Ein Rückblick von Jonathan Gruber, freier Journalist
Ein Seismograf, der anzeigt, was deutschsprachige Journalistinnen und Journalisten gerade beschäftigt – so bezeichnete Gastgeber und NDR-Intendant Lutz Marmor die nr-Jahreskonferenz.
2019 schlug dieser Seismograf vor allem bei den Themen Haltung, Relotius und Rezo besonders stark aus. Gleich zur Begrüßung sprach Jan Philipp Reemtsma über den Unterschied zwischen Literatur/Fantasie und Journalismus. Ein Unterschied, der beispielsweise im Fall der Reportagen von Claas Relotius nicht nur undeutlich wurde, sondern schließlich ganz verschwand. Wie können wir also den Versuchungen durch unsere Fantasie widerstehen, Herr Reemtsma? Indem man sich den verschiedenen Ansprüchen bewusstwerde, antwortete dieser. „Die Literatur kann machen was sie will. Die Reportage aber nicht.“ Es hinge alles von den Erwartungen des Publikums an einen Text ab. Von einem journalistischen Text erwarteten Menschen wahrhaftige Informationen. Die gleichen Ansprüche würde aber niemand an einem Roman stellen. Wer diese Erwartungen wie Relotius missbrauche, würde durch soziale Ächtung – falls der Missbrauch publik wird – bestraft.
Dass die Öffentlichkeit vom Vertrauensmissbrauch durch Relotius erfuhr, dafür ist Juan Moreno verantwortlich. Der freie Journalist stolperte über Ungereimtheiten in den Reportagen von Relotius und recherchierte trotz heftigem Gegenwind nach der Wahrheit. Netzwerk Recherche zeichnete ihn dafür mit dem Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen 2019 aus. (Die vollständige Laudatio kann hier nachgelesen werden.)
Vor zwei Jahren gewann eben diesen Preis auch Armin Wolf. Der österreichische Journalist vom ORF ist bekannt für seine Präsenz in der politischen Berichterstattung. Im Gespräch mit Juliane von Schwerin erzählte er von den Herausforderungen eines Interviews mit Politikerinnen und Politikern. Grundsätzlich wisse er, dass diese – so wie alle Menschen, die etwas verkaufen wollten – selektiv mit der Wahrheit umgingen. „Ich möchte aber merken, wenn ich angelogen werde, weil ich nicht will, dass das Publikum angelogen wird.“ Deshalb sei die Vorbereitung auf ein Interview auch so wichtig. „Ich bin so etwas, wie ein öffentlicher Lügendetektor.“
Wolf saß anschließend auch in einem Panel, das über Haltung im Journalismus diskutierte. Im Mittelpunkt stand der Satz: Einen guten Journalisten [und eine gute Journalistin] erkenne man daran, dass er [und sie] sich nicht gemein mache mit einer Sache – auch nicht mit einer guten Sache. Zugeschrieben würde dieser Satz oftmals Hanns Joachim Friedrichs, er käme aber ursprünglich von Charles Wheeler, sagte Wolf. Und erklärte, er hielte Haltung für überschätzt. Es gäbe unterschiedliche Formen von Journalismus. Während ein Kommentar Haltung brauche, käme es beispielsweise in einem Interview auf die Fragen an. Zudem sei das Problem des Journalismus nicht, dass es Haltungen gäbe, sondern dass diese sich zu stark ähnelten. Es würden zu viele Journalistinnen und Journalisten aus demselben Milieu rekrutiert und somit fehle ein breites Meinungsspektrum.
Bild-Chefredakteur Julian Reichelt sprach von der Wichtigkeit, durch eine Haltung nicht berechenbar zu werden. Dann bestehe die Gefahr, dass diejenigen, über die man schreibt, einen instrumentalisierten. rbb-Intendantin Patricia Schlesinger fragte: Was will das Publikum? „Die wollen doch, dass wir uns der Wahrheit annähern und nicht im Vorhinein mit unserer eigenen Haltung an ein Thema gehen.“ Jochen Bittner (Die Zeit) argumentierte, es gäbe weder Objektivität noch Neutralität, aber ein Bemühen darum. Er habe eine „Haltung zum Journalismus“. Ganz ähnliches sagte auch Anja Reschke (NDR): „Ich glaube nicht an den neutralen Journalisten, das halte ich für eine Chimäre.“ Jeder Mensch habe eine Haltung. Deshalb könne sie auch nichts mit dem Satz „Sagen, was ist“ anfangen. „Ist“ sei immer eine Frage der Perspektive. (Das Panel
„Sich (nicht) gemein machen“ – Haltung(en) im Journalismus ist als Mitschnitt abrufbar.)
