in diesem Lande auf Platz eins, in Punkto Glaubwürdigkeit. Und Wahrhaftigkeit.
Wir alle, davon bin ich überzeugt, fühlen uns diesen Werten verpflichtet. Ich wünsche Ihnen spannende Diskussionen und Gespräche.
Vielen Dank.
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Bundespräsident Johannes Rau spricht zum Auftakt des Jahrestreffens von Netzwerk Recherche am 5. Juni 2004 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg
Luxusgut Recherche – wie teuer darf Wahrheit sein?“. Diese Frage steht im Zenturm der diesjährigen Medienkonferenz der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche am 5. Juni in Hamburg. Im NDR-Konferenzzentrum werden rund 500 Vertreter aus den Medien, der Politik und anderen gesellschaftlichen Gruppen kontroverse Medien-Themen mit prominenten Referenten diskutieren. Ein Höhepunkt der Veranstaltung ist die Rede von Bundespräsident Johannes Rau, der eine kritische Bilanz seiner Erfahrungen im Umgang mit den Medien ziehen wird. Weiterlesen
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Initiative Nachrichtenaufklärung und Netzwerk Recherche stellen die Liste der am meisten vernachlässigten Nachrichten und Themen des vergangenen Jahres vor
Im Jahr 2003 gab es eine Fülle wichtiger Themen, über die in den Medien unzureichend berichtet wurde. Die Initiative Nachrichtenaufklärung und das Netzwerk Recherche haben am 7. Februar 2004 die Top Ten der vernachlässigten Themen 2003 vorgelegt.
Die Untersuchung und Analyse der Themen wurde von Journalisten, Wissenschaftlern und Studierenden der Journalistik vorgenommen. Auf Platz 1 der Liste setzte die Jury das Thema “Korruption: Deutsche Unternehmen schmieren im Ausland”. Auch die Machtverschiebung nach Brüssel ist wenig transparent. Ebenfalls unzureichend berichteten die Medien über die mangelnde Hochwassersicherheit von Chemieanlagen. Weiterlesen
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Die Infobroschüre des nr “Recherche fordern und fördern” informiert über die konkreten Ziele des Netzwerk Recherche, das Stipendienprogramm und zieht (zwei Jahre nach der Gründung) eine erste Bilanz der Projekte:
Infobroschüre “Recherche fordern und fördern” des Netzwerk Recherche (29 S., 647 KB) [PDF]
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Gemeinsame Presseerklärung der Organisationen Netzwerk Recherche, Transparency International und Humanistische Union, 27. Mai 2003
Aktionsbündnis macht sich für mehr Behördentransparenz stark
Die Einführung eines allgemeinen Akteneinsichtsrechts in Deutschland ist überfällig, nachdem es über zwei Legislaturperioden hinweg verschleppt wurde. Deshalb haben mehrere Organisationen beschlossen, sich künftig gemeinsam für diese Reform stark zu machen. Der Journalistenverband „Netzwerk Recherche“, die Bürgerrechtsorganisation „Humanistische Union“, und „Transparency International“, die Koalition gegen Korruption, wollen sich nachdrücklich dafür einsetzen, dass das im Koalitionsvertrag angekündigte Informationsfreiheitsgesetz auf jeden Fall in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird. Am Ende der vorigen Legislaturperiode war ein Entwurf des Innenministeriums am Widerstand der Ministerialbürokratie gescheitert. Weiterlesen
24. Mai 2003 beim Jahrestreffen des Netzwerk Recherche im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg
Leinemann: Herr Bundeskanzler, lassen Sie uns gleich anfangen, Sie heißen allgemein der Medienkanzler. Was sagt Ihnen dieser Begriff und was glauben Sie, was die, die Sie so nennen, damit verbinden?
Schröder: Also zunächst ist das so, ich habe den Begriff nicht geprägt, aber er wird ja benutzt als eine abträgliche Bezeichnung, ein bisschen seltsam für Journalisten, denn was er eigentlich ausdrückt, ist eine gewisse Offenheit gegenüber denen, die beobachten und das Beobachtete zu beschreiben haben oder zu senden, darüber sollten Sie eigentlich nicht enttäuscht sein, sondern eher im Gegenteil. Aber ganz offenkundig gebären solche Begriffe so ganz eigene Eigentümlichkeiten. Und das ist ja so, ich habe einfach versucht, auch als ich in dieses Amt gewählt worden bin, mein Informationsverhalten nicht zu verändern. Und die Tatsache, dass da Medienkanzler gesagt worden ist, mit so einem leicht abträglichen Nebengeschmack, hat mich immer wirklich überrascht, muss ich sagen. Was dann dazu geführt hat, ich weiß nicht, was die einzelnen damit verbunden haben, aber jedenfalls nicht nur den Respekt vor einer Offenheit, was Informationen angeht, sondern auch das Gegenteil dessen. Und die Konsequenz dessen ist, dass man darüber nachdenkt, ob man sich richtig verhält und vielleicht verschlossener wird, das kann schon sein.
Jürgs: Hat sich das geändert in den letzten fünf Jahren? Hat sich geändert, dass die Nähe zur Medienmacht zur Distanz geworden ist in letzter Zeit?
Schröder: Ich glaube das Verhalten der Öffentlichkeit gegenüber – und Öffentlichkeit wird ja hergestellt nicht nur durch den politischen Prozess – nicht nur durch Entscheidungen derer, die unmittelbar am politischen Prozess beteiligt sind, sondern Öffentlichkeit wird ja nicht zuletzt durch Sie hergestellt. Klar ändert sich das. Und zwar kann man sehr viel unbefangener mit Öffentlichkeit umgehen, wenn man beispielsweise Vorsitzender der Jungsozialisten in Deutschland ist oder einer Arbeitsgemeinschaft der SPD angehört oder auch „einfacher Bundestagsabgeordneter“, weil die Wirkungen dessen, was man sagt, begrenzter sind als die Wirkungen dessen, was ich so sage. Das hat weniger mit der Person als mit dem Amt zu tun und insofern verändert sich das Informationsverhalten und natürlich auch die Beziehungen zum Journalismus insgesamt, aber auch zu Journalisten als einzelne, je nachdem welche Wirkung eine mitgeteilte Information hat oder nicht. Das versucht man natürlich abzuschätzen, fällt häufiger dabei rein, aber aus diesem Reinfallen lernt man eine Menge, kann ich Ihnen sagen.
Jürgs: Von wem könnte dann der Satz sein: „Es ist mir egal, wer unter mir Bundeskanzler ist?“ Welcher Medienmächtige könnte diesen Satz gesagt haben? Was glauben Sie wohl? Stefan Aust, Kai Dieckmann?
Schröder: Ich will hier niemanden in Schwierigkeiten bringen, aber ich würde sagen, diejenigen, die das behaupten, die überschätzen die Wirkung ihres Berufes und meistens auch sich selbst und soweit würde ich jedenfalls nicht gehen, das ist mir egal, wer unter mir Chefredakteur ist.
Leinemann: Sie haben gesagt, das Amt hat den Begriff verändert oder die Bedeutung dieses Begriffes und den Stellenwert. Was ist eigentlich anders geworden in Bonn als es in Hannover war? Sie hatten ja auch ein öffentliches Amt und das, was Sie Informationspolitik und Umgang mit Journalisten nennen, das haben Sie ja alles schon vorgedruckt.
Schröder: Also sagen wir mal, was sich geändert hat, ist zunächst einmal die eigene Sichtweise. Damals hatte ich noch jemanden, den ich kritisieren konnte, heute ist das fast überhaupt nicht mehr so.
Leinemann: Sie haben doch ihre Partei! (Gelächter)
Schröder: Da haben Sie ja ganz Recht (wieder Gelächter), nur die Frage ist ja, in welcher Funktion? Aber jetzt mal ganz im Ernst. Es ist natürlich anders, wenn man als jemand, der sicher als Ministerpräsident auch gehört wird, auch ein Stück politische Verantwortung mit hat, wenn da immer noch eine Instanz ist oder eine Institution, die man gelegentlich auch mal kritisieren kann, und sagen, das haben die aber vielleicht doch etwas besser hätten machen können. In dem Stil habe ich das ja getan, wie man weiß, also immer positiv (Gelächter).
Leinemann: Das ist rübergekommen.
Schröder: Aber das ist wirklich ein Unterschied, und jetzt sind Sie fast ausschließlich Kritik ausgesetzt. Das ist eine andere Befindlichkeit, in der man dann ist. Und was hat sich geändert? Das hat sich geändert. Aber es hat sich noch mehr geändert, weil, sagen wir mal, die politischen Fragen, mit denen man konfrontiert ist und über die oder die dann, also wenn sie in Entscheidungen umgesetzt werden, kritisiert werden, die sind natürlich vielfältiger in Bonn bzw. in Berlin. Und dann ist da etwas, das wissen sie besser als ich, ich glaube, dass sich in den Medien eine ganze Menge verändert hat. Das ist alles sehr viel wettbewerbsorientierter geworden und deswegen vermutlich auch schnelllebiger, mehr orientiert auf kurze Quotes, die, zu geben sind und weniger auf ein Gespräch, das aufklärt über Hintergründe des eigenen Denkens und man wird jeden Tag konfrontiert mit Fragen, wie eben auch „Was sagen Sie zu dem, was sagen Sie zu jenem?“
Jürgs: Dahin kommen wir noch!
Schröder: Das ist wirklich ein Unterschied verglichen zu früher. Die klarsten Vertreter dieser neuen Art, in den Medien zu arbeiten, sind diejenigen, die morgens kommen, wenn man irgendwo hingeht, es ist auch am einfachsten und die halten einem das Mikrofon vor die Nase und sagen: „Herr Bundeskanzler und ….?“. Dann können Sie gleichermaßen zu wichtigen Fragen der Außenpolitik wie zu der Tatsache antworten, dass Hannover 96 natürlich nicht abgestiegen ist, alles ist möglich.
Leinemann: Ist das eigentlich in Berlin anders geworden oder schlimmer geworden oder war das etwas, was Sie in Bonn auch schon erlebt hatten?
Schröder: In Berlin ist das, glaube ich, auf die Spitze getrieben worden bzw. hat sich so entwickelt. Es ist einfach viel viel schneller. In Berlin ist das deshalb noch ein bisschen anders, weil in Bonn war man so eng aufeinander geworfen, sozusagen, wo immer man hinging, in welches Restaurant, in welche Kneipe auch immer, irgendwann stieß man auf Journalisten und umgekehrt und ich glaube, in Berlin verläuft sich das natürlich mehr, obwohl es auch da Orte gibt, wo man immer sicher sein kann, dass man was abgenommen kriegt. Ich natürlich nicht mehr, weil ich ja diese Orte inzwischen meiden muss. Früher bin ich da auch hingegangen, das gebe ich zu.
Jürgs: Wo ist eigentlich inzwischen die Grenze, wann attackieren Sie, wann schweigen Sie einfach, wann sagen Sie, ach lasst sie kritisieren, ich kenn die auch lang genug und weiß woher das kommt und wann schlagen Sie dann zurück? Oder hat man dazu inzwischen eine zu dicke Haut gekriegt?
Schröder: Dicke Haut ist falsch. Aber ich glaube niemand, dass würde ich auch von den Kollegen behaupten, aber ich soll ja über mich reden. Ich habe keine dicke Haut in dem Sinne, dass ich mich über schlechte Berichterstattung, nach meiner Meinung schlechte Berichterstattung, nicht ärgerte. Und wenn sie besonders verletzend ist, dann tut das auch noch weh, so ist das ja nicht, man soll ja nicht glauben, dass Politiker und Politikerinnen so Leute wären, die, wenn es gelegentlich weit in die Bewertung intellektueller Qualitäten geht, dass nicht auch für ungerecht hielten auch für schmerzlich ansehen. Dann kuckt man, und dann werd’ ich mal wieder als nicht ganz zureichend qualifiziert bezeichnet und überlegt dann, wenn man festgestellt hat, wer es war, ob man es so ganz ernst nimmt. Aber es ist immer, dass muss man sagen, immer noch ein Stück Empfindsamkeit da, auch gegenüber einer als ungerechtfertigt begriffenen Kritik und erst Recht, wenn sie weit ins Persönliche geht und vor Fragen dann, die die Familie betreffen, auch keinen Halt macht. Das ist dann besonders misslich. Ansonsten will ich nicht sagen dickes Fell, aber diese Schnelllebigkeit, von der ich geredet habe, hat natürlich eine Kehrseite, dass man das, was an einem Tag oder in wenigen Stunden gesendet, gesagt wird, auch nicht mehr als Ehernes und für die Ewigkeit gleichsam in Stein Gemeißeltes Gesetz nimmt. Und dann sagt man ja morgen kommen die ja schon mal wieder auf was anderes.
Leinemann: Also das finde ich jetzt schon interessant, denn da bekomme ich so ein neues Mediengefühl, als wenn wir immer hinter Ihnen her sind und Sie treiben, während Sie so das Opfer sind, das sich dem ausgeliefert fühlt.
Schröder: Nein, das wäre ja ganz falsch. Was ist ein politischer Prozess? Ein politischer Prozess definiert sich durch Entscheidungen, die ich zu treffen habe, die das Parlament zu treffen hat, die die Opposition zu treffen hat. Aber Teil des politischen Prozesses ist doch auch die Vermittlung dessen, und Vermittlung heißt ja nicht einfach, Leuten zu sagen, das ist ja alles prima was die machen, sondern intendiert Kritik ja auch. Insofern fühl ich mich nicht als Opfer, aber ich bin ja gefragt worden, ob die nicht geringe Kritik sozusagen abprallt oder nicht abprallt. Ich will einfach sagen, ohne dass ich mich als Opfer begriffe, prallt es nicht ab, das will ich nur deutlich machen. Aber das hat nichts mit Jammern zu tun. Ich habe immer nach dem Prinzip gearbeitet: „Wem es in der Küche zu heiß ist, der soll nicht Koch werden.“
Jürgs: Dann nehme ich ja gleich diesen Zusammenhang auf, denn in der letzten Woche stand in der Newsweek eine wunderbare kleine Meldung, … schreibt, den Sie ja auch ganz gut kennen, dass der Kanzler Schröder, so lange er Kanzler ist, auf diesem Stuhl im Weißen Haus nicht mehr erwünscht ist. Wie reagiert man auf solche Meldungen oder nimmt man die gar nicht zur Kenntnis?
Schröder: Die habe ich gar nicht gelesen. Jetzt haben Sie mir’s erzählt und wie soll ich darauf reagieren? Gar nicht. Weil, wenn ich da begänne, darauf zu reagieren, da wird jetzt ja viel geheimnist. Da werden Offizielle zitiert und alles so etwas, da habe ich mir wirklich zu Prinzip gemacht, gar nicht darauf zu reagieren.
Jürgs: Was lesen Sie eigentlich selbst, was wird Ihnen vorgelegt? Gibt es einen Pressespiegel oder lesen Sie selbst ganz bewusst?
Schröder: Ich lese einen Packen Zeitungen jeden Morgen. Ich sollte jetzt nicht die einzelnen Titel nennen, weil diejenigen, die nicht genannt sind, sich dann vielleicht beleidigt fühlen, aber das sind so 6 oder 8 Zeitungen. Und dann gibt es natürlich jeden Morgen so eine Auswahl von Presseberichterstattungen gedruckter Medien. Was gesendet wird, wird sicher auch mitgeschrieben, aber das ist so wenig direkt dann, dass, wenn man es ließt, man sich überhaupt fragt, warum es gesendet worden ist (Gelächter). Das ist wirklich ein Unterschied. Wenn Sie ein Hörfunkinterview oder ein Fernsehstatement nachlesen, ist das völlig anders, als wenn Sie es selber hören oder gar selber sprechen. Insofern, das wollte ich damit sagen, lese ich nicht Interviews, es sei denn, da ist ein Bolzen drin, den ich zur Kenntnis nehmen muss, den krieg ich dann vorgelegt.
Leinemann: Ergibt sich die Reihenfolge ihrer Lektüre aus der Größe der Buchstaben?
Schröder: Nee, soll ich mal sagen, was oben liegt? Das ist Financial Times Deutschland (Gelächter). Jetzt gibt es schon eine Schlagzeile.
Jürgs: Davon lebt die eine Woche jetzt.
Schröder: Darum habe ich das ja gesagt.
Jürgs: Und die berühmte Zeitung, die Sie früher nannten, das ist wichtig, Bildung, BAMS und Glotze. Ist die BILD-Zeitung etwas, was Sie täglich ärgert, ist die BILD-Zeitung etwas …
Leinemann: Lassen Sie ihn ruhig konkret werden!
Jürgs: … was Sie montags besonders ärgert, wenn dort bestimmte Kolumnisten schreiben?
Schröder: Nein, das wäre ganz falsch. Ich lese das, ich überfliege das. Das muss man ja auch nicht lesen. Wenn man das überfliegt, dann weiß man ja, welche Tendenz das hat und mit einzelnen Formulierungen muss man sich ja nicht auseinandersetzen. Natürlich lese ich dieses Blatt, das ist doch gar keine Frage. Muss man lesen. Was heißt lesen? Zur Kenntnis nehmen. Und das gehört zu dem selbstverständlichen Packen, den man sich da jeden Morgen auflädt.
Jürgs: Kann eine Kampagne in BILD etwas ändern an Machtverhältnissen oder muss man das hinnehmen?
Schröder: Also jetzt, ich glaube, dass diese Art von Journalismus Einstellungen verstärken kann. Aber ich glaube, es ist ein Irrtum, wenn man dort glaubt, dass man welche schaffen könnte. Wann immer man das versucht, muss man ganz besonders auf die Auflagenkurven kucken.
Leinemann: Ist denn für Sie die Lektüre von Zeitungen oder das Gewicht von Pressemeldungen wichtiger als das Fernsehen oder kann man das überhaupt nicht vergleichen?
Schröder: Das kann man nicht sagen. Also zunächst einmal ist ja klar, das Fernsehen ist ein Medium, das gut ist und gefährlich in gleicher Weise. Gut deswegen, weil man sehr direkt und sehr als individuelle Person faktisch ins Wohnzimmer der Menschen kommt. Diese Chance haben Sie ja sonst überhaupt nicht und Sie sind im Fernsehen kaum zu manipulieren, wenn Sie sozusagen direkt interviewt werden. Weil die Direktheit, mit der Sie zu den Menschen kommen, ist ja kaum zu überbieten. Das ist ja bei gedruckten Medien anders, das ist ja viel vermittelter als im Fernsehen. Die Gefahr beim Fernsehen ist, dass Sie sich natürlich auch sehr viel schneller vergaloppieren können, Falsches sagen können. Sie werden im Fernsehen ja nicht nur nach dem, was Sie sagen, bewertet, sondern vielleicht sogar noch mehr, wie Sie’s sagen und wie das Erscheinungsbild ist, das Sie abgeben. Und das hat ein Problem im Fernsehen, das, glaube ich, ist so eine Leitlinie, wenn ich bei einer Politikerinnen- oder einer Politikerschule zu referieren hätte, wenn es so etwas gäbe, es gibt ja Journalistenschulen bei uns, bei uns gibt es ja so was nicht.
Leinemann: Das merkt man übrigens. (Gelächter)
Schröder: Die unterschiedliche Qualität von Journalistenschulen auch, Herr Leinemann. Ins Fernsehen können Sie eigentlich nur gehen, wenn Sie einer Sache völlig sicher sind. Wenn Sie nicht so ganz sicher wissen, was Sie da eigentlich rüberbringen wollen, empfiehlt es sich, das nicht zu tun, weil, das ist das direkteste und deswegen in diesem Sinne unbestechlichste Medium, das es gibt. Sie können nichts zurückholen, jedenfalls nicht in Live-Sendungen und wenn sie kommen und sagen: „Lassen Sie uns die Aufzeichnungen noch mal machen“, wirkt das auch komisch. Das ist sicher der schwierigste Weg.
Jürgs: Wenn Sie nun dieses Spiel durchschaut haben, Journalismus und Politik und Symbiose, und mehr und mehr dazu gelernt haben, dann benutzt man es ja auch. Also ich erinnere mich an einen „Spiegel“-Titel „Blauhelme“, das kam im richtigen Moment zur richtigen Zeit.