Während in Momenten solcher Diskussionen der nr19-Seismograf wild nach oben ausschlug, zeichnen die Konferenz auch die vielen kleineren Ausschläge zwischen den Höhepunkten aus. Da sind die Begegnungen, Gespräche und der Austausch zwischen, vor und nach den Veranstaltungen. Da sind die Workshops und Panels abseits der großen Bühnen, in denen intensiv über Ideen, Methoden und Darstellungsweisen im Journalismus diskutiert und informiert wird. Da sind die Studierenden, Praktikantinnen und Berufsanfänger in der Schlange zum Buffet, an den Biertischen und im Publikum direkt neben den Chefredakteurinnen großer Medienhäuser und vielen erfahrenen Journalisten. Gerade Letzteres sei eine der Besonderheiten der Konferenz, sagte Marmor in seiner Begrüßung am Samstag: Junge und Alte seien hier verbunden durch einen Grundkonsens für journalistische Freiheit und Recherche.
In einer der kleineren Veranstaltungen erzählten Martin Kaul (taz) und Paul Ronzheimer (Bild) von einer besonderen Art der Berichterstattung: (Spontane) Livestreams per Smartphone aus Krisensituationen. Beispielsweise während der G20-Ausschreitungen in Hamburg (Kaul) oder von einer Gruppe Flüchtlinge auf ihrem Weg durch Europa (Ronzheimer). Dieses Angebot des unmittelbaren Einblickes habe jedoch ihren Preis, sagte Ronzheimer. Man verliere die schützende Hülle der Anonymität und werde dadurch angreifbar.
Ob und wie angreifbar Medienhäuser durch ihre potenzielle Abhängigkeit von Google oder Facebook sind, darüber diskutierten Alexander Fanta (netzpolitik.org) und Stefan Ottlitz (Spiegel-Gruppe). Fanta erklärte, Google und Facebook wollten mit ihren Investitionen in Millionenhöhe eine Verbindung beziehungsweise eine Partnerschaft mit den Medienkonzernen aufbauen. Dazu trügen nicht nur die Fördergelder bei, sondern auch die zahlreichen kostenlosen Angebote, wie Google Docs oder Google Analytics. Es werde ein Ökosystem aufgebaut, das schwierige Fragen bezüglich der Unabhängigkeit von Journalismus aufwerfe. Ottlitz nannte dies die „Soft Power“ der Internet-Giganten und bezeichnete sie als „Frenemies“.
Am Samstag sprachen dann unter anderem die Journalisten Klaus Ott (SZ) und Christian Deker (NDR) über ihre zahlreichen Besuche an verschiedenen Schulen, bei denen sie über die Arbeitsweisen von Journalistinnen und Journalisten informieren. Die Initialzündung dafür kam für Ott mit der Silvesternacht 2015/16 in Köln. Damals hätten selbst Stammleser die SZ-Redaktion gefragt, ob sie tatsächlich wahrheitsgemäß über die Vorgänge berichtet hätten. „Da haben wir uns gesagt: Wir müssen rausgehen und Journalismus erklären.“ Man sähe beim journalistischen Endprodukt eben nicht, welche Arbeit dahinterstecke. Ähnlich argumentierte auch Deker: Aus eigener Erfahrung beruhten Lügenpresse-Vorwürfe oftmals nicht auf Misstrauen, sondern auf Wissenslücken über Journalismus.
Starke Ausschläge verzeichnete der nr19-Seismograf auch am Samstagnachmittag. Zunächst in der Diskussion über die „neue Medienmacht“ YouTube. Im Mittelpunkt stand dabei das Video „Die Zerstörung der CDU“ des YouTubers Rezo. Im Gespräch mit Tilo Jung (Jung & Naiv), Stephan Lamby und Hanne Bohmhammel (Deutschland3000) sagte der Autor Stefan Schulz, dass sich Journalistinnen und Journalisten im Internet normalerweise immer zwischen Relevanz und Reichweite entscheiden müssten. Rezo hätte es jedoch mit seinem Video geschafft, beides zu verbinden. Dabei habe er eigentlich keine neuen Informationen ans Tageslicht gebracht. Stattdessen habe er für uns alle öffentlichen Quellen aus den letzten zwei bis drei Jahren durchgelesen und zusammengefügt. Anschließend habe er sich bei der Präsentation einer Sprache bedient, die für viele „klassische“ Journalisten ungewohnt sei.
Ungewohnt bei der Bayerischen Staatsregierung ist die Freigabe von Informationen. Die Koalition aus CSU und Freien Wählern blockiert ein Informationsfreiheitsrecht, wie es in den meisten anderen Bundesländern bereits existiert. Dafür wurde der Regierung vom Netzwerk Recherche der Negativpreis Verschlossene Auster 2019 verliehen (weiterführende Beiträge zur Auster 2019: Begründung nr, Laudatio von Arne Semsrott und Stellungnahme der Bayerischen Staatsregierung). Auf die Kritik folgte das Lob für drei Projekte aus dem Nonprofitjournalismus, die sich auf unterschiedliche Weise für die Freigabe von und den Zugang zu Informationen einsetzen. Die Netzwerk-Recherche-Jury zeichnete das Online-Magazin dis:orient, die geplante Datenbank Follow the Grant und der Podcast Plastiphere wurden jeweils mit einem Grow-Stipendium aus (ausführlicher Bericht über die Grow-Finalisten sowie zu den Gewinnern der Grow-Stipendien).