Schröder: Das ist unterschiedlich wahrgenommen worden.
Jürgs: Ich nehme mal an, ich würde es so wahrnehmen, dass man den „Spiegel“ benutzt hat, um am Montag eine Geschichte zu haben, die man sonst nicht gehabt hätte, um von anderen Dingen abzulenken. Das müssen Sie jetzt weder dementieren noch bestätigen, aber ich wollte nur hinaus darauf, das Spiel ist ein wechselseitiges Spiel.
Schröder: Ich will jetzt nicht über den konkreten Fall reden, der hat viele Facetten. Wirklich wahr. (Gelächter)
Leinemann: Glaube ich auch. (Gelächter)
Schröder: Aber gut. Dahinter steht ja die Frage, versucht man als politischer Mensch, als jemand der ein Amt hat, die Medien zu instrumentalisieren, für was auch immer? Das will ich nicht ausschließen, dass das geschieht, nur das geht nicht lange gut. Darüber muss man sich im Klaren sein.
Jürgs: Das geht nicht immer gut.
Schröder: Ja, es geht nicht immer gut und es geht nicht lange gut, wenn man es macht. So etwas spricht sich rum. Man kann ein Ergebnis erzielen wollen, das ist, glaube ich, auch zulässig mit einer bestimmten Information. Aber die Information muss richtig sein. Manipulation ist weniger, eine Berichterstattung hervorzurufen mit einer richtigen Information. Das ist ja eher Pflicht von Ihnen, wenn Sie sie kriegen umso besser. Ich halte es für erlaubt, mit einer Information die richtig ist, so umzugehen, dass man sie zur richtigen Zeit gibt, und zwar zu der Zeit, wie es einem selber vernünftig erscheint. Aber den Versuch zu machen, eine Berichterstattung mit einer falschen Information zu erzielen, das macht man einmal, glaube ich, oder auch zweimal, aber dann ist Schluss, weil das spricht sich rum, bei Ihnen, bei Ihren Kollegen. Zu Recht im Übrigen und das beendet dann das, was Sie Spiel nennen, was ich nicht als Spiel begreife. Da gibt es auf beiden Seiten eine gewisse Verantwortung für das, was wir demokratischen politischen Prozess nennen, und den muss ich genau so im Auge haben wie Sie übrigens auch.
Leinemann: Spiel ist doch nur so ein Begriff, um einen geregelten Ablauf zu beschreiben. Wie würden Sie denn die Beziehung zwischen Politikern und Journalisten bezeichnen?
Schröder: Es gibt ja weder den Journalisten noch den Politiker. Insofern glaube ich, gibt es keine allgemeinen Grundsätze. Aber ich habe Zweifel. Ich glaube, das Tempo, das heute so extrem zugenommen hat, legt nahe, dass man mehr an Informationen zu verarbeiten hat und mehr mitbekommt. Aber es hat auch zu allen Zeiten, glaube ich, sehr enge Beziehungen zwischen handelnden Politikern und einzelnen Journalisten gegeben. Und wenn mal die Geschichte, in Teilen ist ja geschrieben, des Entstehens der Ostverträge sozusagen unter diesem Aspekt berichtet würde, dann würde man sicher, und zwar speziell unter diesem Aspekt, dann würde man sicher feststellen, dass ein Teil der seinerzeit so klaren und auch so historisch notwendigen Unterstützung von Spiegel und Stern beispielsweise, auch was mit Nähe der handelnden Personen zu tun gehabt hat, ich glaube das kann man nicht ernsthaft bestreiten, wenn man sich mal überlegt, wie diese gesellschaftliche Unterstützung, die so notwendig und richtig war, zustande gekommen ist. Also das gibt es glaube ich immer wieder, und ich würde mein Verhältnis zu Journalismus als ein Arbeitsverhältnis beschreiben, bei dem jede Seite weiß, dass man aufeinander angewiesen ist. Gleichwohl entwickeln sich in einem langen politischen Leben zwischen Politikern und Journalisten auch Freundschaften, das ist doch ganz klar. Man soll doch jetzt nicht so tun, als sei das Amt unabhängig zu sehen vom Menschen, und zwar auf beiden Seiten. Es kann so etwas sich entwickeln, und dann soll man das auch zulassen. Nur muss man dann eine Konsequenz daraus ziehen. Also wenn man über einen gewissen Zeitraum enger miteinander ist, als es dieses Arbeitsverhältnis ausdrücken kann und soll, dann kann man immer noch Informationen verwerten. Man muss besonders sensibel sein, wenn man sie aus Freundschaft und wegen der Freundschaft erlangt. Es muss klare Verhältnisse zwischen denen geben, um die es da geht, aber man sollte nicht mehr schreiben müssen oder senden müssen, oder Porträts machen müssen über denjenigen, dem man besonders freundschaftlich verbunden ist. Das geht schief, und zwar immer zu Lasten des Politikers. Weil derjenige, der das als Freund schreibt, natürlich besonders kritisch schreibt, weil er sich von den Kollegen ja nicht dem Verdacht aussetzen will, er sei sozusagen vereinnahmt. Und deswegen geht es immer schief, wenn Leute, die man seit langem kennt, denen man freundschaftlich verbunden ist, womöglich noch psychologisierend über einen schreiben.
Leinemann: Ich denke, wir sollten dieses ein bisschen konkretisieren. (Gelächter)
Leinemann: Wir kennen uns jetzt 25 Jahre und in den Anfangszeiten sind wir uns in der Tat ziemlich nahe gewesen, die Folge ist davon genau, das haben Sie so erkannt wie ich das auch erkannt habe, dass ich 10 Jahre über Sie überhaupt nicht geschrieben habe.
Jürgs: Das heißt aber, wenn ich das aufnehmen darf, als einer, der ein bisschen weiter außen steht und Sie nicht so lange kennt (Gelächter), dass man von zwei Seiten angegriffen werden könnte: a) die, die gegen Sie politisch sind in der Presse und b) die anderen, die zeigen müssen, dass Sie ganz kritisch sind.
Schröder: Ja, das erlebe ich ja gerade.
Jürgs: Aber jetzt ernsthaft zurück. Kampagnenjournalismus hieß ja auch früher die Kampagne gegen die Ostpolitik, die ja von der BILD-Zeitung gefahren wurde, und die Kampagne, die heute gefahren wird, von anderen Blättern. Wo ist eigentlich nach Ihrer Wahrnehmung der Unterschied? Wird die SPD in Kampagnen genau so behandelt wie die Konservativen, oder gibt es da gewisse Tabus, die man bei der SPD eher verletzt als bei den Konservativen. Was fiel Ihnen da so auf in letzter Zeit?
Schröder: Also wenn ich mir das so anschaue, dann gibt es Unterschiede. Die haben sicher auch was mit einer Grundausrichtung der jeweiligen Medien zu tun. Die sind sehr deutlich und ich glaube, dass die SPD in alldem, was sie tut – auch die Grünen im Übrigen – kritischer beobachtet werden als konservative Parteien und Politiker, das könnte ich an vielen Beispielen der jüngsten Vergangenheit festmachen. Also ich glaube zum Beispiel, dass die Berichterstattung über bestimmtes persönliches Verhalten im einen wie im anderen Fall anders ist. Wenn Sie mal sehen, beispielsweise über die Frage, was ist da eigentlich gewesen, beim Untergang und bei dem, was sich mit dem Kirchmedium verbindet. Ich denke mir mal, wenn die Zahlungen, die offenbar, ich muss ja zurückhaltend sein, an Sozialdemokraten geleistet worden wären, die an konservative Politiker geleistet worden sind, hätte das eine andere Rolle gespielt in den Blättern, über die wir hier geredet haben. Ich bin da ganz sicher, dass das so gewesen wäre, aber das bringt ja nichts, wir müssen ja mit dem Umfeld umgehen, das es gibt und nicht das, das Sie sich wünschen, und in insofern habe ich nicht zu denen gehört, die sozusagen gegreint haben deswegen. Ich weiß das und ich stell mich darauf ein. Aber es ist nicht so, dass man sagen könnte, dass es eine Gleichbehandlung gäbe, das, glaube ich, wäre wirklich beschönend, wenn man das so sehen würde.
Jürgs: Ist es auch ein Reiz zu sagen, jetzt erst recht, auch wenn sozusagen „Viel Feind viel Ehr“, nun kämpfe ich erst richtig.
Schröder: Man hätte ja manchmal lieber weniger Feind und dann, wenn das ein Zusammenhang ist, der kausal ist, dann auch meinetwegen weniger Ehr. Es ist schon so, dass die, die glauben, mit einer bestimmten Qualität von Berichterstattung, die bis weit ins persönliche hineingeht, könnten sie sozusagen destabilisierende Wirkungen erzielen bei der Person, gar bei mir, die irren gründlich, das ist nicht zu machen. Das hat man natürlich auch gelernt in langen Jahren politischer Arbeit, so eine gewisse innere Stabilität gegenüber Angriffen, zumal auch dann, wenn man sie als nicht gerechtfertigt empfindet. Die braucht man schon, die muss vorhanden sein. Wenn die nicht vorhanden ist, sollte man sich besser nicht um Ämter in dieser Qualität mit dem, was dranhängt an Beobachtung und auch an Kritik bewerben.
Leinemann: Hat eigentlich die Tatsache, dass Sie mit einer ehemaligen Kollegin von uns verheiratet sind, Ihr Bild vom Journalismus und Journalisten verändert?
Jürgs: Oder nur von einer?
Schröder: Also das ist, nee, das hat mein Bild nicht verändert, glaub ich. Aber natürlich ist es hilfreich, wenn jemand, der 16 Jahre in ihrem Beruf gearbeitet hat, in unterschiedlichsten Bereichen der Kommunalpolitik, einer Regionalzeitung ebenso wie in Boulevard und Magazinjournalismus, wie Sie wissen. Darüber redet man, das ist doch klar. Und das erschließt einem auch neue Erkenntnisse und Möglichkeiten, das ist doch gar keine Frage.
Jürgs: Ist es denn so, dass die Politiker manchmal nicht selbst dran Schuld sind, wenn sie sich als Popstars gerieren in Wahlkämpfen und sich dann wundern, dass plötzlich alles, was sie selbst machen …
Schröder: Das stimmt. Wer zulässt – und ich bin auch nicht frei davon gewesen, muss man auch sagen, daraus habe ich gelernt – wer zulässt, dass es Homestories gibt, wer zulässt, dass Privatleben sozusagen feilgeboten wird zur Berichterstattung, der darf sich nicht beschweren, wenn das genutzt wird, das ist wahr. Aber wer genau hinschaut, der wird finden, dass es das bei uns nicht gibt, zu uns kommt niemand ins Haus, nicht weil keiner will, sondern weil wir keinen reinlassen. Und da ist wieder so ein Punkt. Diejenigen, die Journalisten sind und als Gäste eingeladen werden, die sind da als Freunde und nicht als Journalisten und halten sich auch daran. Da bin ich auch noch nie enttäuscht worden. Der Punkt ist richtig, aber genau umgekehrt muss gelten, wenn man das nicht tut, erwirbt man auch ein bestimmtes Recht, geschützt zu bleiben in dem Bereich. Ich würde sogar weiter gehen, was die Rechte der Presse angeht. Wer öffentliche Ämter ab einer gewissen Stufe bekleidet, der muss damit rechnen, dass nicht nur das, was er in seinem Berufstag tut, beobachtet wird, sondern natürlich auch sein Umfeld, das muss er akzeptieren. Aber je mehr die Berichterstattung weggeht von den beruflichen Dingen, also von den politischen Entscheidungen, desto sorgfältiger muss sie sein. Und ein Recht, Lügen zu verbreiten, das kann niemand für sich in Anspruch nehmen. Ich hoffe, dass das auch hier so gesehen wird, denn dann muss man sich mal fragen, was mit einem selber passiert, wenn solche erfundenen Geschichten, die das Persönliche betreffen und die ja dann nicht immer die eine Figur betreffen, sondern das ganze Umfeld, das sich überhaupt nicht wehren kann, das familiäre Umfeld, ich glaube, das ist die Grenze, die muss eingehalten werden. Ist manchmal schwierig. Das hat auch ein bisschen was zu tun mit dem Beruf, mit dem was man Intus seines Berufes nennt, was heute gelegentlich weniger ernst genommen wird. Das sind meine Beobachtungen, also in der Vergangenheit, aber vielleicht kriegt man ja wieder was …
Leinemann: Können Sie was mit dem Begriff „Herdenjournalismus“ anfangen?
Schröder: Ja gut, das hat ja nun ein Journalist geschrieben oder ein Herausgeber, wenn ich das richtig sehe. Ich nehme an, dass er sich da auf Erfahrungen stützt. Aber sagen wir mal so. Dass bestimmte Trends gesetzt werden, die man dann nachvollzieht, denen man dann die eine oder andere Arabeske hinzufügt, ich glaube das ist eine Beobachtung, die man nicht völlig von der Hand weisen kann. Ob man das mit dem Begriff belegen sollte, das würde ich auch erst tun, wenn ich das Amt hinter mir hätte. (Gelächter)
Jürgs: Wie gezielt setzen Sie denn Trends? Gibt es da richtige Strategien, dass man sagt, dieses wollen wir jetzt rüberbringen?
Schröder: Es gibt die mehr oder minder geglückten Versuche einer politischen Entscheidung, zumal wenn sie wichtig ist, einen Kommunikationsprozess vorausgehen zu lassen und natürlich die Entscheidung, selber geeignet zu kommunizieren. Also nehmen Sie mal so eine Rede wie am 14.3. mit der Agenda 2010. Da kam es darauf an, deutlich zu machen, von diesem Zeitpunkt an ändert sich was. Dann gibt es aber immer eine Gefahr. Wenn sich der Zeitpunkt zu sehr ins Auge fassen lässt und dabei auch noch hilfreich ist, wird man leicht überfordert mit dem
Leinemann: Sie produzieren Enttäuschung.
Schröder: Ja, produzieren Enttäuschung, aber ich bin ja nicht Herrscher der Kommunikation allein. Ich kann Anlass setzen und dann geht das ganze ja los, ohne das ich das noch in der Hand hätte. Aber das ist ja dann Ihre Geschichte, das ist die eine Gefahr und die andere Gefahr ist natürlich, dass etwas, was Sie tun und nicht tun wollen, nicht hinreichend wahrgenommen wird. Einmal Sie produzieren Überforderung mit einer Kommunikationsstrategie, wenn die ernst genommen wird und richtig dann noch weiter getrieben wird und das ist ja Sache von Journalisten. Und die andere Gefahr ist, es verpufft. Weil Sie eine solche Kommunikationsstrategie nicht hatten und im nachhinein, etwas, was nicht richtig zur Kenntnis genommen worden ist, zur Kenntnis zu bringen. Das ist ein sehr schwieriges Stück von Kommunikation, glaube ich überhaupt, was es gibt, gelingt fast nie, es sei denn, Sie kriegen es hin, eine solche Entscheidung zum zweiten Mal zu dramatisieren, über irgendwelche Personalquerelen, die damit verbunden wären, über bestimmte andere Ereignisse, auf die man kommen könnte, aber das ist das schwierigste. Was vergessen ist, wieder vorzuholen, ist, glaube ich, der schwierigste Teil einer Kommunikationsstrategie. Leichter ist es, zu einem Punkt Aufmerksamkeit zu lenken, an dem Sie das wollen.
Leinemann: Sie haben gesagt, es muss eine Situation wirklich für alle ganz katastrophal sein, bevor sich in diesem Lande etwas ändern lässt, so sinngemäß.
Schröder: Ja, sehr sinngemäß.
Leinemann: Also ich habe das so verstanden.
Schröder: Darf ich mal sagen, Herr Leinemann, genau das ist auch einer der Geschichten, über die man mal reden muss (Gelächter). Also da gibt es ein Zitat, das so, wie er es jetzt gesagt hat, nie gefallen ist. Wenn ich das unwidersprochen ließe, dann wäre es eins.
Leinemann: Ich habe das aber nicht als Zitat gesagt.
Schröder: Verstehen Sie, was ich damit ausdrücken will, ist Folgendes. Man sagt, was den Reformprozess in Deutschland angeht und das halte ich für richtig, wir sind unbeweglicher als wir sein dürften, weil wir ein reiches Land und nicht ein armes Land sind. Wir sind, und das hat damit zu tun, dass die Menschen in einem reichen Land – natürlich abgestufte Formen von Möglichkeiten wirtschaftlicher Art da sind und das soll ja auch so bleiben -, dass dort viel mehr als in anderen Ländern etwas zu verlieren haben. Und also jeder meint, das halte ich jetzt fest, was wir vielleicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte machen, Wohlstand dieser Art gibt, will jeder das, was erreicht worden ist, festhalten, muss man verstehen, muss nur das argumentieren, muss es nur behalten können, wenn du dich der Veränderung, die notwendig ist, nicht entgegenstellst. Das ist aber ein anderes Thema, bezogen ist hier drauf, ich hab das immer so gesagt, wie hier, so wie Sie’s jetzt wiedergegeben haben, sehr verkürzt, ich halte das für zulässig, habe ich sozusagen gesagt, es muss erst eine Katastrophe kommen, bevor wir Politik machen können. Das ist aber gar nicht meine Auffassung, übrigens erst recht nicht meine Aufgabe.
Leinemann: Das war Strauß. Das war Franz Josef Strauß, der hat das so gemacht.
Jürgs: Aber es heißt doch, dass in solchen Momenten eine Presse hilfreich wäre die sagt, ja es ist Zeit für eine Reform.
Schröder: Nein, nein, das geschieht ja auch. Und sagen wir mal, das, was dort an teilweise auch zu weitgehender Unterstützung sehr abstrakt häufig ausgedrückt worden ist und deswegen für die konkreten politischen Entscheidungen nicht immer hilfreich ist, ist aber generell nicht zu beklagen, weil eingefordert worden ist, von den Journalisten, also von einer der geliebten dieser Gesellschaft in Übereinstimmung
Jürgs: Das gilt aber auch für Politiker.
Schröder: Das gilt auch für Politiker, in der Tat. Und wenn dann so ein Veränderungsprozess eingefordert wird, ist dagegen nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil, das kann man als kommunikative Unterstützung begreifen, wenn man es hinbekommt, das, was sozusagen dort so radikal ohne konkret zu sagen, wo und wer denn betroffen worden ist, eingefordert wird, wenn man es schafft, sozusagen, die konkreten Einscheidungen, die nötig und möglich und unter den Machtstrukturen dieser Republik durchsetzbar sind, in etwa in einem Kontext zu halten, mit dem, was abstrakt an Veränderung eingefordert wird, das ist ja dann die Kunst, die wir zu leisten haben. Das man das, was es an Stimmung für einen Veränderungsprozess gibt, auffängt in den konkreten Entscheidungen, hier in Agenda 2010, ohne dass der Veränderungswille, der abstrakt sichtbar geworden ist, Enttäuschung findet, in den konkreten Umsetzungen die man macht. Denn dann kriegt man wieder das Problem, dass man eine allgemeine Unterstützung hat, aber an konkreten Dingen rumgenörgelt wird.
Jürgs: Dazu wäre es natürlich sinnvoll, wenn man jeden Tag eine Regel abschafft und die der BILD-Zeitung exklusiv gibt, dass man immer dieses Echo hat.
Schröder: Irgendwie, Herr Jürgs, müssen Sie ein gebrochenes Verhältnis zur BILD-Zeitung haben.
Jürgs: Wir hatten, Herr Schröder, um wieder ganz ernsthaft zu werden, davon gesprochen, dass natürlich früher es andere Tabu-Grenzen gab, dass manches einfach nicht berichtet worden ist, und zwar diese Symbiose von Journalisten und Politik, die sich gemeinsam an gewisse Grenzen hielt, die nicht überschritten worden sind. Wann hat sich das eigentlich geändert nach Ihrer Wahl?
Schröder: Ich glaube, das hat sich in Deutschland langsam geändert. Ich erinnere an Berichterstattung, die ins Persönliche ging, die mich nicht betroffen hat, die ich aber amüsiert zur Kenntnis genommen habe seinerzeit. Da gab es die einen, die schon länger, meistens Boulevard-Presse – es ist auch schwieriger für die, was zu verschweigen, weil sie sehr stark von solchen Ereignissen natürlich auch leben, auch wirtschaftlich leben – da gab es die, die das berichteten und dann gab es die anderen, die schrieben Artikel, „was wir nie wieder lesen wollen“. Und dann wurde die ganze Chose in dem Artikel berichtet, das war nur eine andere Überschrift, und das hat sich inzwischen bedauerlicherweise angeglichen, aber nicht in Richtung, was wir nie wieder lesen wollen, sondern in die andere Richtung. Das muss zu tun haben – aber das können Sie besser beurteilen als ich – mit der doch härter gewordenen Konkurrenz. Was mir jedenfalls riesige Sorgen macht, ist die wirtschaftliche Situation von Zeitungen, und zwar allen Zeitungen, unabhängig davon, ob mir die Leitartikel passen oder nicht. Ich denke, man wird in der nächsten Zeit, wir haben ja in Deutschland eine Zeitungslandschaft, die so vielfältig ist, wie es sie in keinem europäischen und auch in keinem außereuropäischen Land gibt. Ich halte das für ein Stück Kultur in Deutschland, wir werden drüber reden müssen, wie kriegen wir hin, dass angesichts des Entzugs von Einnahmemöglichkeiten, etwa in der Werbung, die strukturellen Veränderungen von Anzeigen in Zeitungen und der Weg zum Internet sind sichtbar und werden wahrscheinlich vollständig auch nie wieder sich ändern und wir müssen uns einfach darüber unterhalten, welche politischen Rahmenbedingungen müssen gesetzt werden, um das Überleben einer möglichst vielfältigen Zeitungslandschaft, auch wirtschaftliches Überleben – daran müssen auch Journalisten Interesse haben – zu ermöglichen. Ich hoffe, dass wir eine solche Diskussion, mit denen, die nicht nur Zeitung machen, also mit Ihnen, sondern auch mit denen, die sie verlegen, in Gang setzen. Wir sind jedenfalls dazu bereit. Wenn man sich mal die Schwierigkeiten in den Zeitungen unterschiedlichster Couleur anschaut, dann ist das ein strukturelles Problem. Es mag bei dem einen oder anderen Fall auch Missmanagement dazukommen, das kann man nicht bestreiten, soll man auch nicht, aber ich glaube die strukturellen Probleme überwiegen und da müssen wir dann ran, ohne dass wir Subventionstöpfe aufmachen könnten und wollten. Dass wollen ja auch diejenigen, die unabhängig bleiben, sicher nicht. Aber ich glaube, wir haben in Deutschland einen Nachholbedarf, was die Klärung dieser Frage angeht und ich hoffe, dass wir möglichst bald, mit denen, die da verantwortlich sind, ins Gespräch kommen. Und so ein Gespräch sollte auch nicht zwischen Politik und Verlegern allein geführt werden, sondern es sollten die Journalisten genauso beteiligt sein. Ich habe jedenfalls ein großes Interesse daran, dass das möglichst schnell in Gang kommt. Ich will jetzt keine weitergehenden Ankündigungen machen, man wird auch überprüfen müssen, ob die spezifischen Rechtsvorschriften, die wir zum Schutze einzelner Titel gemacht haben, der gewandelten Wirklichkeit, was die wirtschaftlichen Fragen angeht, noch standhalten. Ich hab da meine Zweifel, aber wie gesagt, dass wäre zu klären im Rahmen einer solchen Diskussion, zu der wir einladen werden.
Leinemann: Haben wir jetzt so Undercover über die Situation in Berlin geredet?
Schröder: Nein, überhaupt nicht. Das wäre auch wirklich töricht, wenn ich darüber redete. Dass ist einer jener Fälle, wo es eine politische Richtlinienkompetenz nicht gibt und von daher ich auch aus guten Gründen nicht darüber reden muss und auch nicht darf. Denn Entscheidungen, die beantragt sind, sind Entscheidungen des Wirtschaftsministers als Behörde und nicht Entscheidungen etwa, die im Kabinett zu erörtern oder zu treffen wären oder wo ich eine Richtlinienkompetenz in Anspruch nehmen könnte. Täte ich das, würde ich den Anwälten auf allen Seiten wunderbare Munition liefern. Deswegen haben wir heute über alles geredet, nur darüber nicht.
Leinemann: Sehen Sie eigentlich eine ähnlich Besorgnis erregende Entwicklung auf dem Fernsehmarkt?
Schröder: Nein, dass kann ich nicht finden. Ich denke, dass wir in Deutschland ganz gut dran sind mit der Tatsache, dass wir zwei öffentlich-rechtliche Programme haben. Ich überschaue nicht die betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten dort, ich will jetzt keine Gebührendebatten führen oder so, dafür bin ich auch völlig ungeeignet, weil ich überhaupt nicht zuständig für den ganzen Bereich bin, aber ich finde die Situation ist ganz glücklich. Und dann gibt’s zwei private Programme, die sind zufrieden. Dem einen geht’s ja wirklich gut, wenn ich die Zahlen zur Kenntnis nehme. Also RTL, denen geht’s ja glänzend. Das zeigt, dass neben dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen in zwei Programmen Privates über Werbung finanziert möglich und erfolgreich sein kann und meine Hoffnung ist, dass die andere sog. Senderfamilie unter den neuen Eignern ähnlich erfolgreich ist . Prinzipiell muss das möglich sein. Ich glaube auch nicht, dass diese Art von Wettbewerb dem öffentlich-rechtlichen Bereich schadet. Im Gegenteil.
Jürgs: Gehen wir mal zurück zu Macht und Medien. Was glauben Sie eigentlich, welche Macht Medienmächtige haben. Natürlich eine verlierende, weil Chefredakteure fliegen etwa so raus wie Bundesliga-Trainer oder verlieren ihr Amt wie Politiker. Welche Macht haben die? Wo ist die Macht für Sie so spürbar, dass Sie praktisch sagen, bei allem was ich glaube, machen zu müssen, ich glaube, ich muss das und das ändern, weil die sind zu starr. Gibt es da konkrete Beispiele?
Schröder: Also das mag es geben, dass, wenn man bestimmte Widerstände, die aufgebaut werden, sich so anschaut, dass man unterbewusst darauf reagiert. Aber ich würde keinem raten, eine Entscheidung zu korrigieren, die er innerlich für richtig hält zu korrigieren, nur weil sie uno sono oder in Berlin auf ein schlechtes Echo trifft. Wenn das angefangen wird, dass man sagt, also da macht einer eine Mut- oder Wutkampagne, was auch immer gerade da ist, und man sagt, oh, dass kann aber schief gehen und da streich ich die Segel, das macht keinen Sinn, es sei denn, man kommt durch einen öffentlichen Diskurs zu der Auffassung, die Entscheidung, die man getroffen hat, ist deswegen zu korrigieren, weil sie falsch ist, also das muss möglich sein. Aber dann ist es nicht ein Ergebnis einer Kampagne, sondern Ergebnis eines Prozesses des Nachdenkens in einem öffentlichen Diskurs und das hat dann was mit diesem Begriff zu tun, der so ein bisschen höhnisch wie zynisch benutzt wurde, den der Nachbesserung. Ich selber glaube ja, dass man noch sehen wird, dass Gesetze, die zu tun haben mir der Reaktion von Politik auf eine sich rasant verändernde ökonomische Basis unserer Gesellschaft, dass solche Gesetze kürzere Lebensdauer haben und haben müssen, als das in der Vergangenheit der Fall war. Insofern glaube ich übrigens auch, dass dieser Prozess, dass Politik sehr viel mehr Prozesscharakter auch sichtbar haben wird in Zukunft als jemals zuvor. Denn wenn die Zyklen an der ökonomischen Basis einer Gesellschaft Produktzyklen, Entwicklungszyklen, sich sehr viel schneller verändern als je zuvor in unserer Geschichte und das eher zunehmen als abnehmen wird, dann besteht die Aufgabe, die politischen Subsysteme entlang dieser Veränderung jedenfalls zu überprüfen, permanent. Und dann kann es sein, muss nicht sein, aber dann kann es sein, dass die Anpassungsvorgänge auch schneller ablaufen müssen, als das je zuvor notwendig gewesen ist. Und dann wird man natürlich mehr und mehr Gesetze machen mit Verfallsfristen, weil man sie einfach auslaufen lassen muss, wenn sie diese Funktion nicht mehr haben oder die Nachbesserung von Gesetzen kriegt dann eine neue und dann positive Qualität, weil das objektiv notwendig ist, nicht nachzubessern, aber auf immer rascher eintretende neue Konstellationen zu reagieren.
Jürgs: Das würde aber bedeuten, dass Sie unentwegt tätig sein müssten, um Aufklärung in diese Richtung zu leisten.
Schröder: Ja, das bedeutet zunächst einmal, dass es die Sicherheiten, die man früher als selbstverständlich angesehen hat, über Jahre und Jahrzehnte, dass es die nicht mehr gibt. Das ist ja auch das Problem, das wir gegenwärtig haben, dass die Menschen in Deutschland spüren, die Gewissheiten kommen ins Wanken und man spürt, dass sich was verändern muss. Man will sich auf der anderen Seite auf den Prozess der Veränderung deshalb nicht einlassen, weil man genau nicht weiß, ob es besser oder schlechter wird, und das was gut ist, gern festhalten möchte. Insofern, Herr Leinemann, ist dieser Prozess der Veränderung in der Tat dauerhafter und damit der Prozess der Aufklärung.
Leinemann: Also mir scheint im Augenblick ja eine Hauptschwierigkeit auch im Umgang zwischen Medien und Politik darin zu bestehen, dass die Wahrnehmungen der Wirklichkeit ganz weit auseinandergehen, dass die Medien in allen Medien eigentlich ist es immer fünf vor zwölf. Bei ihnen ist es zwar schlimm, aber das kriegen die schon hin. Und bei den Leuten ist die Tatsache, dass sich überhaupt was bewegt, schon Besorgnis erregend. Und zwischen diesen drei Ebenen – alle reagieren auf ihrer Ebene – kommt es immer mehr zur Diskrepanz.
Schröder: Das würde ich als zutreffende Beschreibung ansehen. Aber die Frage ist ja, man kann ja nicht bei der Beschreibung stehen bleiben. Es ist richtig, was Sie kritisieren, dass in der Berichterstattung all zu sehr dramatisiert wird. Das ist natürlich auch eine, wie soll ich sagen, Zuspitzung, ist Teil des Berufes denke ich, während bei uns Zuspitzung gelegentlich Teil des Berufes ist, aber natürlich nicht immer, das ist auch ein Stück Vertrauen und Hoffnung in die Lösbarkeit von Problemen deutlich werden lassen. Und sie sind ja auch lösbar, und das Dritte ist, ich glaube, es gibt die Menschen, die Informationen bekommen und denen Sie bei der Verarbeitung helfen, wissen schon genauer zu unterscheiden, sonst würden ja alle Kampagnen „erfolgreich“ sein. Sie sind es ja nicht, insofern gibt es schon ein Differenzierungsgebot. Aber das Grundproblem ist in der Tat, dass wir zumal in Deutschland die Neigung haben, eine Veränderung nicht nachdrücklich und klar einzufordern, sondern sie zu verbinden mit einer Weltuntergangsstimmung und da finde ich im Moment die Kritik an dieser Kritik berechtigt. Das war sehr hilfreich, dass mal gesagt worden ist, verdammt noch mal, in welchem Land leben wir eigentlich. Wir beklagen Wachstumsraten zu Recht, wir beklagen hohe Arbeitslosigkeit noch mehr zu Recht. Aber verglichen mit dem, was dem zugrunde liegt, z. B. dass wir seit zwölf Jahren, ohne zu murren vier Prozent unseren Bruttoinlandproduktes von West nach Ost transferieren, dabei parallel ein Viertel des europäischen Haushaltes zu finanzieren, ohne dass die deutsche Wirtschaft auf den Märkten der Welt etwa Terrain verloren hätte, im Gegenteil, alle haben ja damit gerechnet, dass das der Fall sein würde. Das Gegenteil ist eingetreten, das zeigt eine ungeheure Kraft, und gelegentlich wäre es natürlich hilfreich, wenn in der Kritik auf diese Kraft hingewiesen würde. Dann kann man ja immer noch sagen, das habt ihr nicht schnell genug und nicht entschieden genug gemacht. Also dieses Wechselspiel zwischen der Vermittlung, Lösbarkeit der Probleme und der Beschreibung der Probleme, das klappt noch nicht so bei uns.
Jürgs: Hätten Sie manchmal Lust, die Maßstäbe, die Journalisten, also wir, anlegen, an Politiker umgekehrt anzulegen?
Schröder: Ja, das werde ich machen, wenn ich, ja wann, kann ich Ihnen ja nicht sagen (Gelächter), das werde ich machen, wenn ich aufgehört habe, aktiv politisch zu arbeiten und dann so mit großer Freude.
Jürgs: Eine ganz persönliche Frage zum Schluss. Sie wirkten auf mich in manchen Monaten der letzten Zeit ausgebrannt. Nun habe ich nicht erst seit 14. März, seit der Agenda 2010, das Gefühl von Lust auf Kämpfen. Kann es also sein, dass Sie entweder sagen, ich ziehe die Karre nun aus dem Dreck und Ihr macht mit oder wenn Ihr nicht mit macht, mach ich mir einen schönen Sommer und bin weg.
Schröder: Das ist eine schöne Fangfrage.
Jürgs: So war das gedacht.
Schröder: Also erstens, was heißt ausgebrannt? Das Problem des letzten Wahlkampfes war, dass er in einer Weise personalisiert worden ist, und zwar mit allen Konsequenzen, wie wahrscheinlich nie einer zuvor.
Leinemann: Und zwar auch von Ihnen.
Schröder: Ja klar, was sollte ich aber auch machen? (Gelächter) Ich will das begründen. Wir hatten, und entgegen dem, was ich gelegentlich gelesen habe, wir hatten diese Wahl auf der Ebene der Parteienkonkurrenz faktisch verloren. So. Und wir haben sie dann auf der Ebene der Personenkonkurrenz gewonnen. Das war allerdings seit April, Mai im letzten Jahr ziemlich klar, dass man das auf der Ebene der Parteienkonkurrenz nur noch schwer würde drehen können. Aber auf der Ebene der Personenkonkurrenz schon. Und so ist es uns sehr häufig ergangen. Was bedeutet das? Das bedeutet natürlich, dass Sie nicht nur sich quälen müssen wie selten zuvor, dass müssen Sie in jedem Wahlkampf, dass Sie nicht nur im Fokus eine erhöhte Aufmerksamkeit als Person haben. Aber wer genau hinkuckt, der wird mitbekommen haben, dass die ganze Zeit über auch die Dinge begangen wurden, gegen die ich mich dann zu wehren hatte. Aus den Gründen, die ich Ihnen eingangs genannt habe. Das war eine neue Qualität, die sehr bewusst gesetzt worden ist, um auf der Ebene der Personenkonkurrenz eben nicht verlieren zu müssen. Das war schon sehr politisch gemacht und sehr infam. Dass kann man gar nicht bestreiten. Und dann kam etwas hinzu, was so früher auch nicht da war, es wurde immer auf meinen Zylinder gekuckt, den ich gar nicht habe.
Leinemann: Aber das ist kein Mittel.
Schröder: Das war auch nie so personalisiert. Ich habe immer verzweifelt nach Zylinder und Kaninchen gesucht.
Leinemann: Sie haben zu oft Hokuspokus gesagt (Gelächter).
Schröder: Wir reden ja über die Frage, wenn Sie so einen Wahlkampf hinter sich haben, dann möchte ich den mal sehen, der nicht – ausgebrannt ist das falsche Wort – aber der nicht auch erschöpft ist. Ist doch klar, wir sind doch auch keine Leute, die solchen ganz normalen Abnutzungserscheinungen nicht erlägen. Und dann war eigentlich der Rat, der mir da immer öffentlich gegeben wurde, machen Sie doch erst einmal zwei Wochen Urlaub statt Koalitionsgespräche, eigentlich ein richtiger Rat, im nachhinein ein ganz richtiger. Denn ich behaupte, wenn ich zwei Wochen weggewesen wäre, wäre das auch nicht schlechter geworden als die Koalitionsgespräche abgelaufen sind. Aber das wusste ich natürlich nicht, also konnte ich das auch nicht machen, gleichzeitig gab es, das können Sie nicht übersehen, diese sehr spannungsreiche internationale Situation, wo das Festhalten an einer bestimmten Position auch Kraft kostet, auch sehr sehr stark persönlich. Das hat sicher dazu beigetragen, dass bei dem einen oder anderen so ein Eindruck entstehen konnte, die Sache war nicht richtig, was mich persönlich angeht, aber richtig bleibt natürlich, dass der alte schöne Satz „Viel Feind viel Ehr“ schon eine Herausforderung im Grunde formuliert. Eine Herausforderung, die dazu führt, dass man sagt, das wollen wir doch mal sehen.
Jürgs: Also doch noch einmal zugespitzt, Karren aus dem Dreck ziehen gemeinsam oder macht Euren Dreck alleine, ich bleib dabei bei der Frage.
Schröder: Und ich bleib dabei, dass alles richtig war, was ich bisher geantwortet habe.
Ende der Podiumsdiskussion
Ein Reporter vom NDR (X) fragt den Bundeskanzler im Anschluss der Podimsdiskussion:
X: Herr Bundeskanzler, ein Heimspiel beim Norddeutschen Rundfunk, wie fanden Sie denn die Veranstaltung?
Schröder: Ich fand sie munter, und was die beiden Moderatoren angeht, auch auf den Punkt hin gefragt, ich hoffe, Sie waren mit den Antworten einigermaßen zufrieden.
X: Wie kann es passieren, dass Journalisten wie in diesen schwierigen Zeiten sich beschränken auf das Thema Kanzler und Medien und nicht das diskutieren, was die Bevölkerung interessiert?
Schröder: Also ich denke, dass war eine lange vorbereitete Debatte über ein bestimmtes Thema, das muss möglich sein. Die gleichen Journalisten fragen ja jeden Tag zu aktuellen Themen. Und ich glaube, wir kommen auch, so weit es geht, dem Informationsbedürfnis nach, so dass sich jeder, wie das ja sein soll, über Journalismus, aber auch über Politik ein eigenes Bild machen kann.
### Inhaltsverzeichnis. Weiterlesen
Jahrestreffen des Netzwerk Recherche (nr) am 24. Mai im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg – Diskussion mit Bundeskanzler Gerhard Schröder
„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“ – Aber: Muss das so sein? Das Jahrestreffen 2003 des Netzwerk Recherche wird diese Thematik am 24. Mai in Hamburg in den Mittelpunkt rücken. Im NDR Veranstaltungszentrum werden etwa 350 Vertreter aus den Medien, der Politik und anderen gesellschaftlichen Gruppen eine Vielzahl von Themen mit prominenten Referenten diskutieren. Ein Höhepunkt der Veranstaltung ist eine zweistündige Diskussion mit Bundeskanzler Gerhard Schröder unter dem Titel: „Gerüchte und Gerichte“. Weiterlesen
Lobbyisten scheuen das Licht der Öffentlichkeit, gewinnen in der Berliner Republik aber immer mehr an politischem Einfluss. Dennoch wird die „stille Macht“ Lobbyismus von der Wissenschaft, den Medien und der Öffentlichkeit selten in seinem gesamten Machtspektrum gewürdigt. In diesem Buch wird der Lobbyismus umfassend analysiert und der ständig wachsende Einflussbereich von Wirtschaft auf politische Entscheidungen neu vermessen. Die politische und wissenschaftliche Analyse zur aktuellen Entwicklung der politischen Lobbyarbeit wird durch neue Studien und zahlreiche Fallbeispiele etwa der Pharmalobby, Straßenbaulobby und Agrarlobby ergänzt. Wichtige Lobbyisten äußern sich zu ihrer Arbeit in Berlin. Auch der mächtige, aber unkontrollierte Lobbyismus in Brüssel wird behandelt. Lobbyismus ist ein großes Tabuthema im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland. Erstmals werden unbekannte Einflusszonen aufgedeckt, die wichtigsten Akteure und ihre Machttechniken beschrieben. Die Macht der „Fünften Gewalt“ wird mit diesem Buch transparenter – ein Hintergrunddossier und gleichzeitig ein wichtiges Kapitel verschwiegener Sozialkunde. Weiterlesen
Initiative Nachrichtenaufklärung und Netzwerk Recherche stellen die Liste der am meisten vernachlässigten Nachrichten und Themen des vergangenen Jahres vor
Im Jahr 2002 gab es eine Fülle wichtiger Themen, über die in den Medien unzureichend berichtet wurde. Die Initiative Nachrichtenaufklärung und das Netzwerk Recherche haben am 15. Februar 2003 die Top Ten der vernachlässigten Themen 2002 vorgelegt. Weiterlesen
von Hans Leyendecker, zweiter Vorsitzender Netzwerk Recherche
Diese Rede hielt Hans Leyendecker zur Eröffnung der Jahrestagung des netzwerks recherche am 26.04.2002 im NDR-Konferenzzentrum in Hamburg:
Meine Damen und Herren,
Edgar Allan Poe hat einmal gesagt, man könne einen wirklich schlechten Redner daran erkennen, dass er jede Gelegenheit zu einem Exkurs ausnutzt. Ich beginne also mit einem Exkurs.
Journalismus ist, ein paar Langeweiler ausgenommen, ein Biotop für Rechthaber. Am häufigsten haben die Leitartikler recht. Besonders in Kriegzeiten.
Dann tragen sie ihre alten Schlachten mit besonderer Verve aus und tun, als ginge es um wirklich alles oder nichts. Schon aus Friedenszeiten all zu gut bekannte Argumente werden recycelt, frisch angestrichen und mit großer Geste als neu ausgegeben.
Selbst die Drohung eines Großpublizisten vom Format eines Karl Kraus – “Mein Herr, wenn Sie nicht schweigen, werde ich Sie zitieren”, könnte diese Streithähne nicht stoppen.
Polemiken der kommentierenden Klasse sind besonders erquickend, weil sie mit besonderer Bosheit ausgetragen werden. In einem “Leitfaden für Polemiken” hat ein anderer Wiener Großpublizist mal beschrieben, um was es bei den Kampfspielen dieser Branche geht. “Um den Kampf” gehe es, “nicht um den Sieg”, welcher ohnehin von beiden Parteien in Anspruch genommen werde. Die Gemeinde des A sage bei solchen Gelegenheiten: “Du hast den B in der Luft zerrissen”. Die Gemeinde des B sage: “Soll uns wundern, wenn sich der A überhaupt noch unter die Leute traut.” Wenn Sie wollen, können Sie bei dem gegebenen Anlass A durch den Namen Roger Willemsen und B durch den Namen Henryk M. Broder ersetzen.
Beide haben die Gabe des inszenierten Pathos und tun so, als würde der rechtschaffene Zorn sie übermannen, wenn sie losschlagen. Willemsen nennt Broder einen “Kriegsapologeten”, Broder schimpft Willemsen einen Friedensfreund, der wahrscheinlich aus der Rippe eines Gartenzwerges erschaffen wurde.
Zum Team A gehörten noch: Der Verschwörungsjunkie Andreas von Bülow, der taz- Humorist Wiglaf Droste, Gregor Gysi, Günter Gaus, sowie Peter Sloterdijk, der, die Katastrophenlandschaft des 20. Jahrhunderts überblickend, den 11. September unter der Bezeichnung “schwer wahrnehmbare Kleinzwischenfälle” abtat.
Die Gruppe A stellte früh Überlegungen an, ob es sich bei den Anschlägen um eine kriegerische Aktion oder ein Verbrechen handelte und wollte auf keinen Fall Vergeltung, sondern forderte, die Ursachen des Terrorismus wie Armut und Unterdrückung abzuschaffen und die Israelis zu bremsen. Interkulturelle Dialoge als Antwort auf den Massenmord. “Terror ist die Waffe der Ohnmächtigen” erklärte der Moraltheologe Eugen Drewermann, auch einer aus dem A-Team gleich am Abend des 11. September im Rundfunk.
Auch wurde ernsthaft darüber diskutiert, ob Hochhäuser die Arroganz der Macht verkörperten und ob folglich irgendwie die Anschläge von den Hochhausbauern und vielleicht sogar von den Hochhausbewohnern provoziert worden seien. Terrorismus sei die Waffe der Schwachen.
Broders B-Team bestritt heftig, dass die menschliche Armut oder die globale Ungerechtigkeit die wirklichen Gründe für den Terror sind. Terrorismus sei nicht der letzte Ausweg, sondern die erste Wahl. Dieses Team, das für einen Krieg zur Prävention, manchmal auch zur Vergeltung, plädierte war den A-Leuten zahlenmäßig zumindest überlegen. Vorneweg die Springer-Journalisten, die das Bekenntnis zur Solidarität mit den USA in ihre Verträge aufnahmen und auch die FAZ-Mannschaft war, bis aufs Feuilleton, gut vertreten. Tapfer verteidigten sie die freie Welt gegen ein paar “mittelalterliche Fundamentalisten” und machten den Marschbefehl zur Losung des Tages. Immer feste druff. Die Amerikatreue B.Z. mit dem Journalisten-Darsteller Georg Gafron an der Spitze, äußerte, Ausgabe 8. Dezember 2001, auf der Titelseite den schlimmen Verdacht, dass Bin Laden möglicherweise Lady Di ermordet hat. Das war keine Parodie, vielleicht aber eine Antwort auf Droste, der in der taz über den Amerika-Freund Peter Struck räsonierte, der sich aufführe, “als sei die Friseuse Diana Spencer in Paris ein zweites Mal getunnelt worden”.
Weder A noch B hielten es später für nötig, sich in irgendeinem Punkt zu korrigieren. Dabei hatten die von A gleich in langen Kommentaren davor gewarnt, die US-Regierung werde Weltpolizist spielen und allerorten wild zuschlagen. “Die Schläge gegen das World Trade Center, das Pentagon und das Weiße Haus verhelfen Bush zur Gelegenheit seines Lebens” schrieb Droste, der bei der taz die Abteilung “finaler Humor” betreut. B zeigte einen Osama bin Laden, der mindestens 3.40 Meter groß war und erklärte den Terroristenchef zum Feind des Arbeitsamtes in Neumünster, das er mit Anthrax vernichten wollte. Bei den Berichten über mögliche Verstecke des Oberterroristen und seiner Glaubenskämpfer wurde verschwiegen, dass viele dieser Angaben auf falschen Informationen von korrupten Warlords beruhten, die nur an Geld interessiert sind. “Es ist ein Spiel, die Afghanen spielen es blendend”, hat Ahmed Rashid diese Woche in einem Interview mit der “Weltwoche” gesagt.
Wenn alles Frieden ist, ist nichts Frieden. Wenn alles Terror ist, ist nichts Terror.
In der Bilanz der Toten standen 3000 pulverisierte Amerikaner gegen 2000 bis 8000 tote Afghanen, die nach dem Exitus zumindest noch identifizierbar waren. Ich erinnere mich, dass Sonia Mikich auf einer Veranstaltung in Berlin erklärte, Monitor wolle herausfinden, wie viele Zivilisten in Afghanistan ums Leben gekommen seien und die Nachricht werde Furore machen. Bei Monitor vielleicht. Dabei wissen doch wir übrigen Journalisten, dass manche Tote anders zählen als andere Tote. Oder interessiert es Sie wirklich ernsthaft, wenn in Ruanda hunderttausende Tutsi umgebracht werden?
A gegen B – ein altes Spiel. “Fünfundneunzig Prozent aller solcher Händel sind persönlicher Natur” hat Alfred Polgar mal geschrieben. “Die übrigen fünf Prozent sind hingegen sind es auch” hat er hinzugefügt. Wir wollen uns aber aus dem Geistesgemenge, das all zu oft nur ein Handgemenge ist, für einen Augenblick abwenden und uns um mehr um empirische Erkenntnisse bemühen.
Denn wenn die Kriegstrommeln dröhnen, sind auch die Spezialisten für das tägliche Allerlei gefragt, die dann prompt, mit der Schere bewaffnet, unerhört Neues zu Papier oder auf den Sender bringen. Wer fix ist, schreibt mit Hilfe des Archivs auch noch rasch bis zum Ende des Krieges ein Büchlein über die Bösen und die Guten. Hilfreich kann es in jedem Fall sein, den Begriff Netzwerke im Titel vorkommen zu lassen. In der Regel müssen die alten Erkenntnisse, die man früher irgendwie (mit der Schere vielleicht?) gewonnen hat, nicht noch einmal überprüft werden. Man macht sich doch keine Geschichte kaputt.
In jedem Fall empfiehlt es sich, auch aus belanglosen Papieren zu zitieren, vorausgesetzt, sie sind von irgendjemand für vertraulich erklärt worden. Mit dem Etikett vertraulich lässt sich übrigens zu allen Zeiten alles verkaufen.
Wenn eine Geschichte wenig Neues zu bieten hat, kann einer Nachrichtenagentur eine Meldung über das Exklusive Nichts angeboten werden. Die übliche Standardformel lautet dann, dass sich die Geschichte ausweitet. Immer weitet sich alles aus, bis es dann wieder platzt. Das Wunderbare ist das Wahre und sogar der Zufall wird zur Erscheinungsweise des Sinnvollen heißt es dazu in Grimms Märchen.
In Kriegszeiten sind im Fernsehen vorzugsweise vielgereiste Männer mit verwitterten Gesichtszügen zu bestaunen, die zu allem was wichtiges zu sagen haben. Ihre Berufsbezeichnung lautet zumeist Experte und in der Regel werden sie Peter Scholl- Latour gerufen. Manchmal, wenn die Scholl-Latours angeblich verhindert sind, werden sie Udo Steinbach genannt, aber das kann auch ein Tarnname sein. Unsereins wundert sich ja schon, wenn die Bäume jenseits der Grenze genauso aussehen wie diesseits der Grenze.
Ende des Exkurses.
Ich soll heute ein paar Worte über den Krieg in Afghanistan und die entsprechenden Kollateralschäden sagen, aber eigentlich war es so wie immer. Diejenigen, die nur Fragen und keine Antworten kennen, stritten mit denjenigen, die auf alles eine Antwort haben. Warum soll man sich die alten Schlachtordnungen und Gewohnheiten durch einen Krieg kaputtmachen lassen.
Am Dienstag voriger Woche begann in Frankfurt der erste angebliche Al Kaida-Prozeß. Fünf mutmaßliche Terroristen aus Algerien sollen geplant haben, zur Jahreswende 2000/2001 eine Bombe in Straßburg hochgehen zu lassen. Den Männern wird Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Laut Anklageschrift gehörten sie einer „abgeschotteten, konspirativ arbeitenden Organisationseinheit“ an. Es soll sich um so genannte Schläfer gehandelt haben.
Der Begriff stammt eigentlich aus der Geheimdienstwelt und er trifft auf die Terroristen dieses Schlages überhaupt nicht zu, doch darauf kommt es manchem Beobachter längst nicht mehr an.
An dieser Stelle zunächst ein paar Worte über die Schläfer-Theorien der vergangenen Monate. Minister, die bekannten, über die Zellen der mutmaßlichen Terroristen nichts zu wissen, wussten plötzlich ganz genau, dass mindestens einhundert Schläfer hierzulande auf den Weckruf warteten. Dabei beriefen sie sich auf Berichte von Medien, die auch nichts wussten.
Im Niemandsland zwischen Wahrheit und Dichtung gedieh eine neue Form des Borderline-Journalismus mit Falschmeldungen und Wichtigtuerei. Die gleich am Anfang, im September 2001 kolportierte Geschichte über einen anonymen Geheimdienst, der einen anonymen libanesischen Autohändler in Frankfurt verdächtigte, Spinne im deutschen Netz des bin Laden zu sein, war eine Geschichte aus Absurdistan, auf die eigentlich niemand hätte hereinfallen dürfen. Gleichwohl wurde der Beitrag zur besten Fernsehzeit in den Tagesthemen gesendet.
Oder ist Ihnen noch die Frankfurter Kiosk-Besitzerin (B.K.) erinnerlich, die angeblich einen der Todespiloten wiedererkannt haben will, als dieser Mudschaheddin-Freunde in der Mainstadt besuchte? Ganz sicher hat sie Moammed al Schahi erkannt, ganz genau. Ein Fernsehmann hatte ihr ja Fotos vorgelegt. Auch das wurde in der ARD gesendet.
Interessanterweise wurde zu allen Zeiten in den Medien vor den Medien gewarnt. Das “die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist”, dieser Klassiker des Schriftstellers Ruydard Kipling wurde so häufig zitiert, als handele es sich um einen unerhört mutigen Spruch. Gern bemüht wurde von diversen Berichterstattern der Satz des früheren britischen Premiers Winston Churchill, dass die Wahrheit im Krieg “immer von einer Leibwache der Lüge umgeben sein sollte”. Lügen für den Sieg?
In Afghanistan war das Fernsehen zunächst eine Weile himmelweit weg von der Schlacht. Und das war eigentlich gar nicht so schlecht. Fast alle deutschen Reporter, die im Lager der Nordallianz oder sonst wo waren, konnten dem Publikum erklären, dass sie den Wahrheitsgehalt irgendwelcher Nachrichten nicht überprüfen könnten und sie versuchten später, auch die hässlichen Seiten des Krieges zu zeigen. Offenkundig hatten die Akteure aus den Erfahrungen des Golfkrieges und des Waffengangs im Kosovo gelernt.
Der Golfkrieg, nur noch einmal zur Erinnerung, ist ein Videokrieg gewesen. Lasergesteuerte Bomben schienen die Ziele immer punktgenau zu treffen. Verstümmelte Menschen passten nicht in die Bilderwelt. Das Militär zensierte und fast 1800 Journalisten rangelten um knapp zweihundert so genannte Pool-Plätze.
Wer nicht spurte, konnte seine Akkreditierung verlieren. Wer die falschen Fragen stellte, war draußen. Erst nach dem Krieg wurde bekannt, dass die Amerikaner knapp 90 000 Tonnen Bomben abgeworfen hatten, von denen mehr als 60 000 Tonnen andere Ziele trafen als beabsichtigt.
Für amerikanische Medien allerdings, ging der Golfkrieg in Afghanistan weiter. Die Macher von CNN nannten es “pervers, sich zu sehr auf die Opfer und Härtefälle in Afghanistan zu konzentrieren”. Auf den Effekt der Bilder komme es an. Ans Ende der Nachrichten gehöre ein “proamerikanisches Siegel”.
Ich hatte immer einen Kinderglauben in die Unabhängigkeit und die Tüchtigkeit der amerikanischen Kollegen. Der Glauben ist erschüttert worden.
Heute weiß ich, dass selbst journalistische Heroen wie Bob Woodward oder Seymoun Hersh nur mit Wasser kochen. Woodward hing am Rockzipfel der Geheimdienste und konnte den Nachrichtendienstlern hier und da über die Schulter schauen. Hersh kam zu dem überraschenden Befund, dass die Attentäter die vier Anschläge entweder perfekt vorbereitet oder nur großes Glück gehabt hätten. Also, da war nicht viel – wie man auch bei Besuchen durch amerikanische Kollegen erfahren konnte.
Vorher habe ich gedacht, dass der amerikanische Journalismus, wenn es darauf ankommt, in Teilen kritisch ist. Heute weiss ich, dass amerikanische Journalisten in solchen lagen schon mal die Nationalflagge am Revers tragen. Wer es wagte, gegen den Strom zu schwimmen, musste mit Konsequenzen rechnen. Journalisten, die zu kritisch waren, wurden gefeuert. Die Fernsehsender predigten Patriotismus. Ein Ex- Senator fragte allen Ernstes die Journalisten, ob sie zuerst Amerikaner oder zuerst Journalisten seien.
Nun kommen wir wieder zurück nach Deutschland. Wo die Öffentlichkeit aufhöre, hat Hannah Arendt mal geschrieben, werde Macht gefährlich. Wie soll aber eine Öffentlichkeit funktionieren, wenn es längst eine zweite Öffentlichkeit gibt, wenn vor allem das Konspirative den Ton angibt?
Die meisten Berichte über das Netzwerk des Terrors stammten von amerikanischen oder sonstigen Geheimdiensten. Was aber die Kanalarbeiter im Reich des Bösen an Erkenntnissen liefern, das kann sehr schmutzig sein. Die Spielregeln des Metiers sind kompliziert.
Es gibt Amtswahrheiten, private Ansichten und auch Schwindeleien für die Kundschaft. Geheimdienstberichte müssen nicht falsch sein, aber sie sind auf keinen Fall das Orakel von Delphi. Desinformation ist Teil des Geschäfts.
Was ist wahr, was ist unwahr? Was kann man glauben, was nicht? Besonders im Krieg sind der Manipulation Tür und Tor geöffnet und journalistische Distanz sowie Skepsis sind noch wichtiger als ohnehin schon.
Dennoch wurden Leser und Zuschauer mit angeblichen Enthüllungen bombardiert. Es gab ein Rennen um die Platzierung exklusiver Nichtigkeiten mit Hilfe der Nachrichtenagenturen.
Schreckensszenarien sollten Aufmerksamkeit erzeugen: Angst vor der Angst verkauft sich gut.
Beobachtern der Szene war das vertraut. Immer häufiger beziehen sich Medien auf Medien, die auch nichts wissen. Es wird etwas als Tatsache präsentiert, was allenfalls eine Vermutung sein könnte. Längst gibt es den Mainstream, den Kommunikationswissenschaftler gern Selbstreferenz nennen. Medien beziehen sich immer stärker auf Medien und daraus wird dann wieder eine Nachricht.
Wir leben heute in einer aufgeregten Zeit, in einer permanenten Gegenwart, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Ständig wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben, es sind ganze Herden von Schweinen unterwegs und es gibt immer mehr.
Der 11. September und der Krieg in Afghanistan war nicht die ganz große Zeit der Enthüller. Kein Blatt in Europa und Übersee konnte Fakten präsentieren, die einen neuen Blick auf die Ereignisse ermöglichet hätten. Die wichtigsten Fragen sind noch unbeantwortet: Wer war der Mastermind, der die Anschlagsvorbereitungen in Europa koordinierte oder gab es gar keinen solchen Mastermind? Wer hatte ursprünglich die Idee zum Massenmord? In einigen Blättern kursierten umgeschriebene Zwischenberichte der westlichen Geheimdienste, aber solche Erkenntnisse sind nur schwer zu überprüfen.
Wie war es also? Ein großes Ja mit einem kleinen Nein oder umgekehrt? Alles in allem, so ist mein Eindruck, haben die Medien nicht versagt und auch nicht triumphiert. Es gab exzellente Reportagen wie die zwischen Buchdeckel gebrachte Spiegel-Serie über den 11. September und die Folgen, es gab Passables, es gab Durchschnittliches und es gab den üblichen Krawall.
A gegen B – Sie wissen schon.
Vielen Dank für Ihre Geduld. Ich freue mich auf die nächste Runde.
Eröffnungsrede zum Jahrestreffen 2002 des Netzwerk Recherche von Hans Leyendecker als PDF-Datei: Eröffnungsvortrag Leyendecker_2002 [PDF; 5S.,45KB]
Drei Journalisten-Organisationen – das Netzwerk Recherche, der Deutsche Journalisten- Verband (DJV) und die Deutsche Journalisten Union (DJU) in ver.di – fordern in einer gemeinsamen Erklärung die parlamentarische Durchsetzung des immer wieder verschleppten Informationsfreiheitsgesetz. Die Vorsitzenden der drei Organisationen fordern Innenminister Schily auf seine Blockade des Gesetzes aufzugeben. Weiterlesen
Netzwerk Recherche und Initiative Nachrichtenaufklärung kritisieren die Umkehr der Wichtigkeiten bei der Medienberichterstattung
Im vergangenen Jahr gab es wichtige Themen, die in der Berichterstattung der Medien keinen oder nur unzureichenden Niederschlag fanden. Aus diesem Grund haben die 1997 gegründete Initiative Nachrichtenaufklärung und das im Vorjahr gegründete Netzwerk Recherche gemeinsam die “Top Ten” der vernachlässigten Themen 2001 ermittelt. Weiterlesen